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ls im Wedding die Sonne unter-
gegangen ist, versammeln sich
zwölf Menschen hinter einer Tür
aus Aluminium, die zwischen ei-
ner Baustelle und zwei Müllcontainern
liegt, und huldigen einem Bonito. Das ist
ein Fisch aus der Familie der Makrelen
und Thunfische. Gefischt vor der franzö-
sischen Insel Noirmoutier, filetiert, mit fri-
schen Senfsamen bestreuselt.
Es ist so still in diesem Moment, dass
man hören kann, wie ein Koch Rote Bete
schneidet. Es ist der einzige Augenblick
an diesem Abend, in dem Dylan Watson-
Brawn, der Zeremonienmeister dieser
Huldigung, lächelt.
»Ja«, sagt er, und er wirkt, als spräche
er mit sich selbst. »Gut.«
Er guckt auf das unterarmlange Messer
in seiner Hand und stellt sich näher ans
Schneidebrett. Sein Gesicht erstarrt in
Konzentration.
Dieser Ort hinter der Aluminiumtür ist
das Restaurant »ernst«. Manche Köche
sagen, es wird das erste sein, das in Berlin
drei Michelin-Sterne bekommt, im Augen-
blick hat es einen. Manche Gäste sind an
diesem Abend aus Brooklyn angereist.
Ein Gast wird nach dem letzten Gang vor-
sichtig fragen, ob irgendwer mal ange-
dacht habe, auf der Website zu erwähnen,
dass 34 Gänge serviert würden (Watson-
Brawn: »Nein«).
Dylan Watson-Brawn ist 26 Jahre alt,
kommt aus Vancouver, hat keinen Schul-
abschluss und keine Kochschule besucht.
In der Gastroszene gibt es Menschen, die
ihn für überheblich halten. Die meisten
halten ihn für ein Genie. Wegen des Es-
sens, das zur Andacht einlädt. Und der Be-
sessenheit, mit der Watson-Brawn dieses
Restaurant betreibt.
An einem frühen Morgen im Oktober
fährt Watson-Brawn zusammen mit sei-
nem Kochpartner Spencer nach Branden-
burg zu einem Hof. Er will Gemüse holen.
Das macht er nicht im Großmarkt, wie die
meisten anderen Restaurantbetreiber, son-
dern beim Erzeuger. »Die meisten Köche
wissen nichts über Qualität«, sagt Watson-
Brawn auf dem Beifahrersitz. »Lange
dachten die Leute, es sei egal, ob du eine
gute Möhre isst oder ob du eine schlechte
Möhre isst. Es ist nicht egal.«
Watson-Brawn lebt seit sechs Jahren in
Berlin und hat viel Zeit damit verbracht,
gute Möhren zu finden. Er besitzt das
Auto erst ein paar Monate. Vorher ist er
mit Zug und Rad durch Brandenburg ge-
rollt. Einmal fand er einen Hof, der tolle
Kartoffeln zog, aber die Bauern lehnten
den Kapitalismus ab, also jagte Watson-
Brawn auf dem Feld stundenlang Kar -
toffelkäfer, um zu beweisen, dass er die
Kartoffeln wert war. Einmal holte er ein
paar Enten von einer Entenfarm und
balancierte sie auf seinem Rad zurück
nach Berlin, was eine Zeit lang gut ging,
bis er vom Rad fiel und dachte, er habe
sich das Handgelenk gebrochen. So er-
zählt er es zumindest.
An diesem Morgen parkt sein Wagen
vor dem Gärtnerinnenhof Blumberg in Ah-
rensfelde. Hier arbeiten nur Frauen, sogar
der irre Hund Luzi ist weiblich. Aus einem
Gewächshaus kommt Maria mit sonnen-
gebräunter Haut und Händen, die so erdig
und rau aussehen, als habe sie damit ein
Feld umgegraben. Watson-Brawn probiert
in der kommenden Stunde den halben
Acker, riecht an Quitten und stellt drei Dut-
zend Fragen: »Was ist das für ein Apfel?«,
»Haben die Blumen da Samen?«, »Was
macht ihr mit diesen Blättern?«
Es gibt diese Geschichte über ihn, dass
er einmal durch Berlin spazierte und an
einem Busch eine Beere sah, die ihm inte-
ressant erschien. Watson-Brawn aß sie und
übergab sich auf den Bürgersteig.
