Die Welt - 02.11.2019

(Brent) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019 UNTERNEHMEN IM WANDEL 5


Kohle und Kernkraft sind passé, der Energieversorger


RWE erfindet sich neu. Um die „neue“ RWE aus der


Taufe zu heben, gingen die Unternehmenslenker kürz-


lich an den Ursprungsort zurück. Auf dem Gelände der


Zeche Victoria-Mathias im Essener Nordviertel wurde


das Unternehmen 1898 als Stadtwerk gegründet, um


die Stadt Essen mit Elektrizität zu versorgen. Heute


ist die Zeche Geschichte, auf ihrem Gelände wächst


neben Wohn- und anderen Bürogebäuden die neue


RWE-Verwaltung empor. Und hier verkündeten Rolf


Martin Schmitz und Markus Krebber, womit der Ener-


gieversorger, der einmal der zweitgrößte Deutsch-


lands war, künftig sein Geld zu verdienen gedenkt.


„Unser Unternehmen ist der Komplett-Anbieter im


Bereich der Stromerzeugung, der die aktuellen und


vor allem die künftigen Anforderungen des Marktes


und der Gesellschaft erfüllt: sauberen, sicheren und


bezahlbaren Strom zu produzieren“, sagte Schmitz


beim Zeche-Besuch.


RWE, eines der Schwergewichte der deutschen In-


dustrie, steht seit Jahrzehnten für Braunkohleverstro-


mung und Kernenergie, aber jetzt will es so gründlich


aus dem Wandel der Zeiten lernen wie sonst kaum ein


Versorger. In 20 Jahren will man zu 100 Prozent klima-


neutral sein, und in nur zehn Jahren soll der Kohlen-


dioxidausstoß schon um 70 Prozent gegenüber 2012


gesenkt sein. Man wird auch so international sein, wie


nie zuvor. Der Schwerpunkt der Zukunftsenergien


liegt klar außerhalb Deutschlands. Nur 20 Prozent der


Erneuerbaren Kapazität steht in der Bundesrepublik.


Der Wandel der RWE ist symptomatisch für die Ener-


giebranche – in Deutschland wie auch andernorts.


Die Deregulierung seit den 1990er-Jahren und der


Siegeszug der Erneuerbaren haben buchstäblich kei-


nen Stein auf dem anderen gelassen. Von der Politik,


die selbst durch Bewegungen wie „Fridays for Future“


getrieben wird, kommen immer ehrgeizigere Vorga-


ben. „Die Energiesysteme der Welt wandeln sich be-


trächtlich, angetrieben insbesondere durch das wach-


sende Angebot wechselhafter Erneuerbarer Energien,


das Auftreten dezentraler Energieerzeuger, die Digita-


lisierung und den wachsenden Strombedarf“, diagnos-


tizierte die Internationale Energieagentur IEA im Mai


in ihrem aktuellen Statusbericht zur Transformation


der Energiesysteme.


RWE hat einen radikalen Schluss daraus gezogen


und kappt seine Wurzeln. Die Braunkohle- und die


Kernkraftwerke, die noch das Rückgrat der RWE-


Stromversorgung in Deutschland darstellen, sind Aus-


laufmodelle. „Wir werden einer der weltweit größten


Anbieter von Erneuerbaren Energien sein“, so Rolf


Martin Schmitz im September in Essen.


Die Netze und den Service für die Kunden in


Deutschland hat der Essener Konzern dagegen im ver-


gangenen Jahr mit einem spektakulären Deal an den


langjährigen Erzrivalen E.ON abgegeben. Beide Unter-


nehmen haben sich damit noch stärker spezialisiert,


das geschärfte Profil wird die Investment-Fonds und


anderen Profi-Anleger an den Börsen freuen. Die Hoff-


nung dahinter: Dass die beiden ehemals größten Ver-


bundunternehmen der Bundesrepublik sich von


schwerfälligen Schlachtschiffen in schnelle und flexi-


ble Kreuzer verwandeln und so wieder auf dem radikal


gewandelten Energiemarkt reüssieren können.


