Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
ne Argumentation hält mein Tagebuch
fest: »Reagan zwingt mit seiner Aufrüs-
tung die bösen Stalin-Nachkommen in die
Knie, die dann in Form eines Gorbatschow
die Perestroika verkünden, woraufhin sich
Ungarn und Polen dem Kapitalismus öff-
nen, was den eingesperrten DDR-Bürgern
den Weg gen Westen öffnet, deren Flucht
die DDR zum Mauerabriss zwingt.«
Diese ökonomische Logik machte mir
Angst. Sie passte nicht zu Jürgens und mei-
nen idealistischen Vorstellungen.
Mein Eintrag am 10. November spiegelt
meine Verunsicherung wider: »Die Mauer
ist gefallen ... Aber um welche Mauer
handelt es sich bloß? Etwa nur um die
zwischen Sozialismus und Kapitalismus?
Oder um eine Mauer zwischen Menschen?
Ich wünschte, letzteres sei der Fall.«
Am Buß- und Bettag war die seit der
Maueröffnung ständig überfüllte S-Bahn
erstmals wieder leer. Das war ernüchternd.
Unsere Ostbrüder und -schwestern kamen
also nur, wenn es etwas zu kaufen gab.

Die Trennung
Im Dezember zog Jürgen bei mir ein. Er
wollte nicht aus dem Ostteil der Stadt in

den Westen pendeln, nicht in beiden Wel-
ten leben. Jürgen kaufte sich Haferlschuhe
für 129 Mark, einen Lodenmantel, ein
Peugeot-Fahrrad: Statussymbole. Er wollte
nicht zu denen gehören, die ihr Westgeld
abholten und Bananen kauften. Ich
schimpfte, denn mein Vater hatte mir das
Geld für ihn geliehen. Und warum war Jür-
gen immer gerade dann weg, wenn meine
Kommilitonen zu Besuch kamen? Intellek-
tuell hätte er sie in die Tasche stecken
können. Er dagegen schämte sich sogar
für seine Zähne. Die DDR-Zahnärzte hat-
ten Löcher mit minderwertigem Material
gestopft. Der Zahnarzt in Moabit musste
die Füllungen in Jürgens Mund aufbohren,
um sie mit hartem Westamalgam zu flicken.
Ich ahnte nicht, wie fremd und zugleich
verlockend die neue Warenwelt auf Jür -
gen wirkte. Tomaten im Dezember – in
Treuen brietzen staunte seine Familie, als
er von derlei Luxus erzählte.
Jürgen schrieb sich an der Freien Uni-
versität für Soziologie und Psychologie ein.
Ich fand eine Anwältin, die austüftelte, wie
wir geschieden werden könnten, ohne das
Trennungsjahr einzuhalten: Wir mussten
angeben, dass unsere Ehe nie vollzogen
worden sei. Dass Jürgen mich nur ausge-
nutzt habe, um in den Westen zu kommen.
Am 23. März 1990 schied uns ein Rich-
ter am Amtsgericht Charlottenburg. Da
kein gemeinsames Vermögen bestand,
wurden uns nur die Kosten des Verfahrens
berechnet. Jürgen musste 138 D-Mark be-
zahlen; meinen Anteil trug das Land Ber-
lin, weil ich Studentin war.
Zuvor gingen wir in einen Schmuckla-
den. Ich wählte einen schmalen Silberring
mit eingelegtem Perlmutt. Wenn schon kei-
nen Ehering, fand ich, sollte ich wenigstens
einen Scheidungsring haben.
Anschließend zog Jürgen wieder in den
Prenzlauer Berg. Monate später begegnete
er mir dort zufällig. Seine Haare waren
länger, er hatte ein paar Strähnen rot und
grün gefärbt. Ich staunte. »Kann es sein«,
fragte ich, »dass du verliebt bist?« »Ja.«
Grinsen. »Er heißt Uwe.«
In der DDR war Homosexualität ein
Tabu. Jürgen hatte schon lange geahnt,
dass er schwul war, trotz seiner hetero -
sexuellen Beziehungen.
20 Jahre später, im Juni 2010, feierten
wir in Berlin-Mitte Jürgens Hochzeit mit
Éric, einem Franzosen. Die beiden leben
heute in der Schweiz. Ich habe das Glück,
zu ihrer Wahlfamilie zu gehören.
Mitarbeit: Jürgen Bruhns
Mail: [email protected]

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Video
Annette Bruhns über
ihre Ost-West-Ehe
spiegel.de/sp452019ddr
oder in der App DER SPIEGEL

Mir wurde kalt. In meiner Fantasie sah
ich Jürgen über die scharf bewachte Mauer
klettern. Es dauerte, bis ich begriff, was er
erzählte. Dann rüttelte ich meine Schwester
wach. Mit Sekt von meinem Geburtstag
stießen wir an. Dorothee legte sich wieder
hin, sie wollte um sieben Uhr zum Tai Chi.
Bis heute nimmt sie mir übel, dass ich sie
nicht mit hinaus in die Nacht gezerrt habe.
Gegen halb vier waren Jürgen und ich
am Brandenburger Tor. Von oben zogen
uns Menschen an zusammengeknoteten Ja-
cken hoch. Unten, auf der Ostseite, erfass-
ten uns Polizeischeinwerfer, Kontrolle.
Mich wollten sie zurückschicken, »benut-
zen Sie den Grenzübergang Friedrichstra-
ße«. Ich flehte die Beamten an: »Ich bin sei-
ne Frau!« Zum Beweis zeigten wir unsere
Ausweise mit dem gemeinsamen Nachna-
men: Bruhns. Gnädig ließ man mich pas-
sieren. Nicht ich hatte Jürgen herausgehei-
ratet, sondern er mich hinein in die DDR.
An der Straße Unter den Linden war
noch eine Bar offen. Wir trafen einen
Mann aus Jena, einen Filmemacher, der
vor Jahren in den Westen geflohen war.
Nicht die mutigen DDR-Bürger hätten die
Maueröffnung ertrotzt, behauptete er. Sei-


Annette und Jürgen Bruhns im Oktober,
Eheurkunde vom 15. September 1989
»Jürgen trägt noch heute meinen Nachnamen«
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