Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

A


n einem Mittwochmorgen im Herbst
2012 entsteht in einem kargen Semi -
narraum in Aachen eine Idee, die
sieben Jahre später die politische Land -
karte Deutschlands verändern könnte.
Sebastian Goderbauer, Mathematik stu -
dent an der Rheinisch-Westfälischen Tech-
nischen Hochschule, sitzt in einer Vorle-
sung über mathematische Optimierung.
Es geht um Lieferketten, darum, wie ein
Logistikunternehmen seine Warenlager
am besten verteilt. Aber dann geht es
plötzlich um Politik.
Goderbauers Professor, Marco Lübbe-
cke, projiziert einen Zeitungsausschnitt
an die Wand. Das Bundesverfassungs -
gericht hatte drei Monate zuvor, am



  1. Juli 2012, das bisherige Wahlrecht als
    verfassungswidrig beurteilt. Es ging um
    die sogenannten Überhangmandate, die
    entstehen, wenn eine Partei durch die Erst-
    stimmen mehr Mandate erringt, als ihr
    durch die Zweitstimmen zustehen. Das Ge-
    richt mahnte an, dass durch diese Mandate
    das Wahlergebnis nicht verzerrt werden
    dürfe, und regte einen Ausgleich an. Das
    Problem aber war, dass durch Ausgleichs-
    mandate der Bundestag noch größer und
    teurer werden würde.
    Seit dem Urteil diskutieren Politik und
    Wissenschaft, welche Lösungen es gibt. In
    dem Zeitungsartikel, den der Professor an


die Wand wirft, wird vorgeschlagen, die
Zahl der Wahlkreise zu reduzieren. Dafür
müsste man aber das Bundesgebiet kom-
plett neu einteilen. Händisch würde das
viel zu lange dauern. Deshalb fragt der
Professor: Haben die Studenten eine Idee,
wie das mit Werkzeugen der Mathematik
besser ginge? Eine Frage, die Goderbauer
bis heute nicht loslässt.
Goderbauer, mittlerweile 30 Jahre alt,
Haare hochgegelt, Hemdsärmel hochge-
krempelt, ist politisch interessiert. Es habe
ihm gefallen, erzählt er, mal vor einer Auf-
gabe zu stehen, die nichts mit Leistungs-
optimierung oder Kosteneffizienz in der
Wirtschaft zu tun hat. Beim Wahlsystem
geht es immerhin um einen zentralen Bau-
stein der Demokratie, um die Frage, wie
Stimmen in Parlamentssitze überführt wer-
den, wie also aus Volkswille Macht wird.
Kann die Mathematik für demokratische
Gerechtigkeit sorgen? Das war die Frage,
vor der Goderbauer nun stand.
Nach der Vorlesung entschied er, mit
dem Thema weiterzumachen, zunächst in
seiner Masterarbeit. Goderbauer erörtert
darin, wie sich die Anforderungen, die das
Bundeswahlgesetz an einen Wahlkreis
stellt, in Mathematik übersetzen lassen.
So sollen Wahlkreise alle ungefähr gleich
viele deutsche Staatsbürger beheimaten,
damit die Erststimmen für Direktbewerber

überall gleich viel wert sind. Außerdem
dürfen Wahlkreise keine Grenzen der Bun-
desländer überschreiten und sollten mög-
lichst die Grenzen von Landkreisen und
Kommunen achten.
Um sein Modell einem Realitätscheck
zu unterziehen, nimmt Goderbauer nach
dem Ende seines Studiums Kontakt zum
obersten Hüter der deutschen Wahlen auf,
dem Bundeswahlleiter. Der sitzt auch in
der unabhängigen Wahlkreiskommission,
die zwischen den Bundestagswahlen den
Zuschnitt der Wahlkreise überprüft. Sind
etwa viele Menschen aus einem Wahlkreis
weggezogen, schlägt die Kommission vor,
angrenzende Gemeinden aus ihrem bishe-
rigen Wahlkreis herauszulösen und dem
bevölkerungsärmeren Kreis zuzuschlagen.
Schon länger nutzt die Kommission bei
ihrer Arbeit eine Software. Das Programm
zeigt bunte Landkarten und die aktuellen
Wahlkreisgrenzen an. Manche Gebiete
sind rot, andere blau eingefärbt. Hier le-
ben besonders viele oder wenige Men-
schen, soll das bedeuten, hier besteht
Handlungsbedarf. Eigene Vorschläge
macht die Software allerdings nicht: Die
erarbeitet die Kommission und leitet sie
an den Bundestag weiter, für den die Vor-
schläge aber nicht bindend sind.
Erst wenn ein Wahlkreis, gemessen an
seiner Bevölkerungszahl, mehr als 25 Pro-
zent kleiner oder größer als der Wahlkreis-
durchschnitt ist, muss der Bundestag Än-
derungen beschließen. Das kommt aber
selten vor, weshalb viele Vorschläge der
Kommission abgewiesen werden. Die
Wahlexperten der OSZE haben das bereits
kritisiert: Die großen Abweichungen in
Deutschland widersprächen »der guten
internationalen Praxis«.
Goderbauer beginnt, sein Modell zu
verfeinern. Er lernt die ungeschriebenen
Gesetze der Wahlkreiseinteilung kennen:
Etwa die Unantastbarkeit der bayerischen
Regierungsbezirke, deren Grenzen nicht
durchkreuzt werden dürfen. Solche regio-
nalen Besonderheiten kann Goderbauer
auch in Mathematik übersetzen und be-
rücksichtigen. Ihm gehe es nicht darum,
den Bundestag oder die Kommission zu
bevormunden, sagt er. Er wolle nur ein
Werkzeug schaffen, das eine objektive Dis-
kussionsgrundlage liefert.
In Berlin bekommt man von Goderbau-
ers Bemühungen, das perfekte Modell zu
finden, lange nichts mit. Um die Bundes-
tagswahl 2013 mit einem gültigen Wahl-
recht abhalten zu können und die Kritik
der Verfassungsrichter ernst zu nehmen, ei-
nigen sich Union, SPD, FDP und Grüne auf
die Einführung von Ausgleichsmandaten.
In der Folge bläht sich der Bundestag
auf: Statt auf die reguläre Größe mit 598
Abgeordneten kommt er nach der Wahl
2013 auf 631 Sitze und inzwischen auf 709.
In Zukunft könnten es wegen Überhang-

42 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019


Deutschland

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL
Mathematiker Goderbauer: Stimmen in Parlamentssitze überführen

Das perfekte Modell


ParlamentSeit Monaten streiten die Parteien über eine Wahlrechts -
reform, um den Bundestag zu verkleinern. Ein Mathematiker hat

nun einen Algorithmus entwickelt, der die Wahlkreise gerecht festlegt.

Free download pdf