Die Welt - 02.11.2019

(Brent) #1

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DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019 UNTERNEHMEN IM WANDEL 7


Rücksichtlos abgestellt blockieren sie vor allem in


Großstädten Fahrradwege und Bürgersteige. Dazu


werden sie von manch angetrunkenem Fahrer oder


ebenso verbotenerweise auch von zwei Personen be-


wegt oder in Fußgängerzonen im Slalomstil zwischen


Passanten hindurchmavövriert. Es gibt viele Gründe,


warum der E-Scooter, für viele schon zum Hassobjekt


geworden ist. Das nächste „big thing“ der Mikromobi-


lität ist angerollt, um den knappen urbanen Verkehrs-


raum neu zu verteilen und positive Impulse zu setzen.


Denn unsere Innenstädte und auch die auf sie hinfüh-


renden Autobahnen stehen vor dem Verkehrsinfarkt


oder haben ihn bereits erlitten. Um nicht weniger als


einen neuen „Model-split“ geht es daher bei der


Transformation aller Verkehre, und E-Scooter könn-


ten ihren Teil zu einer Verflüssigung beitragen.


Dass dem Auto als Folge des Planungsideals der auto-


gerechten Stadt zu viel Raum gegeben wird – darüber


herrscht unter Mobilitätsforschern und Verkehrsexper-


ten längst Konsens. Ein großes Problem ist neben dem


parkplatzsuchenden vor allem der ruhende Verkehr.


AAAutos stehen mehr als 90 Prozent der Zeit ungenutztutos stehen mehr als 90 Prozent der Zeit ungenutzt


herum, womit das Parken die größte Flächennutzung


im öffentlichen Raum beansprucht. Die ab 2021 ver-


sprochene Erhöhung der Pendlerpauschale ist wohl


eher das falsche Signal, sie dürfte eher zu einer weite-


ren Verdichtung führen. Durch die Anhebung sollen alle


die entlastet werden, die von weit her mit dem Auto


pendeln müssen. In Kombination mit steigenden Mie-


ten in den Innenstädten ein Anreiz, ins weitere Umland


der Metropolen zu ziehen. „Wir nennen das Zersiede-


lungsplanung“, spottet Andreas Knie, Verkehrs- und In-


novationsforscher vom Wissenschaftszentrum Berlin.


Und Ferdinand Dudenhöffer, „Auto-Professor“ der Uni


Duisburg/Essen, fordert jetzt sogar, Pendler für den


Umzug an den Arbeitsort zu belohnen. 2018 seien in


Nordrhein-Westfalen 4,73 Millionen Menschen über die


Grenzen ihres Wohnorts gependelt – 700.000 mehr als


noch 2010. Also praktisch ein ganzes Frankfurt.


Wie schön, dass es neben dem Leihfahrrad, Car Sha-


ring-Konzepten und autonom fahrenden Shuttles nun


den E-Scooter gibt. Zumindest für den „letzten Kilo-


meter“. Doch noch ringt er um Akzeptanz. Die Um-


weltbilanz sei eher negativ, sagt das Umweltbundes-


amt. Die Strecken seien oft so kurz, dass man sie auch


zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Bahn zurücklegen


könnte. Im Vergleich zum Fahrrad stellen sie also die


deutlich umweltschädlichere Variante dar, zumal die


neuen Trend-Treter am Abend von Diesel-Vans einge-


sammelt und am nächsten Tag von diesen auch wieder


aufgestellt würden.


Joe Kraus, Chef des E-Scooter Anbieters Lime,


kennt die Anlaufprobleme, sieht sie aber als durchaus


lösbar an: „Wir sind noch in einer sehr frühen Phase.


