Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

D


er Aufstand sieht an manchen Tagen aus wie ein Fes-
tival. Im Irak und im Libanon feiern und tanzen jun-
ge Menschen ausgelassen bis spät in die Nacht. Ihre
Proteste haben keine erkennbare Führung, politische
Flaggen und Zeichen fehlen. Die Demonstranten organisieren
sich über soziale Medien. Sie fordern nicht weniger als den
Rücktritt der gesamten politischen Elite. Die Bilder erinnern
an den Arabischen Frühling, der vor acht Jahren so viele
Länder im Nahen Osten erschütterte, aber am Libanon und
am Irak vorbeizog.
Und tatsächlich sind es ähnliche
Probleme wie damals in Tunesien und
in Ägypten, die nun viele junge Iraker
und Libanesen auf die Straße treiben:
die Perspektivlosigkeit und die weit
verbreitete Korruption. Doch die Aus-
gangslagen sind in all diesen Ländern
sehr unterschiedlich, die Entwicklun-
gen daher auch. Insbesondere für den
Irak lässt dies wenig Gutes vermuten.
Der Nahe und der Mittlere Osten
durchleben eine Zeit des Umbruchs –
in Teilen vergleichbar mit den Revolu -
tionen in Europa 1848/49. Eine neue
Generation fordert mehr Teilhabe,
vor allem wirtschaftlich. Gerade drän-
gen geburtenstarke Jahrgänge in der
Region auf den Arbeitsmarkt. Sie sind
so gut ausgebildet wie noch nie und
vernetzt über neue Kommunikations-
mittel. Doch gleichzeitig stehen ihnen
weniger Möglichkeiten offen als ihren
Vätern und Großvätern. Denn das
staatslastige Entwicklungsmodell die-
ser Länder steckt in einer tiefen Krise,
es gibt nicht genug Arbeitsplätze.
Gleichzeitig sehen rivalisierende Re-
gionalmächte durch die Aufstände die
bestehende Ordnung und ihren Ein-
fluss darin in Gefahr. Im Irak und im Libanon ist das in erster
Linie Iran. Durch die Aufstände dort sind iranische Interessen
unmittelbar bedroht wie 2011 in Syrien.
Ajatollah Ali Khamenei, der mächtigste Mann Irans, sagte
über die jüngsten Proteste am Mittwoch auf Twitter: »Die
Menschen haben berechtigte Forderungen, aber sie sollten
wissen, dass ihre Forderungen nur innerhalb der rechtlichen
Strukturen und Rahmenbedingungen ihrer Länder erfüllt
werden können.« Diese Äußerung entbehrt nicht der Ironie,
denn Khamenei, offiziell Irans »Revolutionsführer«, steht
einem Regime vor, das selbst vor 40 Jahren durch eine Revo-
lution an die Macht kam. Doch der Ajatollah will die jüngsten
Aufstände diskreditieren. Sie seien »geschaffen durch das
amerikanische und zionistische Regime, manche westlichen
Länder und das Geld einiger reaktionärer Länder« – mit
Letzterem meint er vor allem den Erzrivalen Saudi-Arabien.
Erstmals werden gerade zwei Nahostländer erschüttert,
in denen kein starker Dauerherrscher regiert. Im Gegen -

teil: Saad Hariri, der zurückgetretene Premierminister des
Libanon, galt als schwach, ebenso wie der vor dem Ende
stehende irakische Premierminister Adil Abd Al-Mahdi.
Doch die Proteste gelten nicht einzelnen Köpfen, sondern
dem ganzen System.
Der Irak und der Libanon sind konfessionelle Klepto -
kratien: In beiden Ländern werden die Parlamente auf Basis
religiöser Quoten und Blöcke gewählt. Jede Entscheidung
erfordert langwierige Verhandlungen zwischen den Blöcken.
Die stärksten Akteure sind im Irak und im Libanon Partei-
und Milizenchef zugleich – und ihre
Milizen sind teils schlagkräftiger als
die jeweilige nationale Armee, auch
dank großzügiger Unterstützung
Irans.
Das iranische Regime unterstützt
im Irak und im Libanon die jeweils
stärksten Machtblöcke. Dazu hat Te-
heran geschickt und geduldig die kom-
plizierten Konstellationen in beiden
Ländern genutzt, um sich selbst gro-
ßen Einfluss zu sichern.
Zwar richten sich die Proteste im
Libanon gegen die gesamte politische
Elite, doch insbesondere die Hisbol-
lah, Irans Partner, hat dabei viel zu
verlieren. Die Hisbollah hat zwar
selbst vor Jahrzehnten als revolutio-
näre Bewegung angefangen, doch
inzwischen hat sich ihre Führung
bequem im libanesischen Gefüge ein-
gerichtet. Hisbollah-Chef Hassan Nas-
rallah spielt auf Zeit. Eine massive
Konfrontation zwischen der Hisbollah
und den Demonstranten scheint un-
wahrscheinlich. Denn der Libanon ist
ein sehr kleines Land, der brutale Bür-
gerkrieg hat tiefe Wunden gerissen.
Und viele Hisbollah-Anhänger de-
monstrieren selbst gerade mit.
Im Irak dagegen wurden bereits mehr als 250 Demons-
tranten erschossen – oft gezielt mit Brust- und Kopfschüssen
durch Scharfschützen. Zudem wurden Hunderte verhaftet.
Das Vorgehen erinnert an die blutige Unterdrückung der
Massenproteste 2009 in Iran. Diese Ähnlichkeit ist wohl nicht
zufällig: Qasem Soleimani, Chef der iranischen Eliteeinheit
für Auslandseinsätze, unterstützt seine Verbündeten in Bag-
dad angeblich. Teile der »Volksmobilmachungseinheiten«,
einer Dachorganisation von Milizen, von denen einige Tehe-
rans Partner sind, sollen für die Morde verantwortlich sein.
Für Teheran ist das Nachbarland Irak, mit dem es eine
fast 1500 Kilometer lange Grenze teilt, von großer Be -
deutung: Das iranische Regime wird nahezu alles dafür
tun, seinen mühsam erworbenen Einfluss zu behalten oder
sogar auszuweiten – und sei es um den Preis eines erneuten
Bürgerkriegs. Raniah Salloum
Mail: [email protected]

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Der nächste Sturm


AnalyseDer Arabische Frühling war an ihnen vorbeigezogen, nun begehren Zehntausende junge Iraker
und Libanesen auf. Sie wollen ein neues System – doch Teheran dürfte dies kaum zulassen.

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019


Ausland

WAEL HAMZEH / EPA-EFE / REX
Demonstranten im Libanon
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