Die Welt - 02.11.2019

(Brent) #1
„SEE“

Schneebedeckte Tannen, Felsen und Täler – ein Idyll, das an
vorindustrielle Zeiten erinnert. Dabei ist es die Zukunft –
und keineswegs idyllisch. Ein Virus hat den Großteil der
Menschheit ausgerottet. Die Verbliebenen sind blind und
leben irgendwo zwischen „The Walking Dead“ und „Game
of Thrones“, zwischen Postapokalypse und Mittelalter. Die
Errungenschaften der Zivilisation sind verloren, die Men-
schen leben in Stämmen, bekriegen sich mit Äxten und
Schwertern, und schon das Sprechen über die Fähigkeit zu
sehen gilt als Häresie.
In diese raue Welt gebiert die Frau des Stammesführers
Baba Voss (ein Fels von einem Mann, sein Inneres so ver-
narbt wie sein Äußeres – Khal Drogo aka Jason Momoa)

Baba Voss (ein Fels von einem Mann, sein Inneres so ver-
narbt wie sein Äußeres – Khal Drogo aka Jason Momoa)

Baba Voss (ein Fels von einem Mann, sein Inneres so ver-

Zwillinge. Doch Baba Voss ist nicht der Vater, sondern ein
„Teufel“ – ein Mann, der sehen kann. Und die Zwillinge
können es auch. Deshalb werden sie zur Zielscheibe der
Hexenjäger, einer Reinkarnation der Inquisition. Es folgt
eine Flucht biblischen Ausmaßes, es gibt Intrigen, Gewalt
und über allem liegt ein Hauch Inzest.
18 Jahre fliegen in den ersten drei Episoden nur so vor-
bei. Viel bleibt davon nicht in Erinnerung, außer dem Är-
ger darüber, dass die Autoren sich nicht die Mühe gemacht
haben, die Blindheit der Menschen kreativ auf die teuer
designte Welt (15 Millionen Dollar pro Episode) oder auf
den Zusehenden zu übertragen.
Vielleicht liegt es daran, dass trotz der großen Zeitspan-
ne wenig passiert und noch weniger erklärt wird. Fragen
bleiben unbeantwortet: Wieso hat die Menschheit mit
dem Augenlicht auch die Fähigkeit zur Nutzung von Tech-
nik verloren, nicht aber ihre Vorliebe für Federschmuck?
Die Hauptcharaktere bleiben eindimensional. Man er-
fährt wenig über ihre Motivation, aber viel über ihr In-
timleben (beten und masturbieren gehören in dieser
Welt zusammen). Und am Ende bleibt der Zuschauer
eins: enttäuscht. LAURA SOPHIA JUNG

„FOR ALL MANKIND“

1969, Fernsehbildschirme auf der ganzen Welt übertragen
die Bilder, wie der erste Mann von der Leiter der Lande-
fähre auf den Mond heruntersteigt und sagt: „Ich gehe die-
sen Schritt für mein Land, mein Volk und die marxistisch-
leninistische Lebensweise.“ An dieser Stelle würde jeder
patriotische Amerikaner schweißgebadet aufwachen.
„For All Mankind“, entwickelt von Ronald D. Moore,
AAAutor von „Outlander“, erzählt eine alternative Realität,utor von „Outlander“, erzählt eine alternative Realität,
in der die Sowjetunion es zuerst schafft, auf dem Mond
zu landen. Was als republikanischer Albtraum beginnt,
entwickelt sich zu einer konservativen Fantasie.
Denn während alle sowieso wissen, dass die Vereinigten
Staaten in Wirklichkeit gewonnen haben, können sie nun
beweisen, dass sie auch sehr gute Verlierer gewesen wären.
Man lässt den „Red Moon“ nicht auf sich sitzen und feuert
eine Apollo-Mission nach der anderen ins All. Es werden
große Worte benutzt, und der persönliche Einsatz ist hoch


  • es geht schließlich um nichts Geringeres als die Ehre des
    Vaterlandes.
    Im Zentrum steht Edward Baldwin. Der Astronaut ist
    mit „Apollo 10“ knapp daran vorbeigeschrammt, der erste
    Mann auf dem Mond zu werden. Zusammen mit seinen
    Kumpels Buzz Aldrin und Neil Armstrong geht er Frust-
    saufen, später Erfolgsaufen. Die Frauen passen derweil auf
    die Kiddies auf, sorgen sich oder schmeißen Gartenpartys,
    auf denen Frank Sinatra gespielt wird. Es ist nicht leicht,
    mit einem Nasa-Astronauten verheiratet zu sein, doch sie
    wissen, Nixon braucht die Jungs an vorderster Front.
    Das andere Amerika der späten 60er-Jahre existiert
    nicht: die Ermordung von Martin Luther King, die Man-
    son-Familie und die Kriegsverbrechen amerikanischer
    Soldaten in Vietnam. Es wird ein Mythos des amerikani-
    schen Traums zelebriert, der außerhalb der mittelständi-
    schen weißen Gesellschaft der USA schon längst tot ist.
    EMELI GLASER


