Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

Kushners feiert, am Samstag nach Virginia
zum Golfspielen fliegt, laufen die Vorbe-
reitungen für den Zugriff auf Hochtouren:
Überflugrechte werden erbeten und erteilt
von Russland, die türkische Regierung
wird über den Einsatz informiert, wobei
unklar bleibt, wie umfassend. 
Am Samstag um 16.18 Uhr Ortszeit ist
Trump zurück im Weißen Haus. Um 17 Uhr
sitzt er im Situation Room, als kurz darauf
Hubschrauber und Begleitjets von einer
US-Basis in Syrien Richtung Westen abhe-
ben. Sie fliegen extrem tief, um der Ortung
zu entgehen. 
Türkische Militärs und Geheimdienstler
haben auf Bitte der Amerikaner die von ih-
nen kontrollierten Rebellengruppen inklu-
sive des HTS in Idlib gewarnt, nicht auf die
nahende Luftflotte zu schießen. Doch bei ei-
nem HTS-Posten nahe dem Grenzübergang
von Bab al-Hawa scheint die Order nicht an-
gekommen zu sein. Die Männer eröffnen
das Feuer auf die Hubschrauber, treffen nicht
und werden anschließend von ihren wüten-
den Kommandeuren festgenommen.
Im Gehöft von Salam Hadsch Deeb geht
nun alles rasend schnell. Es ist unklar, ob
Deeb den Angriff überlebt. Seine Schwie-
gertochter und mindestens einer der Enkel
sterben in dem Feuergefecht. Baghdadi
flieht in den Keller, hat zwei seiner Kinder
bei sich. 
Trump wird später davon sprechen,
dass sich der Terrorführer in einem Tunnel
unter dem Haus verschanzt habe, wo ihn
ein Schäferhund aufspürt. In der Tat hat
der IS ganze Dörfer untertunnelt, Hunder-
te Meter lange Röhren gegraben mit getä-
felten Räumen, Stromleitungen, abschließ-
baren Türen. Doch in Barischa haben An-
wohner nie etwas von größeren Grabungs-
arbeiten bemerkt.
Auf dem Höhepunkt der Macht des IS
rief sich Baghdadi vor fünf Jahren in der
marmorgetäfelten Nuri-Moschee in Mos-


sul zum »Kalifen Ibrahim« des »Islami-
schen Staats« aus. Nun endet seine Ge-
schichte in einem Keller in Idlib.
Den Gläubigen in Mossul hatte er sich
2014 als Herrscher göttlichen Willens vor-
gestellt. Für ein paar Wochen in jenem fa-
talen Sommer sah es so aus, als würde sich
sein Horrorstaat etablieren.
Doch schon lange bevor das Land wie-
der verloren ging in einem mehrjährigen,
grausamen Krieg der Befreiung, musste
Baghdadi lernen, dass der Himmel im
Diesseits anderen gehört: der US-Luftwaf-
fe, die ab August 2014 damit begann, den
IS aus der Luft zu bekämpfen. Guerilla-
gruppen können das überstehen. Aber

eine Macht, die offen herrschen will, wird
zum Ziel und geht irgendwann unter. 
Baghdadi zündet seine Sprengstoffwes-
te, tötet sich und die beiden Kinder, die er
mit nach unten gezerrt hat. Die Delta-Ein-
heiten der Amerikaner haben zwar eine
mobile Analyseausrüstung dabei, um rasch
die Identität ihres Opfers feststellen zu
können. Doch nun müssen sie erst einmal
in den Trümmern des teilweise eingestürz-
ten Baus graben, bis sie an die sterblichen
Überreste des Gesuchten herankommen.
So wird es das US-Militär später be -
richten. 
Wenig Zeit brauchen die Experten für
den DNA-Abgleich. Es ist Baghdadi. Nach
zwei Stunden ist der Einsatz vorüber. Die
Hubschrauber heben wieder ab, sechs Ra-
keten werden auf das Haus abgefeuert, zer-
stören es vollständig.

Sieben Tote findet ein Nachbar am
nächsten Morgen, darunter Frauen und
Kinder. Baghdadis Überreste werden ir-
gendwo auf See bestattet, vermutlich aus
der Luft ins Wasser geworfen. Trump wird
Stunden später vom »winselnden, schrei-
enden, weinenden« Baghdadi sprechen,
der »wie ein Hund« gestorben sei. Nie-
mand der Militärs und Minister mag diese
Schilderung bestätigen.
Nach Baghdadis Tod bleiben Fragen:
Wer ist sein Nachfolger an der Spitze des
IS, dessen Namen die Organisation am
Donnerstag bekannt gegeben hat? Abu
Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi taucht
nicht auf einer Liste des irakischen Ge-
heimdienstes aus dem März auf, die die
gesamte IS-Führung bis hinunter zur Pro-
vinzebene aufführt. Auch westlichen Ge-
heimdiensten sagte der Name vorerst
nichts.
Wichtiger noch: Wie bedrohlich ist der
IS? Was hat die bis vor Kurzem mächtigste
Terrororganisation der Welt vor? Sicher-
heitsexperten werden nicht müde, vor einer
Rückkehr des Grauens zu warnen.
Doch die Sache ist komplizierter: Die
gegenwärtigen Anschläge und Entführun-
gen des IS wirken vor allem vor dem Hin-
tergrund seiner furchterregenden Macht
von vor fünf Jahren so bedrohlich. Seine
Strippenzieher waren fast allesamt ehema-
lige Offiziere aus Saddam Husseins Ge-
heimdiensten und Eliteeinheiten. Sie wa-
ren die eigentlichen Herrscher über das
Kalifat, gaben die Befehle – und starben
alle vor Baghdadi.
Einerseits sind die Zeiten günstig für
Nutznießer chaotischer Zustände, wie es
der IS in Syrien und im Irak war. Doch
eben dort hat die Miliz durch ihre Brutali-
tät so viel verbrannte Erde hinterlassen,
dass ein erneuter Eroberungsfeldzug
schwer wiederholbar ist. Wenn der IS wie-
derkehrt, dann eher woanders. Afghani -
stan und Pakistan sind gefährdet, dorthin
haben sich Hunderte der mittleren Kader
geflüchtet, sogar zwei neue IS-Provinzen
gegründet.
Auf dem Trümmerfeld bei dem Dorf
Barischa wollen am Sonntagmorgen die
Nothelfer der Weißhelme routinemäßig
nach verschütteten Leichen graben. Sie
werden vertrieben von HTS-Kämpfern,
die nach Überbleibseln ihres Erzfeindes
suchen. Nach Angaben eines Kämpfers
finden die Dschihadisten unter ande-
rem 260 000 Dollar, die von den Ame -
rikanern in der Nacht übersehen wor -
den sind. 
Was die HTS-Propagandisten später im
Netz präsentieren, ist eine beigefarbene
Weste: exakt jenes Modell, das Baghdadi
in seinem letzten Video Ende April getra-
gen hat. Sie hat das Bombardement über-
raschend unversehrt überstanden. 

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AP / DPA
IS-Anhänger in Syrien 2014: Was hat die Organisation vor?

Trump wird vom
»winselnden, schreien-
den, weinenden«
Baghdadi sprechen.
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