Denn auf dem gilt nicht mehr der Versorgungsplan


der Anbieter, es regiert das Kundenbedürfnis. „Libera-


lisierung und Dezentralisierung der Energieerzeugung


haben zu einem Perspektivenwechsel geführt: Ge-


schäftsmodelle müssen konsequent vom Kunden her


gedacht werden“, schreibt etwa die Unternehmensbe-


ratung Ernst & Young in ihrer Marktstudie „Ge-


schäftsmodelle 2020“. Die Energieversorger von heute


müssen sich viel stärker um das Management eines dy-


namischen Marktes kümmern als zu den Zeiten, in de-


nen Kunden noch „Abnehmer“ waren. Das volatile An-


gebot der Erneuerbaren Energien und die gewaltige


Zahl von Erzeugern machen das Geschehen in den


Stromnetzen zunehmend schwer zu beherrschen.


Nicht von ungefähr ist die Stabilität des Stromnetzes


in Deutschland mittlerweile ein heißes Thema – zu


Zeiten der großen Verbundunternehmen wäre so et-


was undenkbar gewesen.


Mit die längste Erfahrung mit diesen Verhältnissen


hat man in Deutschlands Nordwesten, denn hier ist


die Dominanz der Erneuerbaren Energien bereits seit


langem Realität. In den niedersächsischen Küstenge-


bieten nahm die Windkraftnutzung an Land ihren An-


fang, hier sind die großen Offshore-Windparks im


deutschen Teil der Nordsee ans hiesige Stromnetz an-


geschlossen. An windigen Spitzentagen übertrifft das


eingespeiste Angebot die Nachfrage um mehr als das


Doppelte. „Wir haben uns früher als andere mit den


daraus erwachsenden Herausforderungen befassen


müssen“, sagt Urban Keussen, Technikvorstand des


Regionalversorgers EWE aus Oldenburg. Daher ist das


Unternehmen – mittlerweile der fünftgrößte Energie-


versorger Deutschlands – so etwas wie ein Trendsetter


in der Branche.


Rund 90 Prozent des Stroms im EWE-Netz ist be-


reits erneuerbar und wird vornehmlich von Wind-


kraftanlagen erzeugt. Wechselhafte Energieeinspei-


sung, zahlreiche, über das Land verteilte Kleinerzeu-


ger und regelmäßige und zum Teil krasse Unterschie-


de zwischen dem Windstromangebot und der Nach-


frage nach Elektrizität, damit müssen die Stadtwerke


vor Ort, die EWE als Betreiber des übergeordneten


Verteilnetzes, und Übertragungsnetzbetreiber Ten-


neT zurechtkommen. Im Forschungsprojekt enera ha-


ben sich daher viele Akteure und dazu wissenschaftli-


che Institutionen zusammengeschlossen, um die


Halbinsel Ostfriesland zwischen Dollart im Westen


und Jadebusen im Osten in ein Testgebiet für ein in-


telligentes Stromnetz zu verwandeln.


Eines der Ziele: die Überlastung des Übertragungs-


netzes durch Angebotsspitzen abfedern. Bekannter-


maßen ist das deutsche Stromnetz weiterhin nicht auf


den Wechsel zu Erneuerbaren Energien ausgelegt.


Wird also mehr Strom aus den Windparks eingespeist


als weitergeleitet werden kann, müssen Windkraftan-


lagen vom Netz genommen werden. Die dafür fälligen


Entschädigungen sind inzwischen zu einer namhaften


Belastung der Stromkunden angewachsen. „Wir wol-


len die Energie gar nicht erst auf die Autobahn der


Übertragungsnetze hochschieben, sondern vor Ort


nutzen“, betont Urban Keussen. Dafür muss das


Stromangebot auf eine exakt entsprechende Nachfra-


ge treffen, und die soll durch eine regionale Flexibili-


tätsbörse vermittelt werden. Partner ist die europäi-


sche Strombörse Epex Spot aus Paris.


An ihr können sich die Netzbetreiber die passende


Nachfrage, genannt Flexibilitäten, zum erwarteten


Stromüberangebot organisieren. „Die Flexibilitäten


sind große Verbraucher wie Kühlhäuser oder die


Power-to-Gas-Anlage von Audi in Werlte“, erklärt


Keussen. Sie fangen die Angebotsspitzen ab, die nicht


mehr durch das Übertragungsnetz abgeleitet werden


können, erhalten dafür günstigeren Strom, und die


Netzbetreiber sparen sich die Entschädigungen. Seit


Anfang des Jahres läuft die Börse.