Auf der Fahrt zurück vom Gärtnerin-
nenhof erklärt Watson-Brawn, die Gäste
kämen ins »ernst«, weil sie eine Erfahrung
machen wollten. Die Erzeuger der Produk-
te und ihre Geschichten sind ein großer
Teil davon. Der Fisch kommt aus Frank-
reich von einem jungen Mann namens Da-
vid, der mit seinem kleinen Boot auf den
Atlantik schippert. Das Sonnenblumenöl
stammt aus Franken von einem Hof, der
um ein kleines Schloss gebaut ist. Die Ja-
kobsmuscheln liefert Roddie aus Norwe-
gen, der im Neoprenanzug die Muscheln
mit der Hand aufliest – und selbst nur we-
nige andere Restaurants beliefert.
Das »ernst« hat kein festes Menü, es ent-
steht jeden Tag neu, je nachdem, was gera-
de reif ist. Manche Spitzenrestaurants ha-
ben ihre berühmten Gerichte, ihre »signa-
ture dishes«, das Beef Wellington von Gor-
don Ramsay, Bucatini all’Amatriciana von
Mario Batali. Watson-Brawn hat kein »sig-
nature dish«, weil er keines will. Er sagt,
wenn er das Gefühl habe, einen Gang ge-
meistert zu haben, dann nehme er ihn von
der Karte. »Perfektion ist langweilig«, sagt
er. Das einzige Gericht, das es seit Länge-
rem im Menü des »ernst« gibt, ist ein
Klecks Ziegenkäse mit Sonnenblumenöl.
Das morgendliche Gespräch über das
Menü findet im »ernst« in der Küche statt,
leise, präzise und auf Englisch. Im Team
sind drei Deutsche, ein Australier, ein
Amerikaner und zwei Kanadier. Einige
sehen aus wie Bösewichte aus einem
Tarantino-Film. Richard ist so schön wie
ein Parfummodel. Paulina sieht aus wie
eine bayerische Göttin des Herdfeuers.
Tobi wie ein glücklicher Hobbit.
Nur zwei aus diesem Team sind ausge-
bildete Köche. Paulina war Flugbegleiterin
bei der Lufthansa, bevor sie ins »ernst«
kam. Tobi hat International Business stu-
diert. Der Sommelier sagt, der Betrieb, in
dem er angefangen habe, konnte es sich
nicht leisten, ihn auf eine Sommelierschule
zu schicken, er habe sich sein Wissen er-
saufen müssen.
Die meisten Gerichte entstehen durch
eine Idee Watson-Brawns. Er spricht so
leise, dass sich die anderen Köche zu ihm
lehnen müssen. In jedem Nicken lässt sich
die Ehrfurcht erkennen, die diese Men-
schen vor ihm haben.
Dylan war ein schwieriges Kind, so er-
zählt er es. Der Vater arbeitete als Zahn-
arzt, die Mutter als Buchhalterin. Dylan
interessierte sich nicht für die Schulbücher,
nur für die Bücher, die seine Großmutter
schickte. Sie arbeitete in einem Kochbuch-
laden. Er las als Elfjähriger Bücher der Kö-
che Ferran Adrià und Alain Ducasse. Er
schlief schlecht in dieser Zeit, geisterte ziel-
los umher, endete immer in der Küche.
Wenn seine Schwester morgens aufwachte,
wartete Dylan mit frisch gebackenem Brot
und sagte: »Probier mal.«
Er machte ein Praktikum in einer
Restaurantküche, und weil es ihm gefiel,
arbeite er dort neben der Schule weiter.
À la minute gegartes Fleisch. Feine Soßen.
Kochtopfgeklapper, Dampf, Hitze.
Die meisten Genies finden so früh zu
ihrer Kunstform, dass es für sie später so
Fotos: Sven Döring / DER SPIEGEL 133
Kultur
Die Brioche Gottes
KulinarikIm Berliner Restaurant »ernst« erfindet ein junger Kanadier die Sterneküche neu.
Mit Besessenheit und guten Geschichten.
Lang Lang saß mit drei
Jahren am Klavier.
Watson-Brawn fing mit elf
an, Kochbücher zu lesen.