Die Welt - 02.11.2019

(Brent) #1

W


arum Männer eher Auto-
ren werden als Frauen –
das war eine Frage, die die
amerikanische Literatur-
wissenschaftlerin Barbara
Johnson beschäftigte. Der Grund, fand sie, lag
nicht in der männlichen Kodierung des Genies.
Barbara Johnson sah in der Mutter des Rätsels
tiefere Lösung. Der Autor schafft sich, gebiert
sich durch sein Werk selbst. Er macht sich sei-
nen, einen Namen. Die Geburt durch die Mut-
ter ersetzt er durch die Selbstgeburt. Die Auto-
rin dagegen ist nicht nur geboren, sondern po-
tenziell selbst Mutter. Mit ihrer Mutter würde
sie in der Selbstgeburt sich selbst, ihr poten-
zielles Muttersein, auslöschen. Ihre Selbstge-
burt wäre ein unheimlich Ungeheuerliches.
Dieses Dilemma bestimmt zwei schmerzhafte
Romane, die sich mit dem Schmerzhaftesten
befassen: dem Tod der Mutter.

VON BARBARA VINKEN

Annie Ernaux und Hélène Cixous werden
in „Eine Frau“ und „Meine Homère ist tot“
zur Mutter ihrer Mütter, die für ihre Tochter
zu einem kleinen Mädchen werden. Die Mut-

ter im Schreiben überleben zu lassen, die
Frau, welche die Mutter war, neu zu schrei-
ben ist für beide, Ernaux und Cixous, die ein-
zige Möglichkeit, weiterzuleben. Ihr Leben
wird für lange Zeit das Schreiben des Todes
derjenigen, der sie ihr Leben verdanken.
Hélène Cixous schreibt ein Heft, das die
AAAgonie ihrer Mutter, die sich über fast viergonie ihrer Mutter, die sich über fast vier
Jahre hinzieht, wie ein Tagebuch begleitet. Da-
bei erzählt sie die großen mythischen Epen,
von der Vertreibung aus dem Paradies des Al-
ten Testamentes über die „Ilias“ und die
„Odyssee“, Vergils „Aeneis“Odyssee“, Vergils „Aeneis“Odyssee“, Vergils „Aeneis“,,die „Metamor-
phosen“, durch die Geschichte ihrer Mutter
hindurch neu. Wie ihre Mutter als Hebamme
viele Kinder zur Welt gebracht hat, so gebiert
ihre Tochter sie in die Weltliteratur hinein.
Auf literarischem Terrain spielt auch der
nach dem Tod der Mutter entstandene Text
von Annie Ernaux. Mit dem ersten, unsenti-
mentalen, rein faktischen Satz schreibt sie
den Tod ihrer Mutter in den Kanon der fran-
zösischen Literatur ein: „Meine Mutter ist
am Montag, den 7. April im Altersheim ge-
storben“ ist an den berühmten Satz aus Ca-
mus’ „Der Fremde“ angelehnt: „Heute ist
Mama gestorben. Oder vielleicht gestern, ich
weiß nicht.“ Der zweite, vielleicht wichtigste
Intertext wird von Ernaux genannt: „Acht
Tage vor Simone de Beauvoir“ ist ihre Mut-
ter gestorben. Gerahmt wird Ernauxs Text
von zwei existenzialistischen Autoren, die
den Tod der Mutter beschreiben, Beauvoir
den Tod ihrer Mutter. Die Beziehung zu bei-
den Autoren, vielleicht ihren geistigen El-
tern, ist Palimpsest-artig komplex.
Anders als Simone de Beauvoir ist Annie
Ernaux keine „Tochter aus gutem Hause“.
Nicht gegen die bürgerliche Rolle der Mutter
als Ehefrau hat sie wie Beauvoir rebelliert
und sich dadurch von ihrer Mutter entfrem-
det. Ernauxs Mutter, aus ländlich proletari-
schem Milieu, hat sich als Ladenbesitzerin
ins Kleinbürgertum heraufarbeitet. In der
Ehe war die Mutter die Stärkere; sie war „das
Gesetz“. Beide, Tochter und Vater, waren in
die Mutter verliebt. Die Tochter hat sich
nicht gegen die Mutter aufgelehnt, sie ist
dem Begehren der Mutter nach sozialem Auf-
stieg durch Schule und Literatur gefolgt.
Nicht in der Rebellion gegen die Mutter, son-
dern in der Erfüllung des mütterlichen Be-
gehrens hat sie sich von der Mutter getrennt,
sie als Vorbild und Modell hinter sich gelas-
sen, als ungebildet erkannt. Das Werden, das
die Mutter für sie erträumt hat, hat sie aus
deren Welt gerissen. Deshalb ist der Tod von
Ernauxs Mutter in keiner Hinsicht „Une
mort très douce“. Während Beauvoir das Re-
gime der männlichen Ärzte anklagen kann,
das Leben ihrer Mutter willkürlich zu verlän-
gern und sie nicht sterben zu lassen, wird Er-
nauxs Mutter dement, verliert sie nicht nur
das Leben, sondern ihren Kopf. Spricht dage-
gen Beauvoir am Ende mit dem Mund, den
Worten ihrer Mutter, verschmilzt im Traum
der Tochter am Ende ihr Geschlecht und das
Geschlecht der Mutter – ein Geschlecht, das
an ein Medusenhaupt erinnert.
Das Leben der Mutter Ernaux spielt sich im
Literarischen ab. Diese schöne Blonde mit den
grauen Augen, üppigem Busen und Hüften hat
meistens in Yvetot gelebt. Yvetot ist die Ge-
gend, in der die berühmteste Romanfigur der
fffranzösischen Literatur lebt und stirbt, Ma-ranzösischen Literatur lebt und stirbt, Ma-
dame Bovary; ihr Hochzeitskuchen kam von
einem Patissier aus Yvetot. Eine ähnlich ro-
manartige Figur, romanesk, ist auch die Mut-
ter von Annie Ernaux. Diese erzählt ihr Leben
und vor allen Dingen den Krieg, den sie erlebt
hat, als großen Abenteuerroman. Ihr Lieb-
lingsroman ist der kitschige Bestseller „Vom