Je länger es ein Fortbewegungsmittel gibt, desto mehr


entwickeln Menschen eine Mischung aus Regeln, In-


frastruktur und Normen.“ Priorität hat für ihn, dass


Nutzer die Roller ordentlich abstellen, „denn niemand


will ein vermülltes Stadtbild“. E-Scooter hätten schon


heute eine bessere Klimabilanz als Autos, doch müss-


ten sie in Zukunft länger halten und, wie in Frank-


reich, eine Recycling-Quote von 97 Prozent und mehr


erreichen. „Und wir experimentieren bereits mit Elek-


trofahrzeugen, um die Roller einzusammeln“.


In Berlin wären laut Kraus in den ersten drei Mona-


ten des laufenden Jahres 160.000 Pkw-Fahrten durch


die neuen Tretroller vermieden worden. Andreas Knie


ergänzt: „Aus jedem Hype wird irgendwann Normali-


tät. In Berlin bilden sich an Hot-Spots wie S-Bahn-Hal-


testellen mittlerweile Schwerpunkte.“


Das elektrisch unterstützte Fahrrad wäre der Kö-


nigsweg für alle Mobilitätsanforderungen im Nahbe-


reich – und immer mehr Pendler verinnerlichen das.


Denn bis zu einer Distanz von sieben bis acht Kilome-


tern ist ein E-Bike in der Rush-Hour dem im Stau ste-


henden Pkw ebenbürtig. Dazu ist es emissionsarm


und gut für die Fitness. Die Verkaufszahlen belegen


die weiter steigende Popularität der längst vom Makel


des Rentner-Rads befreiten Express-Drahtesel. 2019


rechnet der Zweirad-Industrie-Verband mit mehr als


1 ,1 Millionen neu verkauften Pedelecs (plus zwölf Pro-


zent). Damit hätte erstmals jedes vierte neu verkaufte


Zweirad einen E-Motor als Anschiebehilfe. 4,4 Millio-


nen stehen heute schon in deutschen Garagen.


Die Nutzfahrzeug-Variante, das E-Lastenrad, bietet


sich ihrerseits als umweltschonende und platzsparen-


de Alternative für Zustelldienste aller Art an. Im Berli-


ner Projekt KoMoDo liefern die Logistik-Riesen DHL,


DPD, GLS, Hermes und UPS mit elf Lastenrädern in


einem Umkreis von drei Kilometern im Stadtteil


Prenzlauer Berg ihre Pakete aus. Seit dem Start vor


einem Jahr wurden so 28.000 Kilometer mit Diesel-


Vans vermieden, heißt es. Die Fahrradkuriere hätten


insgesamt 38.000 Kilometer abgestrampelt und dabei


elf Tonnen CO2-Ausstoß vermieden.


Dass die Renaissance des Fahrrads nicht noch ein-


drucksvoller ausfällt, liegt an mangelhafter Infra-


struktur und knappen Budgets. Von Fahrradparkhäu-


sern wie im holländischen Utrecht – mit 12.500 Ab-


stellplätzen ist es das größte der Welt – können deut-


sche Biker ebenso nur träumen wie von „Protected Bi-


ke Lanes“, also Fahrspuren, die zum Beispiel mittels


Pollern deutlich von der Autospur getrennt und somit


auch vor ihr geschützt sind. Oft scheitern Leucht-


turmprojekte dieser Art auch am verwaltungstechni-


schen Wirrwarr und Kompetenzgerangel in Kommu-


nen. Ein warnendes Beispiel ist der groß angekündig-


te Radschnellweg RS1, der bis 2020 das Ruhrgebiet


von Duisburg bis Hamm durchziehen sollte. Bis heute


sind von 101 Kilometern erst 13 fertiggestellt, obwohl


inzwischen Radschnellwege planungsrechtlich Lan-


desstraßen gleichgestellt sind. Von einem Ärgernis


anderer Art berichtet Andreas Knie: „Wir investieren


in Berlin für 3,5 Kilometer der A100 eine Milliarde


Euro; zugleich kämpfen die hiesigen Bezirke um jeden


Euro für die Fahrradinfrastruktur.“


Immerhin verspricht nun Bundesverkehrsminister


Andreas Scheuer weitere 900 Millionen Euro für den


AAAusbau von Radwegen. Damit stünden zwischen 2020usbau von Radwegen. Damit stünden zwischen 2020