Noch sind die Transaktionen auf dem Flexibilitäts-


markt überschaubar. Während des Sommers war die


Börse kaum gefragt. Zeit genug also für einen fein-


schliff bei den Prozessen. „Technisch funktioniert das


einwandfrei“, sagt EWE-Vorstand Keussen, „die größ-


te Herausforderung ist es, Teilnehmer auf die Platt-


form zu bekommen.“ Die eigentliche Bewährungspro-


be startet jetzt: Der Herbst mit seinen starken Winden


dürfte wieder für zahlreiche Überangebotszeiten sor-


be startet jetzt: Der Herbst mit seinen starken Winden


dürfte wieder für zahlreiche Überangebotszeiten sor-


be startet jetzt: Der Herbst mit seinen starken Winden


gen. So hat es im Oktober bereits die erste namhafte


Transaktion am Flexibilitätsmarkt gegeben, durch die


die Abregelung von zwei Megawatt Windkraft zu ver-


meiden war. Es sind noch bescheidene Anfänge, aber


wenn der Handel funktioniert, kann ein effektives


Ausgleichsinstrument für einen von wechselhaften Er-


neuerbaren dominierten Strommarkt daraus werden.


Noch sind nur Großverbraucher an der Börse betei-


ligt, die eine entsprechende Qualifizierung absolvie-


ren müssen. Perspektivisch aber ist sie als wirtschaft-


liches Steuerungsorgan eines intelligenten Regional-


netzes zu sehen, über das auch Kleinverbraucher wie


Haushalte oder Elektrofahrzeuge zur Verbesserung


der Netzqualität angesteuert werden können.


Die Unternehmen sehen sich unter hohen Zeitdruck


gesetzt. Innerhalb von nur 20 Jahren soll die deutsche


Energieversorgung, also neben Strom auch Wärme,


Industrie und Verkehr, weitgehend kohlendioxidfrei


funktionieren. Allerdings klaffen zwischen Anspruch


und Realität gewaltige Lücken. „Wir haben ‚Fridays for


Future‘, die sagen, dass wir Erneuerbare Energien ha-


ben müssen, auf der anderen Seite verhindern immer


striktere Regularien deren Ausbau“, kritisiert etwa


EWE-Vorstand Keussen. So hat das Beratungsunter-


nehmen Deutsche Windguard für das erste Halbjahr


2019 ermittelt, dass an Land die installierte Leistung


der Windkraft gerade einmal um 231 Megawatt zu-


nahm. Um die ehrgeizigen Ziele der Bundesregierung


zu erreichen, müssten nach Keussens Angabe im Jahr


aber 4000 Megawatt zugebaut werden.


Auch RWE-Chef Rolf Martin Schmitz beklagt die


mangelnde Akzeptanz der Energiewende in der Bevöl-


kerung, sobald es um Maßnahmen im jeweiligen kon-


kreten Umfeld gehe. „Wir haben als Gesellschaft ein


Problem“, so Schmitz, „wenn durch zu viel Regulie-


rung Hürden für werthaltiges Wachstum entstehen.“


Und bei einer derart geringen Akzeptanz werde „bei


uns die Energiewende nicht gelingen“. Ob die Mah-


nung Gehör findet, bleibt abzuwarten. Der 18-Punkte-


Plan für mehr Akzeptanz und Rechtssicherheit bei


Windenergieprojekten, den Bundeswirtschaftsminis-


ter Peter Altmaier (CDU) kürzlich lancierte, stieß


nicht unbedingt auf große Zustimmung.


K


VON HOLGER KROKER

,,


Wir haben ‚Fridays for


Future‘, die sagen, dass


wir Erneuerbare Energien


haben müssen, auf der


anderen Seite verhindern


immer striktere Regularien


deren Ausbau


Urban Keussen,


Technikvorstand des Regionalversorgers


EWE, Oldenburg


© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2019-11-02-ab-22 7064c6e0a695d62b5be87fbd5ada200d


UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws

Free download pdf