Winde verweht“. Das Leben ihrer Tochter sah
sie wohl als einen Roman à la Balzac: Aus der
Provinz kommt die Tochter in das intellektu-
elle Paris, aus dem Arbeiter- und Kleinbürger-
tum steigt sie in die Bourgeoisie auf.
Nach dem Tod der Mutter kann die Toch-
ter nur leben, indem sie für ihre Mutter tut,
was diese für sie getan hat: sie zur Welt, zu
Papier zu bringen. Hinter der Mutter möchte
die Tochter die Frau, die diese Mutter war, in
Worten gebären. Die Frau, die so vor unseren
Augen entsteht, hat nichts Romanhaftes, son-
dern etwas Lapidares, Unsentimentales. Und
wie die Mutter ihre Tochter unter Schmerzen
geboren hatte, so gebar die Tochter die Frau,
die ihre Mutter war, unter Schmerzen und
setzt ihr so ein Denkmal. Obwohl sie sich auf
literarischem Terrain bewegt, bleibe sie,
schreibt sie, unterhalb der Literatur. Weil sie
dieser der Mutter alles Literarische, Roman-
hafte abstreift, entwirft die Tochter eine gro-
ße literarische Gestalt. Sie befreit ihre Mut-
ter zur Frau, indem sie ihre Unkultiviertheit
kultiviert, sie in ihrer ganzen oft gewalttäti-
gen Sinnlichkeit erstehen lässt.
Annie Ernauxs Geburt verdankt sich ei-
nem Tod: Drei Tage vor Ostern starb ihre

