Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

denn nun: mehr Bauch oder mehr
Kopf?
Scholz:Ich glaube, dass Sie Martin
Schulz unrecht tun, wenn Sie in
Abrede stellen, dass er einen Kopf
hat. Und ich glaube, dass Sie mir
unrecht tun, wenn Sie mir nicht
die Leidenschaft zubilligen, die uns
alle eint.
SPIEGEL: Entschuldigen Sie, aber
Leidenschaft ist wirklich das Letzte,
was man mit Ihnen in Verbindung
bringt.
Scholz:Nun ja, im Norden drückt
sich Leidenschaft manchmal etwas
nüchterner aus als anderswo. Es ist
aber Leidenschaft, die uns zusam-
men gegen die Gefahr von rechts
stehen lässt. Wir antworten auf po-
pulistische Parolen mit Argumen-
ten, um die Bürger zu überzeugen.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Scholz: Wieso kümmern wir uns
um den Klimaschutz, während an-
dernorts neue Kohlekraftwerke ge-
baut werden, werde ich gefragt.
Meine Antwort: weil wir es können – und
die Technologie entwickeln, die wir später
in alle Welt verkaufen können. Damit si-
chern wir unsere Zukunft doppelt. Wir
dürfen denjenigen, die sich für populisti-
sche Parolen empfänglich zeigen, nicht die
Ausrede gestatten, dass die Zeiten eben
schwer sind. Da müssen wir klar gegenhal-
ten. Die SPD ist von armen Leuten gegrün-
det worden, die für Demokratie und den
Sozialstaat gekämpft haben. Die haben
sich nicht gegen ihre Nachbarn gewandt
und sich nicht gegenüber anderen erhöht.
SPIEGEL: Herr Schulz, wenn Sie sich diese
Antwort anhören, zweifeln Sie dann nicht
wieder an Ihrer Wahlentscheidung?
Schulz:Eins vorweg: Ich mache hier kei-
nen Wahlkampf, sondern erläutere, wa-
rum ich im zweiten Wahlgang Scholz und
Geywitz meine Stimme gebe. Ich habe im
ersten Wahlgang übrigens Boris Pistorius
und Petra Köpping, die mir politisch am
nächsten stehen, gewählt. Und was meine
jetzige Wahlentscheidung angeht: Nein ich
zweifle nicht an ihr. Aber, Olaf, ich würde
dir gern was sagen, das sich in etwas zu-
sammenfassen lässt, was Sigmar Gabriel
einmal gesagt hat: Hamburgische Bürger-
meister werden in blauen Anzügen gebo-
ren. So kommen die auf die Welt.
Scholz:Das ist lustig, stimmt aber nicht.
Schulz:Das Problem, das er damit be-
schrieb, ist: Menschen werfen unserer Par-
tei und speziell dir vor, wir seien zu abge-
hoben, zu emotionslos. Ich finde ja alles
richtig, was du gerade gesagt hast. Aber
wenn ich Leuten mit Olaf Scholz ankom-
me, rollen die erst mal mit den Augen.
SPIEGEL: Und was sagen Sie denen?
Schulz:Denen sag ich: Pass auf, du kriegst
von mir ’nen Freifahrtschein nach Ham-


