Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

122 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019


L


euchtende Kugeln schweben angeb-
lich durch die Gänge, Gesichter er-
scheinen in Spiegeln, an Wänden,
Menschen in altertümlicher Kleidung, so
heißt es, huschen umher – das 1886 erbau-
te Crescent Hotel in Eureka Springs gilt
als Amerikas »meistbespuktes« Haus; es
ist eine Touristenattraktion.
Das Hotel in den düsteren Ozark
Mountains verfügt sogar über eine Lei-
chenhalle. Sie ist ein Relikt jener Zeit,
als Krebskranke aus dem ganzen Land
hoffnungsvoll nach Arkansas reisten – um
hier den Machenschaften eines Quack -
salbers zum Opfer zu fallen. Mindestens
40 Menschen starben in den knapp zwei
Jahren, in denen das Hotel als Hospital
fungierte.
Ein archäologischer
Fund im Garten des Hau-
ses belegt nun das Teu -
felswerk des Scharlatans.
Nachdem Gartenarbeiter
auf seltsame Glasreste
gestoßen waren, rückten
Ausgräber des Arkansas
Archeological Survey an
und holten Hunderte Glä-
ser und Flaschen aus dem
Boden hinter dem Hotel –
teils noch gefüllt mit Alko-
hol und Gewebeproben.
Gestorben wurde viel im
Crescent Hotel, geheilt je-
doch nie. Denn die Arznei
gegen das tödliche Leiden,
die den Patienten verab-
reicht wurde, bestand aus
Maisbart, Rotklee, gemahlenen Melonen-
kernen, Pfefferminze und Gly zerin. Auch
Phenol war beigemischt, eine Substanz, mit
der Ärzte der SS einst in den Konzentra -
tionslagern Häftlinge ermordeten.
Angewandt hatte die wirkungslose Mix-
tur der angebliche Heiler, Radiomoderator,
Erfinder und Politiker Norman Baker, der
von 1938 bis zu seiner Verurteilung als Be-
trüger im Januar 1940 Tausenden todkran-
ken Patienten im Crescent Hotel sein Wun-
dermittel spritzen ließ.
»Wir konnten etwa 400 bis 500 Gläser
und Flaschen bergen, die meisten durchaus


noch intakt«, berichtet Archäologe Michael
Evans. Neben den Behältern mit Gewebe-
proben, die tatsächlich wie Krebsgeschwü-
re aussehen, fanden sich solche mit Pasten,
Pudern und Pillen.
Norman Baker war in jenen Jahren eine
Berühmtheit. Bereits als junger Mann reis-
te er als Jahrmarktskünstler durch das
Land und erfand mit Anfang dreißig das
Kalliafon, eine Art Dampforgel, die mit
Luft betrieben wird. Das Instrument wur-
de schnell beliebt auf Jahr-
märkten und in Zirkussen,
weil die durchdringenden
Töne sehr weit zu hören
waren und große Auf-
merksamkeit garantierten.
Baker verdiente viel Geld
mit dem Gerät, bevor er
seine erste Bestimmung
fand: als Radiosprecher.
Von seiner Heimatstadt
Muscatine in Iowa aus
betrieb er von November
1925 an eine Radiostation.
Ihr Rufzeichen: KTNT,
kurz für »Know the Naked
Truth«. Hier tobte Baker
sich aus, wetterte gegen
die Pflicht von Tuberku-
losetests bei Rindern, ge-
gen die Fluoridierung von Trinkwasser,
gegen Impfungen und Kochtöpfe aus
Aluminium, die an Krebserkrankungen
schuld seien.
In seinen Sendungen steigerte er sich in
wütende Tiraden gegen Juden, Katholiken
und die amerikanische Medizinervereini-
gung. Und er machte Werbung für sein ei-
genes Krebsheilmittel. Das verabreichte
er zahlungswilligen Kunden gern bei Groß-
veranstaltungen, zu denen Zehntausende
Schaulustige aus dem Mittleren Westen
anreisten und dabei zusahen, wie er – stets
adrett gekleidet in einen weißen Anzug

mit lila Hemd und Krawatte – den Kran-
ken sein Gebräu einflößte.
Neben seiner Radiostation gab Baker
auch eine Zeitschrift namens »TNT« (»The
Naked Truth«) heraus. Krebs, so die darin
verbreitete Botschaft, sei mit den richtigen
Mittelchen heilbar, nicht aber durch die
Schulmedizin. So schickte er fünf Patien-
ten zu einem anderen Quacksalber, der
ebenfalls behauptete, einen Zaubertrank
entwickelt zu haben. Obwohl nacheinan-
der alle Patienten starben, brachte Baker
in »TNT« Geschichten ihrer angeblich
wundersamen Heilung.
1931 wurde die Lizenz für seine Radio-
station nicht mehr verlängert, unter ande-
rem wegen der »Nutzung einer obszönen
und unanständigen Sprache«. Baker setzte
sich nach Mexiko ab und funkte weiter.
Mit dem zweitstärksten Sender Nordame-
rikas beschallte er die USA mit seiner
üblichen Mischung aus Hassreden und
Heilsversprechen, gewürzt mit Liveüber-
tragungen vom Sex mit seinen Geliebten.
Schließlich wurde er auf das Crescent
Hotel in den Ozark Mountains aufmerk-
sam, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als
ein heruntergekommener alter Kasten. Er
ließ es renovieren; bald leuchteten die
Gänge und Räume in seiner Lieblingsfarbe
Lila, und es dauerte nicht lange, bis die
Patienten eintrudelten – und starben.
Die Archäologen wollen nun Proben
aus den Gläsern im Labor näher analysie-
ren lassen. »Als Norman Baker verurteilt
wurde, musste er einige seiner Rezepte
preisgeben«, berichtet Evans; nun stelle
sich die Frage, inwieweit die Funde mit
jenen Rezepten übereinstimmten. »Oder
ob er auch dort noch gelogen hat.«
Baker starb mit 75 in Miami an Leber-
zirrhose. Ob er sich mit selbst gebrauten
Heilmitteln zu therapieren versuchte, ist
unbekannt. Angelika Franz

Das Horror-


hotel


GeschichteIn Arkansas
brachte ein Scharlatan in den
Dreißigerjahren Krebskranke
um. Nun wurden seine fatalen
Tinkturen gefunden.

MICHAEL EVANS, ARKANSAS ARCHEOLOGICAL SURVEY
Flaschenfund in Eureka Springs:Wirkungslose Mixtur

Baker-Publikation, 1929
Krebs durch Kochtöpfe

Wissenschaft
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