Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

8 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019


Meinung


Immer wenn ich Björn
Höcke reden höre, werde
ich den Verdacht nicht los,
dass er sich abends zum
Einschlafen alte Goebbels-
Reden auf YouTube rein-
pfeift. Aber ich mag mich irren.
Gemeinsam ist den beiden jedenfalls
nicht nur ein Hang zur volksmysti-
schen, leicht beschwipst klingenden
Raunerei, sondern auch eine Grund-
skepsis gegenüber Journalisten.
Trotz des Erfolgs seiner AfD bei der
Landtagswahl in Thüringen beschwer-
te sich Höcke diese Woche wieder mal
über »einseitige Berichterstattung«
und »Manipulation« durch die Medien.
Was wäre für die AfD erst drin, wenn
endlich stramm und zackig berichtet
würde!
Sollte Höcke auch so an die Macht
kommen, rechne ich mit Veränderun-
gen in meinem Berufsalltag. »Wenn
einmal die Wendezeit gekommen ist,
dann machen wir Deutschen keine hal-
ben Sachen«, drohte er einst. Es werde
dann »wohltemperierte Grausamkeit«
geben. Ich will da vorbereitet sein.
Eine erfolgreiche Presselenkung,
das dürfte auch Höcke wissen, ist
heute komplexer als damals. Mit ei -
nem »Reichsschriftleitergesetz«

würde man sich in der digitalen Moder-
ne leicht lächerlich machen. Und der
Sportpalast steht ja auch nicht mehr.
Wie es geht, kann Höcke bei den
Kollegen in China lernen. Staatspräsi-
dent Xi testet die Loyalität von Journa-
listen jetzt ernsthaft mit einer soge-
nannten Xi-App. In dieser Online-Fort-
bildung müssen Journalisten zunächst
die Gedankenwelt des großen Führers
studieren und sich danach einem
Loyalitätstest unterziehen. Wer 80 von
100 Fragen richtig beantwortet,
bekommt einen Presseausweis. Der
Rest verliert den Job. Eine der Fragen
der Xi-App geht so: »Was verlangt
Präsident Xi von politischen Kadern:
A) Wissen oder B) Loyalität zur Par-
tei?« Richtig ist Antwort B. Diktaturen
erkennt man auch an ihrer Plumpheit.
Ich weiß nicht, ob in Erfurt bereits
an der Höcke-App gebastelt wird, aber
ich sehe sie schon vor mir. Nach Schu-
lungsvideos mit seinen Gassenhauern
»Denkmal der Schande« oder »Afrika-
nischer Ausbreitungstyp« könnte die
erste Testfrage gleich eine knifflige sein.
»Wie heißt der Führer mit Vornamen?
A) Björn, B) Bernd, C) Landolf?«

An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
und Alexander Neubacherim Wechsel.

Markus FeldenkirchenDer gesunde Menschenverstand

Die Höcke-App


So gesehen

Wer war ’s?


Die FDP sucht ihren Wähler.

Nach dem denkbar knappen Ein-
zug der FDP in den Landtag von
Thüringen wollen die Liberalen nun
eine ungewöhnliche Suchaktion star-
ten. Bei der Wahl hatte die Partei
laut vorläufigem Ergebnis zunächst
mit nur fünf Stimmen die Fünfpro-
zenthürde übersprungen. Nach einer
Nachzählung war es zunächst nur
noch eine einzige Stimme.
Die FDP möchte nun ihre ganze
Kraft dafür einsetzen, jene Person
ausfindig zu machen, die es ihr er -
möglicht hat, sich erneut in einem
Parlament aus jeder Regierungsver-
antwortung herauszuhalten. »Nur
ihr ist es zu verdanken, dass wir ein-
mal mehr klarmachen können: Lie-

ber nicht regieren als falsch regie-
ren«, heißt es in einem rechteckigen
Rundschreiben der Parteispitze.
Am Wahlabend hatte die FDP den
Eintritt in eine rot-rot-grün-gelbe
Koalition, eine Tolerierung der bis -
herigen Regierung oder Gespräche
mit dem linken Ministerpräsidenten
Bodo Ramelow ausgeschlossen.
An der Suche sollen sich nun FDP-
Leute aus dem gesamten Bundes -
gebiet beteiligen. Ersten Hinweisen
möchte man in Dieterode nachge-
hen, wo ein Bürger wegen einer ver-
lorenen Wette um die Anzahl ver-
zehrbarer Bratwürste pro Stunde die
Liberalen gewählt haben soll.
Sollte der Wahlentscheider identi-
fiziert werden, winken ihm attrakti-
ve Sachprämien, etwa vergünstigte
Eintrittskarten für die Parteizentrale
und eine Stadtrundfahrt im Porsche
des »Welt«-Chefredakteurs Ulf
Poschardt zum Selbstkostenpreis.
Die Partei stellt sich auf eine lange
Suche ein. »Es könnte sein, dass wir
die gesamte Legislaturperiode damit
beschäftigt sind«, heißt es in dem
Schreiben. Zum Glück habe man
aber »sonst nichts zu tun«.
Stefan Kuzmany
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