„DICKINSON“

Irgendwann, da war die Dichterin Emily Dickinson Mitte
30, hatte einen Preis für das beste Brot von Pioneer Valley
gewonnen und kaum eine Handvoll Gedichte anonym ver-
öffentlicht, beschloss sie, sich in ihr Zimmer unterm Dach
zurückzuziehen, nur noch im Schreiben zu leben und mit
der Außenwelt höchstens durch eine angelehnte Tür zu
kommunizieren. Wundert einen nicht.
Die Welt, in der ihre puritanischen Eltern ihr fast ver-
zweifelt einen ordentlichen Platz hinter irgendeinem
Herd gesucht hatten, hätte ihr bloß Dinge bieten können,
an denen sie nicht interessiert war. Blieb sie halt die „Ir-
re unterm Dach“, die kleine Dame in Weiß. Das Gespenst
von Amherst, das die Literaturgeschichte der Vereinig-
ten Staaten, wahrscheinlich der Welt veränderte.
Das ist natürlich keine Geschichte. Ein Film ist schließ-
lich kein Biopic-Volkshochschulkurs amerikanische Litera-
tur. Deswegen erzählt sie Alena Smith in „Dickinson“ auch
nicht. Smith nimmt alles, was sich aus der Biografie der ab-
geschlossenen Dichterin an Erzählelementen anbietet.
Und steckt es mit ein paar zeitgenössischen Zusatzstoffen
in einen Thermomixer: Literaturgeschichte, Liebesge-
schichte, Emanzipationsgeschichte, Familienauftstellung,
Fantasy, eine große Menge heutiger Hipsterei, ein paar Li-
ter aktueller Hip-Trip-Hop-Sauce, ein paar aktuelle Histo-
rienfilme, von Sofia Coppola zum Beispiel, dann noch ein
bisschen Jane Austen aus der BBC. Dann hat sie auf den
Knopf gedrückt. Und fertig.
Ist laut, was dabei herauskommt. Ist direkt. Man weiß
nicht so ganz genau, was das soll und will und warum man
hinter Emily, dem Wildfang, weiter und weiter hertrotten
soll. Fühlt sich aber eigentlich ganz gut dabei. ELMAR KREKELER

THE MORNING SHOW

Apple ist sich wirklich für nichts zu schade. Da lässt Cu-
pertino die ganze Welt warten, auf dass endlich die ersten
Serien über den neuen Streaming-Dienst flimmern, und
dann das: Product Placement. Drei Uhr morgens, Zeit auf-
zustehen, das iPhone klingelt. In einem anderen Bett zur
selben Zeit, das iPhone klingelt. In einem dritten Bett, was
klingelt? Kein Samsung, kein Huawei, kein sonstiger We-
cker mit Internetanschluss. Und wer ist dran? Tim Cook
wäre wohl allen dreien lieber gewesen, aber hier endet die
Werbesendung.
Am Telefon: Bad news, really bad news. Wir stehen mit
dem Producer der „Morning Show“ auf, der die schlimmen
Nachrichten verbreiten muss, mit der Moderatorin, die den
schlimmsten Tag ihres Lebens haben wird, und mit dem
Moderator, dessen Leben sich in einen einzigen schlimms-
ten Tag verwandeln soll. Der Plot in Kürze: Me Too.
Seit 15 Jahren sind Alex Levy und Mitch Kessler ein
Team vor der Kamera. Sie sind Anchor Woman und An-
chor Man, der erfolgreichen Morgensendung eines Nach-
richtensenders, aufrichtig, integer, smart. An diesem
Morgen aber leakt die Konkurrenz, dass Mitch sich sexu-
ellen Fehlverhaltens schuldig gemacht haben soll. Er wird
sofort gefeuert. Alex muss allein „on air“ und merkt
schnell, dass der Ausfall ihres TV-Partners auch sie selbst
bedroht. Und die ganze große Fernsehfamilie wird in ei-
nen toxischen Strudel geraten, in dem Me Too nur ein
Symptom unter vielen ist.
„Morning Show“ ist die vielleicht aktuellste Serie zur-
zeit, weil sie von der Suche nach Wahrheit handelt, in ei-
nem System, in dem viele Wahrheiten parallel existieren.
Und systemrelevant sind die, welche die Wahrheit verbrei-
ten können. Und das digitale Medium haben, um diese Ver-
breitung weltweit zu steuern. „Morning Show“ ist ein gro-
ßer Wurf, mit Jennifer Aniston, Reese Witherspoon und
Steve Carell großartig besetzt, aber das Product Place-
ment des Techgiganten im Hintergrund sollte man sicher-
heitshalber im Auge behalten. MARCUS WOELLER

SONY PICTURES TELEVISION/ APPLE

VVVier ier SERIEN. Nur ein Halleluja


Mit Apple zieht ein neuer Gigant in den Krieg um Streaming-Kunden und Serienjunkies. Zum Start gehen gleich vier Eigenproduktionen ins Rennen –


„See“, „For all Mankind“, „The Morning Show“ und „Dickinson“. Ein erster Warentest


AAPPLE

APPLE

WWWenn die Amerikaner nurenn die Amerikaner nur
die zweiten auf dem Mond
gewesen wären: „For all
Mankind“

Es gibt keine Wahrheit mehr,
nur noch Wahrheiten: Jennifer
Aniston and Reese Witherspoon
in „The Morning Show“

UUUnter Blinden ist dernter Blinden ist der
Sehende König:
Jason Momoa in „See“

Das Dickinson-Dreieck:
Adrian Blake Enscoe (Austin),
Hailee Steinfeld (Emily) und
Anna Baryshnikov (Sue)

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02.11.19 Samstag, 2. November 2019DWBE-HP


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Eine Ausstellung in Leipzig zum


Islam in unseren Köpfen Seite 25


„Re-Orient“


FEUILLETON


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