Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

»Schon wieder diese SPIEGEL-Leute«, sagt
Jean-Claude Juncker, dann bittet er an den
Besprechungstisch in seinem Brüsseler
Büro. Darauf liegen Bücher, »Unsere asia-
tische Zukunft« des Politologen Parag
Khanna und »Herbstbunt«, ein Band, in
dem Thomas Gottschalk vom Älterwerden
erzählt. Insgesamt 16-mal hat derSPIEGEL
Juncker in den vergangenen Jahr zehnten
interviewt – als Luxemburger Premier -
minister, Chef der Euro-Gruppe und Prä -
sidenten der EU-Kommission. An diesem
Freitagvormittag geht es um seinen Ab-
schied nach fast 40 Jahren in der Spitzen-
politik. Am 1. Dezember wird Juncker,
64, so ist es derzeit geplant, sein Amt als
Kommissionschef an Ursula von der Leyen
abgeben.


SPIEGEL:Herr Juncker, Ihre Abschieds -
rede vor einigen Tagen im Europaparla-
ment beendeten Sie mit dem Ausruf »Vive
l’Europe«. An Ihrer Begeisterung für
Europa gibt es keinen Zweifel. Gleichzeitig
wächst jedoch in einigen Mitglieds ländern
eine Gegenbewegung zur EU; in Polen
und Ungarn etwa, von Großbritannien
ganz zu schweigen. Warum ist es Ihnen
nicht gelungen, Ihre eigene Begeisterung
auch in diesen Ländern zu entfachen?
Juncker:Die eigentliche Frage ist: Wieso
ist es den anderen nicht gelungen, meine
Begeisterung zu teilen? Ich bin nicht be-
trübt, weil ich merke, dass die Zustim-
mung zu Europa wächst, das haben wir
bei der Europawahl gesehen. Auch der
Brexit hat dazu geführt, dass sich die Men-
schen stärker zu Europa hinwenden. Viele
Bürger spüren: Wenn weitere Länder aus-
treten würden und es zur Zerstückelung
Europas käme, wäre das ein schlechtes
Omen für die Zukunft.
SPIEGEL: In Ihre Amtszeit fällt die
Entscheidung der Briten, die EU zu ver-
lassen, die Gemeinschaft verliert ein
wichtiges Mitglied. Würden Sie sagen,
dass die Briten jemals in der EU zu Hause
waren?
Juncker:Das ist in der Tat die funda -
mentale Frage. Ich bin seit Dezember
1982 im Europageschäft und habe immer
wieder gemerkt, dass die Briten die Lo-
sung ausgaben: Wir sind nur aus wirt-
schaftlichen Gründen in der EU. Wenn es
um die politische Union ging, darum,
näher zusammenzurücken, dann wollten
sie nichts mehr von der EU wissen. Das
war sogar bei meinem Freund Tony Blair
so. Wenn man das über 40 Jahre lang er-
zählt, darf man sich nicht wundern, wenn
die Bürger sich beim Referendum daran
erinnern.
SPIEGEL:Vor dem Referendum im Juni
2016 aber hat die überwiegende Zahl der
Beobachter damit gerechnet, dass die Bri-
ten knapp für den Verbleib in der EU stim-
men würden. Sie auch?

Juncker:Nein. Ich gehörte früh zu denen,
die felsenfest davon überzeugt waren,
dass dieses Referendum schiefgeht. Als der
damalige Premierminister David Came-
ron mir am Rande des G-20-Gipfels 2014
in Brisbane sagte, er wolle wirklich ein
Brexit-Referendum abhalten, habe ich
ihm gesagt: »Du wirst das verlieren.« Mit
dem damaligen britischen EU-Kommissar
Jonathan Hill habe ich gewettet: Ich krie-
ge ein Pfund von dir, wenn die Remainer
verlieren, du kriegst einen Euro, wenn ihr
gewinnt. Heute habe ich das Pfund.
SPIEGEL:Trotzdem haben Sie nicht für
den Verbleib der Briten in der EU ge-
kämpft. Warum?
Juncker:Ich hatte viele Einladungen, aber
Cameron hat deutlich gemacht, dass er
mich nicht gebrauchen könne. Die EU-
Kommission sei in Großbritannien noch
unbeliebter als auf dem Kontinent. Ich
habe daraufhin beschlossen, mich nicht
einzubringen. Heute halte ich das für einen
großen Fehler. Es wurden so viele Lügen
erzählt – auch vom jetzigen Premierminis-
ter Boris Johnson –, dass es eine Gegen-
stimme gebraucht hätte.