burg. Und dann fährst du mal da hin und
guckst dir an, was der da für ’ne Woh-
nungsbaupolitik gemacht hat. Und dann
sprechen wir noch mal. Aber Olaf, ich wür-
de mir wünschen, du lässt den Vizekanzler
mal im Vizekanzleramt! Ich hab dich doch
schon erlebt, auf Hamburger Parteitagen,
da hast du gesagt: Passt mal auf, Leute,
wer bei mir Führung bestellt, der kriegt
die auch. Und das brauchen wir jetzt wie-
der! Die Leute sind doch aufgewühlt. Die
bewegt tief in ihrem Herzen eins: Meine
Sozialdemokratie darf nicht kaputtgehen.
Das ist die Emotion, die wir aufnehmen
müssen. Du musst den Leuten zeigen, dass
in dir die Leidenschaft brennt, uns wieder
nach vorn zu bringen.
Scholz:Ich stimme dir zu, denn natürlich
leiden wir alle unter den miesen Wahl -
ergebnissen. Und es freut mich natürlich,
dass du mich auch schon begeisternd er-
lebt hast. Für mich ist die SPD tatsächlich
eine sehr emotionale Angelegenheit. Es
gibt keine Alternative zur Sozialdemokra-
tie, wenn man will, dass es in diesem Land
fair zugeht. Das ist tief in mir drin. Und
ich kandidiere gemeinsam mit Klara Gey-
witz für den Parteivorsitz, weil mir klar
geworden ist: Wenn ich das jetzt in dieser
Situation nicht tue, werde ich mir das nie-
mals verzeihen. Niemals.
SPIEGEL: Aber hat Martin Schulz mit sei-
nem kleinen Coaching nicht recht? Wenn
man Sie während der Regionalkonferen-
zen beobachtet hat, fragte man sich: Wann
kommt da mal was Emotionales?
Scholz:Johannes Rau hatte das Motto:
Versöhnen statt spalten. Das gefällt mir.
Ich will, dass die SPD zusammenbleibt.
Das mag für die Medien vielleicht nicht
die spannendste Herangehensweise sein,

weil die es lieber mögen, wenn es
pufft und kracht. Aber das Rennen
um den Vorsitz ist kein Ringkampf.
Wir Sozialdemokraten sind nicht
zufällig in ein- und demselben La-
den. Auch wenn wir manches
unterschiedlich betrachten, wollen
wir alle mehr oder weniger in die
gleiche Richtung.
SPIEGEL: Nehmen wir die Europa-
politik. Fehlt Ihnen nicht genau da
die schulzsche Leidenschaft?
Scholz:Nein, überhaupt nicht.
Wenn ich mir die Welt gerade an-
schaue, kann einem mulmig wer-
den. Die Welt ist bedroht von ei-
nem rücksichtslosen Unilateralis-
mus. In wenigen Jahren wird es
vielleicht Russland geben als starke
Macht, die USA, China, Brasilien
und Indien. Manche sagen voraus,
dass Nigeria mehr Einwohner ha-
ben wird als die ganze EU zusam-
men. Wenn wir hier in Europa
noch relevant sein wollen, müssen
wir in Europa zusammenstehen.
Schulz:Das teile ich zu 100 Prozent. Ich
persönlich würde es nur anders vortragen.
Wir müssen Europa deshalb emotionali-
sieren, weil der Angriff auf Europa auch
emotional verläuft. Die Europafeinde zie-
len auf den Bauch der Menschen. Sie ver-
suchen, alle Probleme auf Europa zu re-
duzieren. Wir müssen dem eine Vision ent-
gegenstellen.
SPIEGEL: Die da wäre?
Schulz:Die Gründer Europas haben die
Länder auf unserem Kontinent so ineinan-
der verwoben, dass Krieg unter ihnen un-
möglich geworden ist. Du erinnerst dich
vielleicht, Olaf: Als Jusos haben wir immer
von der strukturellen Nichtangriffsfähig-
keit gesprochen. Die haben wir in Europa.
Und es gibt Leute, die sie wieder abschaf-
fen wollen. Der Geist der Zerstörung, der
gewinnt in Europa wieder Platz, und dem
muss man eine positive Emotion entgegen-
setzen. Ein freies, vielfältiges Europa, das
uns schützt und in dem jeder Einzelne ein
erfülltes Leben leben kann. Ich weiß, das
ist nicht deine Rhetorik, sondern meine.
Scholz:Und doch ist genau das auch mei-
ne Überzeugung.
Schulz:Wir brauchen halt eine Kombina-
tion aus verschiedenen Fähigkeiten.
Scholz:Zusammen sind wir Sozialdemo-
kraten immer gut. Aber ernsthaft: Wir
Deutschen haben immer eine besondere
Rolle in Europa. Da geht es auch um Ver-
antwortung für unsere Geschichte. Wenn
Großbritannien aus der EU austritt, dann
wird das einige Deutschland in Europas
Mitte noch prägender sein. Dann können
wir nicht vom Rand aus kommentieren.
Dann müssen wir die sein, die Europa
vorantreiben, auch gegen massive Wider-
stände.

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Deutschland

DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL

»Martin Schulz hat uns


ein Erbe hinterlassen, das niemand


von uns vergessen darf.«


Olaf Scholz
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