Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
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Einwurf

Es lebe die Vielfalt


Warum die Wissenschaft wieder weniger Fachidiotentum braucht

»Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unver -
mögend aus ihr herauszutreten und unvermögend tiefer in sie
hineinzukommen.« Kaum zu glauben, aber wahr: Mit einem
Goethe zugeschriebenen Gedicht erschien vor 150 Jahren, im
November 1869, die erste Ausgabe der britischen Wissenschafts-
zeitschrift »Nature«. Trotz dieser eigenwilligen Vermengung von
Poesie und Forschung wurde das Magazin nach und nach zu
einer der wichtigsten Publikationen im Wissenschaftsbetrieb
weltweit. Im Schnitt wird jeder »Nature«-Artikel heute 43-mal
pro Jahr in anderen Veröffentlichungen zitiert, da kann selbst
das amerikanische Konkurrenzblatt »Science« nicht mithalten.
Gewiss, in »Nature« ist bisweilen auch gefährlicher Quatsch
erschienen; im Dezember 1869 pries ein Autor beispielsweise die
Vorzüge dessen, was wir heute Eugenik nennen. Dennoch
erscheinen gerade jene frühen Ausgaben aktueller denn je, sie
waren nämlich einer breit aufgestellten Bildung verpflichtet: der


Fähigkeit, über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets zu bli-
cken – auch dafür stand der deutsche Dichterfürst Goethe, der
über eine solide naturwissenschaftliche Bildung verfügte.
Heute hingegen existiert eine Zersplitterung in immer enger
gefasste Fachdisziplinen. Viele Wissenschaftler kapieren mittler-
weile die eigenen Statistiken nicht mehr, weil diese von hoch-
komplexer Software zusammengerechnet werden – mit dem
Ergebnis, dass sich viele Forschungsergebnisse nicht mehr repro-
duzieren lassen. Vor diesem Trend warnt etwa der renommierte
Mikrobiologe Arturo Casadevall, selbst Autor von rund 800
Fachpublikationen. Vehement fordert der Forscher eine Ent-
schlackung von Studiengängen, eine Entspezialisierung zuguns-
ten eines breit aufgestellten Studium generale, kritisches Denken
statt Fachidiotentum. Zumal Studien nahelegen, dass Nobelpreis-
träger deutlich häufiger vielfältige Hobbys pflegen als ihre Kolle-
gen – mitunter sogar die Poesie. Hilmar Schmundt

Klima

»Die deutsche


Nordseeküste ist sicher«


Athanasios Vafeidis, 50, Pro-
fessor am Geographischen
Institut der Universität Kiel
und Experte für Küsten-
schutz im Exzellenzcluster
»Ozean der Zukunft«, über
eine neue Studie zur Überflutungsgefahr
durch den Klimawandel

SPIEGEL:Im Fachmagazin »Nature Com-
munications« warnen Forscher davor,
dass aufgrund der globalen Erwärmung
weit mehr Menschen als bislang gedacht
durch Überflutungen bedroht seien.
Vafeidis:Die Studie präsentiert für die
Fachwelt hilfreiche neue Methoden. Aber
ich wäre vorsichtig mit den Schlussfolge-
rungen, was die Anzahl der Menschen
angeht, die durch einen steigen-
den Meeresspiegel gefährdet sind.
SPIEGEL:Inwiefern hilft der neue
Ansatz?
Vafeidis:Eine der großen Un -
sicherheiten lag bislang immer in
den verfügbaren Geländemodel-
len. Diese basierten häufig auf
Vermessung der Erdoberfläche
durch Satelliten, konnten für ein-
zelne Orte aber recht ungenau
sein; denn die Radarsignale wer-
den mitunter nicht vom Erdbo-
den selbst reflektiert, sondern
von Dächern, Baumkronen oder
Büschen. So schien eine Küsten -
region vielleicht ein paar Meter

höher über dem Meeresspiegel zu liegen,
als dies wirklich der Fall ist.
SPIEGEL:Worin besteht nun der Trick?
Vafeidis:Die Autoren haben die Satelli-
tenmessungen genommen und sie mit
genaueren, lokalen Daten aus den USA
und Australien abgeglichen, um einen
Korrekturfaktor einzufügen. Das klappt
häufig erstaunlich gut, aber beileibe nicht
immer. In Florida etwa liegen die korri-
gierten Daten immer noch stark daneben.
Vielleicht hängt das mit der Vegetation
dort zusammen. Unklar ist, ob es auch in
anderen Weltregionen ähnlich starke
Abweichungen gibt.
SPIEGEL:Ihre methodischen Ergebnisse
haben die beiden Autoren bereits vor
anderthalb Jahren publiziert, damals aller-
dings ohne hochzurechnen, wie viele
Millionen Menschen durch Überflutungen
gefährdet sein könnten.
Vafeidis:Das stimmt, in der Fachwelt
wurde die neue Methode damals wahr -

genommen, in der Öffentlichkeit weniger.
Die nun vorgestellte Hochrechnung über
die vom Meeresspiegelanstieg bedrohte
Bevölkerung finde ich aber ohnehin weni-
ger überzeugend.
SPIEGEL:Was stört Sie daran?
Vafeidis:Die Studie berücksichtigt leider
in keiner Weise, mit welchen Methoden
die jeweiligen Küsten geschützt werden,
wo es Deiche oder andere Barrieren gibt.
Man muss da sehr genau unterscheiden
zwischen Risikogebieten und exponierten
Gebieten.
SPIEGEL:Wäre Ostfriesland gefährdet?
Vafeidis:Nein, die deutsche Nordseeküste
ist zwar exponiert, aber sicher, weil hier
der Küstenschutz und der Deichbau sehr
straff organisiert sind. Auch die Niederlan-
de sind exponiert, aber nicht gefährdet. Auf
diese Unterscheidung verzichtet die Studie,
und darauf weisen die Autoren ja auch
selbst hin. Aber das Kleingedruckte geht in
der öffentlichen Aufregung leicht unter.
SPIEGEL:Das heißt, die neuen
Höhenmodelle sind hilfreich, die
Hochrechnungen zur Zahl der
gefährdeten Menschen hingegen
weniger?
Vafeidis:Das Verhalten der
Menschen in exponierten Küsten-
gebieten ist sehr komplex.
Die Prognose in der Studie ist zu
statisch; da sind die Menschen
passive Opfer von Überflutun-
gen, ohne dass sie Deiche bauen,
ohne dass sie wegziehen. In
der Realität sehen wir viele
Anpassungsmethoden. Derlei
Szenarien werden nicht berück-
sichtigt.HIL

GREGOR LENGLER / LAIF
Deich im Landkreis Friesland
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