Die Welt - 02.11.2019

(Brent) #1

Der Westen sollte nicht


länger versuchen, der


ganzen Welt seine


Werte aufzuzwingen,


behaupten Historiker.


Doch wann hat er


das je getan?


Wovon


wir reden,


wenn wir vom


Westen reden


30


02.11.19 Samstag, 2. November 2019DWBE-HP


  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DWBE-HP

DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
02.11.1902.11.1902.11.19/1/1/1/1/LW4/LW4 DSCHWENK 5% 25% 50% 75% 95%

30 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,2.NOVEMBER2019


ibt es „den Westen“ noch? Und war er über-
haupt jemals mehr als ein ideelles Konstrukt,
das der weltanschaulichen Aufrüstung im
Kalten Krieg diente? Vor dem Hintergrund
wachsender Gegensätze zwischen den trans-
atlantischen Partnern und der Verschiebung
des weltpolitischen Kräfteverhältnisses zu-
gunsten autoritärer Mächte wie China und
Russland werden die Stimmen lauter, die
diese Fragen verneinen. Dies umso mehr, als
die Werte und Normen, die den Westen als
eine politische Einheit definieren, durch den
Aufstieg von Kräften der „illiberalen Demo-
kratie“ auch von innen her massiv infrage ge-
stellt werden.

VON RICHARD HERZINGER

Angesichts der Tendenz zum Rückzug des
Westens aus weltpolitischen Schlüsselstel-
lungen artikuliert sich ein „Realismus“, der
sich als illusionslos nüchtern ausgibt und das
Festhalten an dem westlichen Anspruch, in-
ternationalem Recht und elementaren Men-
schenrechten globale Geltung zu verschaf-
fen, als weltfremde Träumerei abzutun ver-fen, als weltfremde Träumerei abzutun ver-

sucht. So sieht der Politikwissenschaftler
Herfried Münkler in seinem jüngsten, ge-
meinsam mit seiner Frau Marina verfassten
Buch („Abschied vom Abstieg. Eine Agenda
für Deutschland“, Rowohlt, 512 S., 24 €) eine
„Weltordnung ohne Hüter“ heraufziehen,
die sich aus fünf Machtzentren zusammen-
setzen werde – wobei dafür einstweilen nur
die USA, China und Russland als Anwärter
feststünden, während Mächte wie die EU
oder Indien in diese Rolle noch hineinwach-
sen müssten. Mit dieser neuen Weltordnung
sieht Münkler zugleich die „Epoche der Wer-
te und Normen mit universellem Geltungs-
anspruch zu Ende gehen“. Universelle Werte
würden allenfalls noch „als kleinster gemein-
samer Nenner zwischen den Machtzentren“
eine Rolle spielen.
Faktisch läuft dieser „Realismus“ darauf
hinaus, Mächte wie China und Russland in-
nerhalb der von ihnen mit Gewalt bean-
spruchten Einflusszonen nach Belieben ge-
währen zu lassen. Denn, so erläuterte
Münkler kürzlich im Interview mit dieser
Zeitung: „Wenn es keinen Hüter gibt, der
üübermächtig ist – also eine Kombinationbermächtig ist – also eine Kombination
aus UN und USA –, dann werden Räume
entstehen, die ihre eigenen Ordnungen und
Normstrukturen haben.“ Opfer dieser neu-
en „Ordnung“ müssen demnach eben selbst
sehen, wie sie mit ihren Peinigern überein-
kommen. Da wir etwa die Krim „der Atom-
macht Russland nicht wieder abnehmen“
könnten, seien wir „wohl darauf angewie-
sen, dass die Ukraine und Russland einen
Modus Vivendi finden“.
Welche verheerenden Rückwirkungen ei-
ne solche Preisgabe internationalen Rechts
in großen Teilen der Welt auf den Fortbe-
stand der westlichen Demokratien selbst ha-
ben würde, wird aus derartigen „realisti-
schen“ Szenarien ausgeblendet. Zwei andere
Autoren stellen sich solchen Tendenzen zur
Selbstaufgabe des Westens entschieden ent-
gegen. Der Historiker Heinrich August
Winkler hat seiner vierbändigen „Geschichte
des Westens“ eine geraffte – freilich immer
noch fast 1000 Seiten starke – Version in ei-
nem Band hinzugefügt („Werte und Mächte.
Eine Geschichte der westlichen Welt“, C.H.
Beck, 968 S., 38 €). Seine Abhandlung,
schreibt Winkler, setze seinen Gegenstand
im Gegensatz zur Praxis mancher seiner Kol-

