wirkt, als sei die Kunst immer da gewesen.
Der Pianist Lang Lang soll mit drei Jahren
am Klavier gesessen haben. Lionel Messi
spielte mit fünf im Verein. Dylan spürte
mit 14 zum ersten Mal die Hitze der Spit-
zenküche. Er wusste, das ist es. Die Per-
fektion der Abläufe. Dieses Gefühl, an et-
was zu arbeiten, und am selben Tag siehst
du das Ergebnis auf dem Teller.
Etwas später reisten Dylan und sein Va-
ter nach Japan, sie gingen ins »Nihonryori
RyuGin«, in ein Restaurant mit drei Mi-
chelin-Sternen. Manche Köche dort wid-
men ihre gesamte Laufbahn einem Pro-
dukt. Manche Lehrlinge warten Jahre, bis
sie Reis kochen dürfen. Als Dylan und sein
Vater dort aßen, soll dort noch nie ein
Nichtjapaner gearbeitet haben. In diesem
Restaurant wurde Dylan mit 17 Jahren
Lehrling. Er arbeitete 18 Stunden am Tag.
Zwei Monate lang durfte er nur Töpfe
spülen, dann wurde er befördert und
wusch zwei Monate lang Teller. Irgend-
wann wurde der Meister auf seine Diszip-
lin aufmerksam und ließ Dylan die Samen
aus einer Okraschote pulen. Der Meister
machte ihn zu seinem Schüler.
Watson-Brawn blieb knapp zwei Jahre
in Japan. Er hatte fünf freie Tage im Jahr.
Am Ende musste er ausreisen, weil es kei-
ne Möglichkeit mehr gab, sein Visum zu
verlängern.
Er war 19. Er spülte, filetierte, kochte
wie ein Japaner. Das ist nicht das Schlech-
teste in der Spitzengastronomie. Watson-
Brawn kochte eine Zeit lang im »Noma«
in Kopenhagen, dann war er müde und
kam nach Berlin, um sich auszuruhen. Er
nahm sich eine Wohnung im Wedding, traf
seinen jetzigen Geschäftspartner Spencer,
und die beiden entschieden, dass sie Bier-
brauer werden wollten. Sie wussten, das
würde teuer werden. Watson-Brawn dach-
te, vielleicht könnten sie Geld verdienen,
wenn sie in seinem Wohnzimmer für aus-
gewählte Gäste kochen. Schnell war es na-
hezu unmöglich, in diesem Wohnzimmer
einen Tisch zu buchen. So entstand die
Idee für das »ernst«. Der Name habe, sagt
Watson-Brawn, nichts mit Ernsthaftigkeit
zu tun, sondern sei der zweite Vorname ei-
nes dänischen Kumpels. Das »ernst« öff-
nete im Sommer vor zwei Jahren. Anfangs
fuhren Spencer und Watson-Brawn das Ge-
müse mit einem geklauten Einkaufswagen
aus Watson-Brawns Wohnung ins Restau-
rant, weil es dort keine Kühlschränke gab.
Es wird Nachmittag im Wedding. Der
Sommelier spielt 50 Cent mit »What Up
Gangsta« sehr laut über die Lautsprecher,
und die Köche fallen in einen Arbeitsrhyth-
mus, der so makellos ist, dass es unheim-
lich wirkt. Flammen schlagen hoch, Mes-
ser blitzen. Die Kapuzenpullover und
Wollmützen verschwinden, die Köche zie-
hen sich um, und um kurz nach 19 Uhr, als
die ersten Gäste kommen, tragen sie Hem-
den und Stoffhosen, und Watson-Brawn
hat sich sogar die Haare gekämmt.