große Schwester, und die Ernauxs wollten
nur ein Kind, damit es bessere Chancen hät-
te. In die Kultur, in die Literatur führt die
Mutter Ernaux ihre Tochter ein; sie schickt
sie nicht in die Fabrik, in die sie selbst ge-
schickt wurde, sondern aufs Gymnasium, da-
mit sie später als Lehrerin Literatur unter-
richte. Aber die Geburt der Tochter in die Li-
teratur, die sie schließlich Autorin werden
lässt, führt gleichzeitig zu Abnabelung und
Trennung der Tochter, für die auf diese Wei-
se die Mutter zu einer anderen wird. Indem
die Mutter der Tochter all das gibt, was sie
selbst nicht bekommen hat, macht sie sie zu
einer Fremden. Die Mutter sieht in dieser ih-
rer Tochter, die sie doch selbst zu einer
glücklichen und gebildeten Frau machen
wollte und deren Bemühen von Erfolg ge-
krönt ist, manchmal nur den Klassenfeind.
Und die Tochter sieht in dieser ihrer Mutter
kein Vorbild mehr, sie verliert jede Idealität.
Im Schreiben erkennt die Tochter den Ab-
grund, der Begehren nach Bildung vom Ge-
bildetsein trennt. Am Ende aber sieht sich
die Tochter nicht mehr anders als ihre Mut-
ter, sondern wie ihre Mutter: Vor einer Fern-
sehserie, die abgründig „L’école des fans“ –
„L’école des femmes“ war Molieres Satire auf
gebildete Frauen – heißt, wird sie vielleicht
auch vor dem eigenen Tod sitzen und nichts
tun, als eine Serviette zu falten, während sie
auf das Essen wartet, kopflos wie ihre Mut-
ter. Im Angesicht des Todes werden sie,
denkt die Tochter, so sehr sie im gesell-
schaftlichen Leben getrennt waren, gleich.
Anders Hélène Cixous. Hier befinden wir
uns nicht mehr auf dem Terrain des „realisti-
schen“ Romans, der mit Flaubert die frohe
Botschaft widerruft – keine Auferstehung zu
Ostern –, sondern im Epos. Mit Eve ist man
gleich bei Adam und Eva und mit Hélène im
Trojanischen Krieg. „Homère“ kann man,
muss man hier als Anrede „Oh mère“ lesen,
und damit ist der hohe, klagend preisende
Ton der Ode gesetzt, des antiken Epos einge-
denk. Aber anders als die „Ilias“ endet der
Kampf gegen den Tod mit keinem Sieg, son-
dern mit einer Niederlage, und anders als die
„Odyssee“ endet die Geschichte dieser Mut-
ter, die als deutsche Jüdin aus Osnabrück
über Algerien nach Frankreich gekommen
und fast hundertjährig in Arcachon gestor-
ben ist, nicht mit Heimkehr, sondern mit
dem Tod als epischer Irrfahrt. Für Hélène,
die Tochter, wie Annie Ernaux selbst Mutter,
war und ist diese Mutter ihr „Lebens-
mensch“. Nichts steht, stand je, im Unter-
schied zu Ernaux, zwischen ihnen als der
Tod. Dafür aber ist eine neue Sprache gebo-
ren worden, eine Sprache, die wortgewaltig
an die Stelle der Sprachlosigkeit der Mutter
in ihrer langen, grauenvollen Agonie tritt.
Cixous übersetzt ihre Agonie im Angesicht
ihrer Mutter wortgewaltig. Glanzvoll ersteht
das Trostlose aller Ereignisse in der unver-
gleichlichen Liebe der Tochter, die zur Mut-
ter ihrer Mutter wird.
Zwei große Autorinnen, Cixous wie Er-
naux, haben im Schreiben des Tods der Müt-
ter keinen Matrizid vollbracht, um Autorin
zu werden. Annie Ernaux findet sich als „Ei-
ne Frau“ in ihrer Mutter, und damit am Ur-
sprung der Welt, wieder. Hélène Cixous
schreibt „Homère“ mit ihrer Mutter zusam-
men neu. Sie erzählt in und durch den Tod
ihrer Mutter die Weltliteratur neu.

Annie Ernaux: Eine Frau.A. d. Französischen
von Sonja Finck. Suhrkamp, 88 S., 18 €.
Hélène Cixous: Meine Homère ist tot. A. d.
Französischen von Claudia Simma. Passa-
GETTY IMAGESgen, 208 S., 24, 90 €.