legen „nicht in Anführungszeichen, weil sie
im Westen mehr sieht als das Konstrukt, das
er auchwar“.
Winklers großes historisches Werk zeich-
net die Genese der Werte und Prinzipien, die
heute die Grundlage der liberalen Demokra-
tie bilden, seit der Antike nach. Dass der
Westen dabei immer wieder eklatant gegen
seine eigenen Vorgaben verstoßen hat, be-
streitet Winkler nicht. Gegen seine Kritiker,
die ihm diesen Umstand vorhalten, sichert er
sich ab, indem er diese Defizite sogar beson-
ders betont und den Westen ein „unvollen-
detes Projekt“ nennt. Unterm Strich aber
bleibt es für ihn dabei: „Die westlichen Wer-
te, die in ihrer Summe das normative Projekt
des Westens ausmachen, sind ein weltge-
schichtlich einzigartiges Ensemble von Er-
rungenschaften. Sie bilden den Maßstab, an
dem westliche Demokratien sich messen las-
sen müssen, und können sich deshalb auch
als Korrektiv zur politischen Praxis des Wes-
tens bewähren.“
Thomas Kleine-Brockhoff stemmt sich in
seinem Buch „Die Welt braucht den Wes-
ten. Neustart für eine liberale Ordnung“en. Neustart für eine liberale Ordnung“
(Edition Körber, 180 S., 18 €) gegen einen
Fatalismus, der angesichts der Krise des
WWWestens das Projekt einer „liberalen Welt-estens das Projekt einer „liberalen Welt-
ordnung“ vorauseilend verloren geben will.
„Es kann nicht das Ziel sein“, schreibt er,
„im Namen eines nostalgischen Nationalis-
mus Wegschauen zur Politik zu erklären,
nur weil die richtige Politik zum Hinschau-
en noch nicht gefunden ist.“ Er sieht in die-
ser Krise vielmehr die Chance für einem
„Neustart“ der liberalen Ordnung. Weil
kein anderer Akteur bereitstehe, den „zivi-
lisatorischen Fortschritt des Menschen-
rechtsschutzes zu sichern und praktikabel
zu machen“, werde der Westen von der
WWWelt nach wie vor gebraucht.elt nach wie vor gebraucht.
Doch machen Winkler und Kleine-Brock-
hoff bei ihrer Verteidigung normativer An-
sprüche an westliche Politik dem antiuniver-
salistischen „Realismus“ bedenkliche argu-
mentative Zugeständnisse. Beide halten es
zwar für falsch, die Möglichkeit aktiver Men-
schenrechtspolitik und humanitärer Inter-
ventionen gänzlich auszuschließen. Doch
plädieren sie dabei für eine strikte Selbstbe-
schränkung. Ein „robuster Liberalismus“ soll
laut Kleine-Brockhoff den Westen neu be-
gründen, „indem er sehr wohl auf den Prinzi-gründen, „indem er sehr wohl auf den Prinzi-
pien der Freiheitlichkeit besteht, zugleich
aber die liberale Überdehnung beendet und
den demokratischen Bekehrungseifer ein-
hegt“. Und Winkler konstatiert: „So wenig
der Westen nichtwestliche Gesellschaften
davon abhalten kann, seine Fehler zu wieder-
holen, so wenig kann er seine Werte Anderen
aufzwingen.“
Begriffe wie „Überdehnung“ und „Bekeh-
rungseifer“ suggerieren, der Westen sei ein
imperiales Gebilde oder eine Art Erwe-
ckungsreligion. Kann denn aber überhaupt
die Rede davon sein, dass der moderne, post-
koloniale Westen seine Werte irgendjeman-
dem „aufzwingen“ will oder dies jemals woll-
te? Richtig ist, dass sich nach dem Ende des
Kalten Krieges kurzzeitig eine allzu optimis-
tische Erwartung einstellte, Demokratie und
friedliche Konfliktlösung würden sich nun-
mehr weltweit ausbreiten. Doch führte dies
keineswegs zu einem gesteigerten Eifer, die
westlichen Werte auf globaler Ebene durch-
zusetzen. Den genozidalen Massakern auf
dem Balkan sah man Anfang der 90er-Jahre
lange Zeit tatenlos zu. Zur Intervention kam
es erst, als mit der Einnahme der UN-
Schutzzone Srebrenica und den darauffol-

