Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

küste Nordamerikas, mit einer Durch-
schnittsgeschwindigkeit von 145 km/h auf
einer Gesamtstrecke von 4497 Kilometern.
Auf Straßen, auf denen mal höchstens 90,
mal 120 km/h erlaubt sind, waren Roy und
sein Beifahrer oft mit über 200 Sachen un-
terwegs. Mit dieser unverantwortlichen,
unsinnigen – und illegalen – Jagd unterbot
er eine 23 Jahre alte Bestmarke. Es war
ein Rennen im Geheimen, ohne Zuschauer,
nur gegen die Uhr und gegen die Polizei.
Roy hat die Rekordfahrt filmen lassen,
vom Rücksitz und aus der Luft, und daraus
den Dokumentarfilm »The Secret Race
Across America« gemacht. Bis er sein
Werk endlich zeigen konnte, vergingen
13 Jahre. »Wir mussten den Film zurück-
halten, bis in den meisten Bundesstaaten,
die wir durchquerten, alle möglichen Straf-
taten verjährt waren«, erklärt er. Das Pu-
blikum bei der Westküstenpremiere in San
Francisco Anfang Juni ist handverlesen,
auch freundlich lächelnde Vertreter
von Argo AI sind dabei. Roy strahlt
während der Vorführung übers
ganze Gesicht.
Zu sehen ist an diesem Abend
zum Beispiel, wie Roy in seinem
blauen BMW M5 über den High -
way 44 in Oklahoma rast. Aus dem
Polizeifunkscanner hören er und
sein Beifahrer: »Hinweis: blauer
BMW mit überhöhter Geschwin-
digkeit, rücksichtslose Fahrweise,
Nummernschild nicht lesbar.«
Doch kurz bevor Roy den Ord-
nungskräften in die Arme fährt,
taucht vor ihm ein Sattelzug auf. In
dessen Schatten schleicht der
BMW unbemerkt an der Polizei
vorbei. Göttliche Fügung auf der
Leinwand, Gelächter und Applaus
beim Filmpublikum.
Roy, später beim Interview auf
einem Sofa mehr liegend als sit-
zend, bezeichnet seine illegale
Crosscountry-Rekordfahrt als »Ex-
trembeispiel einer menschlichen Willens-
leistung«.
Das ist das Gegenteil der selbstfahren-
den Zukunft, wie sie die Autoindustrie vor-
hersieht: Fahrzeuge, in der die Technik
den Menschen ersetzt, Roboterautos, die,
in ihrer reinsten Form, kein Lenkrad mehr
haben sollen, niemals zu schnell fahren
werden, niemals eine Verkehrsvorschrift
verletzen werden, weil ihnen die Regeln
einprogrammiert sind. Fortbewegungsmit-
tel, die als intelligente Flotte unterwegs
sind, um Waren oder Menschen abzulie-
fern, per Software miteinander vernetzt,
die sich, wie im Fall von Uber oder Lyft,
die Passagiere teilen.
Das Auto ist in diesen Konzepten ein
Gemeinschaftstransportmittel, das im Ideal -
fall nicht dem Fahrer gehört, sondern der
Firma: das Gegenteil des Individualver-


kehrs. Das Gegenteil von Freiheit. Das Ge-
genteil von Alex Roy.
Roy hat einen »war on driving« ausge-
macht, einen Krieg gegen das Autofahren.
Die Self-Driving-Autoindustrie, die ihn be-
zahlt, deckt er deshalb bei jeder Gelegen-
heit mit Verwünschungen ein. Auf einer
Mobilitätskonferenz in Richmond bei San
Francisco hielt er im Frühjahr einen mar-
tialischen Vortrag und trug dabei Camou-
flagehose, Bomberjacke und Sonnenbrille.
»Man muss diesen Leuten sehr deutlich
sagen, was man zu sagen hat, sonst hören
sie nicht zu«, sagt Roy.
Aber ist er mehr als nur der Hofnarr
der digitalen Autoszene? Was soll er be-
wirken unter all den von künstlicher Intel-
ligenz beseelten Ingenieuren?
Dass einer wie Roy plötzlich ernst ge-
nommen wird, hat auch mit der erlahmen-
den Euphorie der Propheten selbstfahren-
der Autos zu tun. Immer weiter mussten

