Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

D


utzende Frauen versammelten sich
Ende September auf den Stufen des
Konzerthauses am Berliner Gendar-
menmarkt. Lachend posierten sie unter
Regenschirmen, allesamt nackt bis auf
Unterhose und BH. Ein ungewöhnliches
Shooting für die Fotografin Melanie Gra-
bowski – auch weil die Frauen dick waren,
einige von ihnen sogar sehr dick, speziell
an den Beinen.
Mit ihrem Fotoprojekt will Grabowski
nicht nur das Selbstbewusstsein der Frau-
en stärken und für mehr Toleranz werben.
Ihr geht es darum, auf eine Krankheit auf-
merksam zu machen, die großes Leid ver-
ursachen kann: das sogenannte Lipödem.
Die Fettverteilungsstörung, bei der die
Beine übermäßig dick und druckempfind-
lich werden, betrifft fast ausschließlich
Frauen. »Bei uns in der Selbsthilfegruppe
fließen oft die Tränen«, erzählt Inge Er-
dinger, Gründungsmitglied der Gruppe
»Fett oder fett« aus der Nähe von Düssel-
dorf, die wegen ihres stark fortgeschritte-
nen Lipödems auf den Rollstuhl angewie-
sen ist. Viele Betroffene klagen über chro-
nische Schmerzen, manche können sich
kaum noch bewegen und kämpfen gegen
Diskriminierung und Demütigungen.
Zur Wahrheit gehört indes auch: Wäh-
rend das Lipödem bis vor wenigen Jahren
noch nahezu unbekannt war, heißt es in-
zwischen oft, jede zehnte Deutsche leide
darunter. In Blogs, auf Instagram und auf
YouTube berichten etliche zumeist recht
junge Betroffene aus ihrem Leben und von
ihrer Fettabsaugung – darunter die ehe-
malige Dschungelkönigin Jenny Frankhau-
ser und »Bachelor«-Teilnehmerin Saskia
Atzerodt. Selbst ernannte Spezialisten in-
szenieren sich derweil in YouTube-Videos
als Heilung bringende Gurus, auf Face-
book mischen sich Aufrufe zu Demonstra-
tionen und Menschenketten mit Empfeh-
lungen für Fettabsaugekliniken.
Nur: Kann es wirklich sein, dass in
Deutschland rund vier Millionen Frauen
unter krankhaft dicken Beinen leiden?
Oder handelt es sich bei dem Lipödem um
eine typische Modediagnose, die häufig
fälschlicherweise gestellt wird? Und vor
allem: Ist die Fettabsaugung, von der sich
viele Betroffene Heilung versprechen,
wirklich immer die beste Lösung?
Selbst vielen Fachärzten fällt es schwer,
Lipödem-Patientinnen von jenen Frauen
zu unterscheiden, die einfach »nur« unter


Übergewicht leiden und bei denen sich das
Fett vor allem in den Beinen ablagert. Ty-
pisch für das Lipödem sei die Kombination
aus voluminösen Beinen und einem schlan-
ken Oberkörper, berichtet Markus Stücker,
Geschäftsführender Direktor der Klinik
für Dermatologie, Venerologie und Aller-
gologie der Ruhr-Universität Bochum.
Vor allem aber haben die Betroffenen
nicht nur mit dicken Beinen zu kämpfen;
sie neigen auch zu blauen Flecken und sind
druckschmerzempfindlich, was möglicher-
weise auf Entzündungsprozesse im Unter-
hautfettgewebe zurückzuführen ist.
Einige Frauen mit Lipödem leiden tat-
sächlich unter fast unerträglich starken
Schmerzen, die sie weit mehr quälen als
der Umfang ihrer Beine. Das Problem ist
nur, dass Schmerz immer subjektiv ist. Ei-
nen Laborwert oder eine Röntgenuntersu-
chung, mit denen eine zweifelsfreie Diag-
nose möglich wäre, gibt es nicht.
»Wo genau die Grenze verläuft zwi-
schen normalem Übergewicht und Lip-
ödem, lässt sich nur schwer feststellen«,
sagt Stefanie Reich-Schupke, Lipödem-

Expertin und niedergelassene Hautärztin
aus Recklinghausen.
Doch viele Frauen mit übermäßig
dicken Beinen sehnen es offenbar gerade-
zu herbei, dass ein Arzt endlich die Dia -
gnose Lipödem stellt; denn dann wären
sie nicht mehr selber schuld an ihren
dicken Beinen. Sie wären stattdessen
krank, ihnen müsste geholfen werden.
»Das Lipödem ist eine sehr akzeptierte
Diagnose«, berichtet Phlebologe Stücker.
»Manche Patientinnen sind enttäuscht,
wenn wir kein Lipödem nachweisen kön-
nen.« Viele Frauen gingen daraufhin wahr-
scheinlich zu einem anderen Mediziner.
»Meine Erfahrung zeigt, dass das Lip-
ödem eine Diagnose ist, die Frauen von ir-
gendeinem Arzt schon gestellt bekommen,
wenn sie sie haben wollen«, bestätigt
auch Jan Sandmann, Lipochirurg aus
Düs seldorf. Und selbst der Mediziner
Olaf Deling, einer der Lipödem-Pioniere
Deutschlands, der sich persönlich sehr für
die wirklich Betroffenen einsetzt, geht da-
von aus, dass rund 80 Prozent der Frauen
mit Lipödem-Diagnose in Wahrheit gar
nicht an dieser Krankheit leiden.
Die mutmaßlich hohe Zahl an Fehldia -
gnosen hat dramatische Folgen. Denn die
Betroffenen kämpfen mit allen Mitteln
darum, dass die Fettabsaugung, die je nach
Chirurg und Anzahl der nötigen Operatio-
nen bis zu 30 000 Euro kosten kann, von
den Krankenkassen bezahlt wird.
Für die Kostenübernahme demonstrier-
ten Dutzende Frauen sogar schon vor dem

120

Wissenschaft

»Oft fließen Tränen«


MedizinAngeblich leidet jede zehnte deutsche Frau unter
krankhaft dicken Beinen. Doch stimmt das überhaupt?
Und hilft gegen ein Lipödem wirklich nur eine Fettabsaugung?

MELANIE GRABOWSKI PHOTOGRAPHIE
Lipödem-Patientinnen bei Fotoshooting: Viele Frauen sehnen die Diagnose herbei
Free download pdf