genden Gräueln endgültig offenbar wurde,
dass mit dem Aggressor Serbien keine gütli-
che Friedensregelung möglich war. Der mili-
tärische Eingriff erfolgte aber eher zögerlich
und widerstrebend als mit missionarischer
Begeisterung.
Der Golfkrieg 1991, in dem die USA mit ei-
ner breiten Koalition Saddam Husseins Irak
aus dem von ihm annektierten Kuwait zu-
rückschlugen, war ausdrücklich nicht mit ei-
nem „Regime Change“ und dem Vorhaben ei-
nes demokratischen „Nation Building“ ver-
knüpft. Von einem groß angelegten Versuch,
Demokratie per militärischer Intervention zu
„exportieren“, kann allenfalls in Afghanis-
tans 2001 und im Irak 2003 die Rede sein. Die
amerikanischen „Neocons“, die kurzzeitig
Einfluss auf die Regierung von George W.
Bush ausübten, vertraten tatsächlich die The-
se, die USA seien dazu befähigt und verpflich-
tet, in chronischen Krisengebieten wie dem
Nahen Osten Stabilität durch Implementie-
rung von Demokratie zu stiften. Doch als die
USA und ihre Verbündeten dann tatsächlich
in den Irak einmarschierten, folgten sie eher
den Vorstellungen ihres Verteidigungsminis-den Vorstellungen ihres Verteidigungsminis-
ters Donald Rumsfeld, die darauf hinauslie-
fen, mit minimalem militärischen Aufwand
den Diktator Saddam Hussein zu stürzen, um
das Land dann möglichst bald sich selbst zu
überlassen. Als sich dies als undurchführbar
erwies, offenbarte sich die Planlosigkeit Wa-
shingtons in einem chaotischen Durcheinan-
der seiner Besatzungspolitik.
Zudem stand bei Weitem nicht der ganze
Westen hinter der US-Intervention. Um sie
zu verhindern und zu unterminieren, ver-
bündeten sich Bundeskanzler Gerhard
Schröder und Frankreichs Präsident Jacques
Chirac gar mit dem russischen Staatschef
Wladimir Putin. Das gemeinsame westliche
Eingreifen in Afghanistan 2001 wiederum er-
folgte keineswegs aus überschießendem de-
mokratischen Missionseifer, sondern als Re-
aktion auf den Terrorangriff des 11. Septem-
ber. Afghanistan geriet nicht ins Visier des
Westens, weil man es sich als Experimentier-
feld für utopische Menschheitsbeglückungs-
pläne ausgesucht hätte, sondern weil sich
dort die al-Qaida festgesetzt und der westli-
chen Welt den Krieg erklärt hatte.
Den Völkermord in Ruanda 1994 ließ der
Westen ebenso untätig zu wie die brutale
Zerschlagung der Demokratiebewegung imZerschlagung der Demokratiebewegung im
Iran 2009. Russland konnte 2008 ungestraft
mit militärischer Gewalt Teile georgischen
Staatsgebietes abtrennen. Aus dem Irak zo-
gen sich die USA unter Obama just in dem
Moment zurück, als sich die Lage dort nach
katastrophalen Jahren zu stabilisieren be-
gann. Und der Intervention gegen den liby-
schen Despoten Gaddafi folgten keine ent-
schiedenen Anstrengungen, das Land zu sta-
bilisieren.
Unter Donald Trump spielen Menschen-
rechte in der US-Außenpolitik kaum mehr
eine Rolle, und bei den Europäern kommen
sie im Umgang mit Mächten wie China und
Saudi-Arabien allenfalls noch als folgenloses
Lippenbekenntnis vor. Dem Krieg des As-
sad-Regimes und seiner Schutzmächte Russ-
land und Iran gegen die syrische Zivilbevöl-
kerung haben die USA wie die EU jahrelang
passiv zugesehen – mit verheerenden Kon-
sequenzen für den westlichen Einfluss in
der Region. Zugleich werden die westlichen
Interventionen, die tatsächlich stattfanden,
jetzt häufig pauschal als kompletter Fehl-
schlag hingestellt. Dabei sind sie bei allen
enttäuschten Erwartungen keineswegs ohne
Erfolg geblieben. Der Frieden auf dem Bal-
kan hat seit 1999 gehalten, und in Afghanis-
tan haben sich Ansätze einer jungen urba-
nen Zivilgesellschaft herausgebildet – dienen Zivilgesellschaft herausgebildet – die
mit dem angekündigten westlichen Trup-
penabzug jetzt allerdings an die Taliban aus-
geliefert werden soll.
Dass sich der Westen, jenseits schöner
Worte, seit Ende des Kalten Krieges in über-
triebener Weise der „Bekehrung“ nicht west-
licher Weltteile gewidmet hätte, ist ein My-
thos, der von eingefleischten Gegnern einer
universalistischen Ausrichtung der Außen-
politik westlicher Demokratien in die Welt
gesetzt wurde. Statt den Mythologen nach
dem Munde zu reden, gilt es klarzumachen:
Es sind autoritäre Regime wie die Chinas
und Russlands, die ihrer eigenen Bevölke-
rung und anderen mit Gewalt ihre „Werte“
aufzwingen, und keineswegs der Westen,
dessen Werte im Gegenteil von Demokratie-
bewegungen rund um die Welt immer wieder
mit Vehemenz und großer Opferbereitschaft
eingeklagt werden. Sie müssen vom Westen
nicht erst „bekehrt“ werden. Ihr Problem ist
vielmehr, dass sie von ihm allzu oft im Stich
gelassen werden.
Mehr denn je ist die Weltpolitik vom Sys-
temwettbewerb zwischen Demokratie und
Autoritarismus gekennzeichnet. So selbst-
evident es ist, dass der Westen nicht überall
handstreichartig menschenwürdige Zustän-
de erzwingen kann, und so berechtigt die
Mahnung zu einer weitsichtigeren westli-
chen Strategie ist, so sehr gilt doch: Verzich-
tet der Westen auf die globale Verteidigung
elementarer Rechte von Völkern und Indivi-
duen, gräbt er sich sein eigenes Grab.

GG


© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2019-11-02-ab-22 7064c6e0a695d62b5be87fbd5ada200d

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws

Free download pdf