die Autobauer die Termine nach hinten
verschieben, zu denen der Mensch am
Steuer angeblich durch Algorithmen er-
setzt wird, serienmäßig. Argo-Kunde Ford
etwa hatte 2016 noch angekündigt, bis
2021 ein Auto ohne Lenkrad zu entwi-
ckeln, also ein autonomes Gefährt mit »Le-
vel 5« – das ist die höchste von fünf Evo-
lutionsstufen, in die Experten selbstfah-
rende Autos einteilen.
Ein Auto auf Level 5 braucht kein Gas-
und kein Bremspedal, der Mensch hat hier
nichts mehr zu tun. Solche Ankündigungen,
die von Medien oft ungeprüft übernommen
werden, erregen Roys Zorn. »Ich will den
Bullshit raushaben aus der Diskussion«,
sagt er, »because I fucking hate bullshit« –
dafür liebt der Mann Kraftausdrücke.
Im vorigen Jahr fuhr Roy in einem Re-
nault Kwid, einem Mini-SUV, quer durch

Indien, von Chennai nach Mumbai, nur um
zu zeigen, dass ein selbstfahrendes Auto
mit den dortigen Fahrbedingungen so bald
nicht klarkommen wird. Für eine Dokumen -
tation des Trips filmte er Kühe auf der Stra-
ße, Monsun auf der Autobahn, komplizier-
te Kreuzungen ohne Licht signale und den
niemals endenden Stau. »Das Silicon Valley
investiert Milliarden in selbstfahrende Au-
tos«, sagt er über sein Indienabenteuer,
»aber das Problem sind die Grenzfälle auf
den Straßen, die man nicht vorhersehen
kann. Nun, Indien ist ein einziger Grenz-
fall.« Sein Fazit: Wann immer ein selbstfah -
rendes Auto bereit sei für den US-Markt, für
Indien müsse man 20 Jahre hinzurechnen.
Dass Fortschrittsskeptiker Roy und Argo-
Chef Salesky sich gut verstehen, liegt auch
daran, dass Salesky, anders als so viele in
seiner Zunft, die Hoffnungen auf eine bal-
dige autonome Massenmobilität mehr
dämpft als schürt. Selbstfahrende Trans-
portmittel, die auf allen Straßen
und in großer Zahl zum Einsatz
kommen, lägen »weit in der Zu-
kunft«, sagte Salesky kürzlich der
»New York Times«.
Seiner Einschätzung nach haben
Argo wie auch andere Mitbewer-
ber zwar bereits rund 80 Prozent
der Technologie entwickelt, die
für einen breiten, alltäglichen Ein-
satz selbstfahrender Autos erfor-
derlich ist – doch die verbleiben-
den 20 Prozent seien »sehr viel
schwieriger«.
Argo- und andere Testwagen
können heute ihre Umwelt umfas-
send wahrnehmen, die Radar- und
Sensortechnologie dazu existiert
und funktioniert. Die Herausforde-
rung für die Softwareingenieure be-
steht nun vor allem darin, zuver -
lässig vorauszusehen, was diese
Umwelt – also die anderen Ver kehrs -
teilnehmer, ob Kühe oder Men -
schen – als Nächstes tun wird.
Und das ist schwer. Unter den Auto -
roboterdesignern, nicht nur bei Salesky,
ist seit Kurzem eine neue Bescheidenheit
ausgebrochen. »Wir haben uns bei der
Einführung autonomer Fahrzeuge über-
schätzt«, sagte etwa Ford-Chef Jim Ha-
ckett im April. Alexander Hitzinger, bei
VW der leitende Kopf für autonomes Fah-
ren, sprach in der »FAZ« kürzlich vage
von einem Zeitrahmen »ab 2025«. Das PR-
Wettrennen jedenfalls, welche Firma den
frühesten Termin für ein marktreifes selbst-
fahrendes Auto vorhersagen kann, scheint
mittlerweile abgesagt. Roy steht nicht nur
für die notwendige Ernüchterung, sondern
auch für einen neuen Realismus der Bran-
che. Und er ist die Verbindung von Tech -
euphorikern zu Autoenthusiasten.
Für die Premiere seines Films hat Roy
den Unternehmenssitz von Bring A Trailer

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 77


Wirtschaft

FOTO: PRIVAT
BMW-Sportwagen M5: Autofahren als Menschenrecht
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