Kurz vorher hat Watson-Brawn gesagt,
täglich ein Menü zu konzipieren sei ein
wenig so, wie jeden Tag »eine Sinfonie«
zu schreiben. Im »ernst« sitzt man im Or-
chestergraben, man spürt die Hitze, man
sieht die Messer. Die Gäste sitzen an einem
Tresen aus Ahornholz, an diesem Abend
sind es zwölf. Der Boden ist aus Beton,
Dekoration gibt es nicht, die Seife auf dem
Klo riecht so lecker, dass man überlegt, ein
paar Tropfen zu kosten.
Und dann kommen die 34 Gänge.
Die Gänge lassen sich alle mit ein paar
Happen essen. Manche isst man mit den
Fingern. Darunter findet sich ein Salatblatt
vom Gärtnerinnenhof, das Watson-Brawn
mit einer Sauce als Ganzes auf den Teller
legt. Es sieht aus wie ein Salatblatt, und es
schmeckt wie ein sehr gutes Blatt eines
sehr frischen Salats.
Die japanische Philosophie der Einfach-
heit ist offensichtlich. Die Gerichte sind
maximal reduziert, Garnitur gibt es nicht.
Jeder Gang wird mit einer Geschichte
serviert. Viele Köche begreifen seit ein
paar Jahren einen Restaurantbesuch als
eine Erzählung, die sie ihren Gäste prä-
sentieren. Im angeblich besten Restaurant
der Welt, dem »Noma« in Kopenhagen,
ist das so. Im Berliner »Nobelhart &
Schmutzig« kann der Wirt Billy lange
über den Tongehalt der Erde sprechen
und darüber, wie tief die Wurzeln einer
Tomatenpflanze darin reichen müssten.
Im »ernst« sind die Geschichten so bunt
und lustig und voller Leidenschaft, dass
man eigentlich nicht mehr drum herum-
kommt, das Essen schon vor dem ersten
Bissen zu lieben. Der Pilzsucher namens
Bauer Paul sammle seine Butterpilze in
einem Wald, in dem noch Minen aus dem
Zweiten Weltkrieg lägen, und nur Bauer
Paul kenne den Weg durchs Minenfeld.
Einmal serviert Tobi einen Apfel mit Kohl-
rabi und sagt, er sei sich nicht sicher, was
das für ein Apfel sei, weil der Bauer die
Äpfel von einem geheimen Hof klaue.
Vielleicht sind Watson-Brawn und sein
Team auch so spannend, weil sie die bes-
ten Geschichtenerzähler sind.
Irgendwann steht dann diese Brioche
vor einem. In einer japanischen Form un-
ter Druck gebacken, dampfend warm und
flaumig weich, mit selbst geschlagener
Butter bestrichen und einem Pulver aus
Pilzen und karamellisierter Sahne be-
flockt. Man möchte über den Tresen sprin-
gen und Watson-Brawn die Kanten der
Brioche aus der Hand reißen, als er sie
nach hinten trägt.
Ein Gang ist ein Eigelb, das sechs Stun-
den lang bei 62 Grad Celsius gegart und
mit einer Julienne aus Klettenwurzel ange-
richtet wurde und das einen daran zweifeln
lässt, ob man jemals wieder wird ein Ei es-
sen können, ohne an dieses zu denken.
Und dann dieser Bonito. Darauf liegen
die Senfsamen vom Gärtnerinnenhof.
Man schmeckt das Meer und die Kraft des
jungen Tieres und die Wucht der Senfsaat
und die Erde Brandenburgs. Wenn man
die drei Sterne dabeihätte, würde man
sie Dylan Watson-Brawn persönlich an
die Kochschürze heften und dann um Pau-
linas Hand anhalten, den restlichen Bonito
klauen und für immer glücklich sein.
Takis Würger
134 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
Restaurantangestellter bei Pilzauswahl: Ein sehr gutes Blatt eines sehr frischen Salats
Vollmundiges Versprechen
Mit »Guide Michelin«-Sternen ausgezeichnete
Restaurants in Deutschland, 2019
3 Sterne.....................................
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2 Sterne
1 Stern
10
38
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