/ ROBERTO RICCIUTI

Muttermorphose


Die französischen


Schriftstellerinnen


Annie Ernaux und


Hélène Cixous haben


Bücher über ihre


sterbenden Mütter


geschrieben – und


brechen mit einer


jahrhundertealten


Tradition


Hélène Cixous, geboren 1937 (oben),
Annie Ernaux, 1940 geboren (unten)

AFP VIA GETTY IMAGES

/ FRED DUFOUR

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02.11.19 Samstag, 2. November 2019DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,2.NOVEMBER2019 DIE LITERARISCHE WELT 29


mit de Gaulle die Champs-Élysées hinun-
terschritt, beschrieb er seinen Eindruck mit
fffast gaullistischem Pathos: „Ich hatte dasast gaullistischem Pathos: „Ich hatte das
Empfinden, bei einer Wiederauferstehung
zugegen zu sein.“ Die Querelen zwischen de
Gaulle, Churchill und Roosevelt, die man-
ches Mal einer Farce ähnelten, verfolgt Jo-
hannes Willms beinahe in ihrem tagtägli-
chen Ablauf und kommentiert sie manch-
mal amüsiert. Aber es war dieser lange,
mühsam gewonnene Kampf um Anerken-
nung für die eigene Person und für die
„Grandeur“ Frankreichs, die de Gaulle ein
Reservoir an Energie und ein noch einmal
gesteigertes Selbstbewusstsein verliehen,
die es ihm erlaubten, Frankreich in einer
WWWeise politisch zu formen, die bis heuteeise politisch zu formen, die bis heute
wirksam ist. Mit ausgeprägtem Gefühl für
Nuancen zeichnet Johannes Willms den
Spannungsbogen der Ereignisse nach, wel-
che de Gaulles Karriere von nun an prägten:
der Zusammenschluss der Résistance unter
seiner Führung, die kurze Zeit an der Spitze
der provisorischen Regierung nach Kriegs-
ende, die lange, strategisch sorgsam ge-
nutzte Zeit des Wartens auf die künftige
Präsidentschaft, die Beendigung des Alge-
rienkrieges, die Gründung der V. Republik,
die „Erbfreundschaft“ mit Deutschland und
den Aufbau eines geeinten Europa.
Zum Erbe de Gaulles gehören Institutio-
nen, Inszenierungen und Illusionen. Mit
dem institutionellen Rahmen, den de Gaulle
der V. Republik gab, gelang es, dem „Regime
der Parteien“ ein Ende zu machen, das die
IV. Republik in der Instabilität hatte erstar-
ren lassen. Mit unverhohlen bonapartisti-
schem Panache begründete de Gaulle eine
Präsidialmonarchie, in der ein mit fast un-
beschränkter Autorität ausgestatteter
„Chef“ auf dem Wege des Plebiszits einzig
dem Volk verantwortlich ist, das ihn direkt
gewählt hat (und es gehört zu den Verdiens-
ten von Willms, das er der oft vernachläs-
sigten Sozialpolitik de Gaulles Raum gibt).
De Gaulle war auch ein Regisseur der Poli-
tik. Willms, der in diesem Zusammenhang
auch von „Liturgie“ spricht, schildert en
détail, wie präzise die Pressekonferenzen
geplant wurden, bei denen die Fragen der
Journalisten vorab dem Büro des Präsiden-
ten eingereicht werden mussten. De Gaulle
hatte die Antworten auswendig gelernt, wie
auch viele seiner Reden, denen er spontane
Wirkung verleihen konnte. Wie Winston
Churchill hätte de Gaulle sagen können:
„Die meiste Zeit meines Lebens habe ich da-
mit zugebracht, improvisierte Reden vorzu-
bereiten.“ Die Inszenierung der Politik ist
ein notwendiges Element der Präsidialmo-
narchie: Mitterand nutzte sie ebenso gerne
wie heutzutage Emmanuel Macron.
De Gaulles berühmte, seine Politik leiten-
de „certaine idée de la France“, von der er in
seinen Memoiren sprach, beruhte auf der
Überzeugung, Frankreich könne seiner Be-
stimmung nur gerecht werden, wenn es
nach Größe strebe und sich dadurch vor an-
deren auszeichne. Dies galt nicht zuletzt für
das deutsch-französische Verhältnis, das de
Gaulle zufolge von Asymmetrie geprägt
werden musste. Das Festhalten an der Idee
der „Grandeur“ führte aber auch zu Selbst-
täuschungen: Für de Gaulle hatten nicht die
Alliierten nach der Landung in der Norman-
die Frankreich, sondern Frankreich selbst
hatte sich 1944 befreit und war damit wieder
zur Weltmacht geworden.
WWWann immer Johannes Willms von deann immer Johannes Willms von de
Gaulles Idee der „Grandeur“ spricht, wird
sein Ton dezent ironisch. Weniger dezent
sind in der deutschen Publizistik häufig an-
zutreffende Kommentare, die weit gesteck-
te Ambitionen der französischen Politik mit
Hinweisen auf die Überspanntheit der
„Grande Nation“ kommentieren – ein Aus-
druck, den in Frankreich niemand verwen-
det. Dabei bleibt bemerkenswert, zu welch
politisch mutigen, moralisch eindrucksvol-
len Gesten die französische Politik trotz
mancher rhetorischer Exzesse und inszena-
torischer Übertreibungen fähig ist. Oft wird
dabei die Erinnerung an Charles de Gaulle
wach. Ein Beispiel war die Rede im Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen, mit der am
1 4. Februar 2003 der französische Außenmi-
nister Dominique de Villepin auf die Bemer-
kung Donald Rumsfelds antwortete, der die
kriegsunwilligen Länder Frankreich und
Deutschland als Repräsentanten des „Alten
Europa“ verspottet hatte: „In diesem Tem-
pel der Vereinten Nationen sind wir die Hü-
ter eines Ideals ... wir müssen einer friedli-
chen Abrüstung die höchste Priorität ein-
räumen. Und es ist ein altes Land, Frank-
reich, eines alten Kontinents wie dem mei-
nen, Europa, das Ihnen dies heute sagt.“
Nach seiner Rede erhielt der französische
AAAußenminister, unerhört im Sicherheitsrat,ußenminister, unerhört im Sicherheitsrat,
großen Beifall. Es war, wie Dominique de
Villepin sich selbst nennt, die Rede eines
„unbeirrbaren Gaullisten“.