SPIEGEL:In Großbritannien machte sich
dieser »dumme Nationalismus« breit, vor
dem Sie in Ihrer Abschiedsrede gewarnt
haben. Befürchten Sie, dass dies auch in
anderen Ländern passieren könnte?
Juncker:Eigentlich wollte ich »dumpfer
Nationalismus« sagen, »dumpf«, nicht
»dumm«. Ich bin über den Nationalismus
besorgter, als ich klingen möchte. Bei der
Europawahl haben die Populisten den ge-
planten Durchmarsch nicht geschafft. In-
sofern bin ich beruhigt, aber nicht end -
gültig. Denn ich beobachte mit Sorge, wie
viele in den klassischen Parteien der
Marschrichtung der Populisten folgen.
Wer den Populisten nachläuft, wird irgend-
wann selbst zum Populisten. Nur, dass die
Bürger das Original wählen.
SPIEGEL:Nationalisten versuchen, die EU
als Feindbild aufzubauen, als bürokrati-
sches Monster, das nationale Identitäten
zerstöre. Haben Sie diesen Vorwürfen Mu-
nition geliefert?
Juncker:Ich habe nie von den Vereinigten
Staaten von Europa geredet, jedenfalls
nicht, seit ich älter als 18 bin. Das hält viele
Brexiteers allerdings nicht davon ab, mich
als ideologische Zielperson zu betrachten.
Man darf den Europäern nicht den fal-

schen Eindruck geben, als befände sich die
Europäische Union auf dem Wege zum
Einheitsstaat. Auch hoch begeisterte Eu-
ropäer sind dagegen, dass wir einen euro-
päischen Schmelztiegel anstreben.
SPIEGEL:Ist das nicht zu zaghaft? Brauchte
die EU nicht zumindest an einigen Stellen
mehr Zentralismus? Wir denken dabei vor
allem an die europäische Außenpolitik. Die
EU kann das Atomabkommen mit Iran
kaum retten und muss der türkischen Mili-
täroffensive in Syrien hilflos zusehen. Von
der »Weltpolitikfähigkeit«, die Sie immer
wieder anmahnen, sind wir weit entfernt.
Juncker:In einigen ausgewählten außen-
politischen Fragen müssten wir künftig mit
qualifizierter Mehrheit entscheiden – bei-
spielsweise wenn es darum geht, die Men-
schenrechtslage in China zu verurteilen.
Da kann es doch nicht sein, dass wir
sprachlos sind, nur weil ein Mitgliedsland
damit nicht einverstanden ist. Wenn es da-
gegen um Militäreinsätze geht, müssen wir
vorsichtiger sein. Ich kann mir nicht vor-
stellen, dass der Deutsche Bundestag eine
europäische Entscheidung mittragen würde,
die deutsche Soldaten in den Einsatz schi-
cken würde – und zwar auch in Zukunft
nicht. Das ist der empfindlichste Punkt in
Deutschland. Und an diesem souveränen
Recht des Bundestags wird nicht gerüttelt.
SPIEGEL:Dringend geboten wäre ein ge-
meinsames Vorgehen der EU auch in der
Klimapolitik. Angesichts des Drucks, den
junge Menschen seit Monaten aufbauen –
hätten Sie den Kampf gegen den Klima-
wandel ins Zentrum Ihrer Amtszeit stellen
müssen?
Juncker:Ich neige wirklich nicht zur
Selbstzufriedenheit, aber wir haben als
EU massiv dazu beigetragen, dass das Pa-
riser Klimaabkommen zustande gekom-
men ist. Wir legten Zwischenziele für das
Jahr 2030 fest und streben Klimaneutrali-
tät bis 2050 an. Aber ich sage auch: Wer
nun so tut, als erforderte all das keine be-
sonderen Anstrengungen, nur weil es jetzt
bei jungen Menschen eine Bewegung in
diese Richtung gibt, der irrt sich gewaltig.
Ich mag sehr, dass junge Menschen sich
engagieren, ich bin aber nicht naiv: Vieles
von dem, was da sentimental vorgetragen
wird, ist in der Realität gar nicht so einfach
zu erreichen. Klassische Industrie muss in
Europa auch künftig ein Zuhause haben.
SPIEGEL:Die USA haben sich vom Kli-
maabkommen verabschiedet, genauso wie
von anderen internationalen Übereinkünf-
ten. Ihnen ist es dennoch gelungen, einen
besonderen Draht zu US-Präsident Do-
nald Trump zu finden und eine Eskalation
im drohenden Handelskrieg fürs Erste zu
verhindern. Wie haben Sie das gemacht?
Juncker:Einer meiner kleinen Tricks
war, dass ich im Gespräch mit Präsident
Trump immer nur US-Statistiken benutzt
habe. Wenn Trump sagte: »Ich glaube dei-

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 91

Ausland

»Wer den Populisten


nachläuft, wird


irgendwann selbst zum


Populisten.«

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