Johannes Willms: Der General.
Charles de Gaulle und sein Jahrhundert.
C.H. Beck, 640 S., 32 €.

E


inSkandal! In der 2017 von einer
Gruppe bekannter Historiker veröf-
fffentlichten „Histoire Mondiale de laentlichten „Histoire Mondiale de la
France“ fehlte ein Schlüsseldatum der fran-
zösischen Geschichte: der 18. Juni 1940. An
diesem Tag hatte ein französischer Briga-
degeneral, „ein verzweifelter Schiffbrüchi-
ger an den Gestaden Englands“ über die
Mikrofone der Londoner BBC einen Appell
an die französische Bevölkerung gerichtet,
den Kampf gegen die deutschen Truppen
fffortzusetzen, vor denen die Regierung ka-ortzusetzen, vor denen die Regierung ka-
pituliert hatte: „Ist das letzte Wort gespro-
chen? Muss alle Hoffnung schwinden? Ist
die Niederlage endgültig? Nein! ... Ich, Ge-
neral de Gaulle, augenblicklich in London,
fffordere die französischen Offiziere undordere die französischen Offiziere und
Soldaten auf, die sich auf britischem Boden
befinden oder dorthin gelangen, mit mir in
VVVerbindung zu treten. Was auch immer ge-erbindung zu treten. Was auch immer ge-
schieht, die Flamme des französischen Wi-
derstands soll nicht erlöschen und wird
nicht erlöschen.“

VON WOLF LEPENIES

Der „Appell des 18. Juni“ bezeichnet die
Geburtsstunde des Gaullismus, es ist das
entscheidende Datum in der Lebensge-
schichte eines Mannes, der sich früh dazu
berufen fühlte, die Geschicke Frankreichs
zu bestimmen. Johannes Willms hat dem
„General“ eine beeindruckende, von skep-
tischer Bewunderung geprägte Biografie
gewidmet: Willms zeichnet den Lebensweg
eines Mannes nach, den seine unbeirrt ho-
he Selbsteinschätzung und sein Glaube an
die Größe Frankreichs, seine „Grandeur“,
politikmächtig werden ließen. De Gaulle
hat dem besiegten, von seinen Führern in
die Kollaboration gepressten Land die
WWWürde wiedergegeben. Dank de Gaulleürde wiedergegeben. Dank de Gaulle
durfte Frankreich nach dem Zweiten Welt-
krieg glauben, wieder zu den Weltmächten
zu gehören, die Aussöhnung mit Deutsch-
land führte zur europäischen Einigung, die
aktuelle, die V. Republik ist das Werk Char-
les de Gaulles.
Der Leutnant de Gaulle hatte im Ersten
WWWeltkrieg mit Bravour gekämpft, war voreltkrieg mit Bravour gekämpft, war vor
VVVerdun in Gefangenschaft geraten und hat-erdun in Gefangenschaft geraten und hat-
te mehr als zwei Jahre in deutschen Lagern
verbracht. Seine militärische Karriere ge-
staltete de Gaulle als Selbstbildungspro-
zess: Er wollte Führungsaufgaben wahr-
nehmen, „Chef“ werden („Der Chef ist der-
jenige, der nicht redet, er hat etwas nicht
Fassbares an sich, er ist ein Mysterium“).
Als de Gaulle 1940 zum Staatssekretär im
Kriegsministerium berufen wurde, war
sein Selbstbewusstsein voll ausgebildet. An
den Ministerpräsidenten Reynaud schrieb
er, die französische Niederlage rühre da-
her, „dass der Feind Konzeptionen verwen-
det, die meine sind, wie auch von der Wei-
gerung unseres Oberkommandos, densel-
ben Überlegungen zu folgen“. Reynaud sol-
le ihm, einem „neuen Mann“, Verantwor-
tung übertragen und ihn zum Befehlshaber
eines Panzerkorps machen: „Nur ich bin
befähigt, ein solches Korps zu kommandie-
ren, das unsere letzte Rettung sein wird.“
Als es zur Kapitulation kam, stand de
Gaulles Entschluss fest: Er würde von Eng-
land aus weiterkämpfen und die Franzosen
überzeugen, ihm als ihrem legitimen An-
ffführer zu folgen. Winston Churchill sahührer zu folgen. Winston Churchill sah
sich zu seiner Verblüffung in Charles de
Gaulle keinem Bittsteller gegenüber, son-
dern einem „Chef“, der Forderungen an-
meldete. Er, de Gaulle, wolle als alleiniger
Repräsentant der „France libre“ anerkannt
und mit Respekt und angemessenem Pro-
tokoll behandelt werden. Schon bald klagte
der britische Premier, das schwerste Kreuz,
das er je zu tragen hatte, sei das Lothringer
Kreuz gewesen, das Symbol der Gaullisten.
Den amerikanischen Präsidenten irritierte
das messianische Sendungsbewusstsein de
Gaulles; als dieser sich selbst als eine Mi-
schung von Jeanne d’Arc und Georges Cle-
menceau bezeichnete, war sich Roosevelt
sicher: „Ich glaube, er hat einen leichten
VVVogel.“ Es kam so weit, dass Pläne ge-ogel.“ Es kam so weit, dass Pläne ge-
schmiedet wurden, den „eingebildeten und
übelgesinnten“ Franzosen auszuschalten,
um die Kriegsziele der Alliierten nicht zu
gefährden. De Gaulle wiederum verdäch-
tigte das „perfide Albion“, Frankreich wo
immer möglich schaden zu wollen: „Sie ha-
ben Jeanne d’Arc schon einmal verbrannt,
sie wollen es wieder tun.“ Sich gegen Eng-
land und Amerika zu behaupten, klagte er,
war schwerer als gegen die Deutschen zu
kämpfen.
Mit den zunehmenden militärischen Er-
fffolgen wurde aus Streit Verstehen undolgen wurde aus Streit Verstehen und
Freundschaft. Im Juli 1944 wurde de Gaulles
Amerikareise zu einem Triumph. Wie er es
von Eisenhower verlangt hatte, zogen als
erste Truppen die Panzer des französischen
Generals Leclerc in das befreite Paris ein.
Zum „Défilé de la Libération“ am 26. Au-
gust kamen eine Million Menschen und als
im November Churchill Paris besuchte und
zur Begeisterung der Menge gemeinsam

Kämpfer für Grandeur


„Muss alle Hoffnung schwinden? Nein!“


Johannes Willms feiert Charles de Gaulle


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