und 2023 rund 1,4 Milliarden zur Verfügung. Doch ist


das wirklich die Wende? Andreas Knie bleibt skep-


tisch: „Das Ministerium verkündet viel, tut aber we-


nig. Es gibt dort noch nicht einmal eine Abteilung für


Fahrradbelange, nur ein Referat, und das auch nur als


halbe Stelle. Auch im Bundesverkehrswegeplan findet


sich keine wirklich groß angelegte Förderaktion.“ Al-


bert Herresthal, Geschäftsführer des Fachhandelsver-


bands Service und Fahrrad, bleibt zurückhaltend:


„„„Wenn diese Summe tatsächlich kommt, reicht sieWenn diese Summe tatsächlich kommt, reicht sie


vorne und hinten nicht. Wir fordern ein Budget von


einer Milliarde Euro pro Jahr.“


Neben E-Scootern und Fahrrädern werden künftig


autonom fahrende Shuttles die Mikromobilität berei-


chern. Monheim, halbwegs zwischen Düsseldorf und


Leverkusen gelegen, spielt da Vorreiter. Aktuell lau-


fffen noch Testfahrten mit einem 18 Stundenkilometeren noch Testfahrten mit einem 18 Stundenkilometer


schnellen Kleinbus für sechs Personen, der auf einer


zwei Kilometer langen Strecke zwischen Busbahnhof


und Altstadt verkehrt. Geht das Zulassungsverfahren


nahtlos über die Bühne, soll im 2020 der Linienver-


kehr im 10-Minuten-Takt und mit fünf Bussen starten.


Noch sitzt in dem vom französischen Start-up Easy-


mile vertriebenen Mobil ein so genannter Operator,


das deutsche Gesetz will es so. Die Gesamtkosten für


das wegweisende Projekt von 2,1 Millionen Euro über-


nimmt zu 90 Prozent das Land Nordrhein-Westfalen.


In diesem Geflecht diverser Mobilitätsformen


muss sich der öffentliche Personennahverkehr nach


Überzeugung von Andreas Knie neu definieren.


„Ride-pooling, Car-Sharing und die neuen E-Scooter,


das alles muss mit dem ÖPNV zusammengefasst wer-


den. Die Zukunft der ‚Öffis’ liegt in erweiterten und


ffflexibleren Angeboten.“ Wünschenswert wären at-lexibleren Angeboten.“ Wünschenswert wären at-


traktive Preisangebote wie das 365-Euro-Ticket in


Wien oder eine Flatrate Mobilität wie bei den Schwei-


zer Bundesbahnen, oder eine Chipkarte wie in den


Niederlanden, die dort schon seit 2014 das bargeldlo-


se Bezahlen in Bus, Tram, U-Bahn und Bahn ermög-


licht. Ein Papierticket am Automaten per Münzein-


wwwurf ziehen – mobiles Mittelalter.urf ziehen – mobiles Mittelalter.


Der ländliche Raum – der immerhin 60 Prozent


der Gesamtfläche Deutschland ausmacht – steht der-


weil vor seinen eigenen Problemen. Wo regionale


Bahnstrecken massenweise stillgelegt wurden und


Busse wenn überhaupt nur zu Tagesrandzeiten ver-


kehren, dominiert das Auto. Andreas Knie sieht als


Lösung eine „Hub-and-Spoke“-Struktur und nennt


als Beispiel CARLA, ein „Bürger-Taxi“ für die Region


um Bad Salzungen. Die Idee: Fährt der Bus gerade


mal wieder nicht oder ist kein eigenes Auto zur Hand,


werden Privatpersonen zu Taxichauffeuren. Alles,


was der Kunde braucht, ist ein Smartphone mit In-


ternetanschluss und eine Kontoverbindung, die An-


meldung erfolgt dann über eine App. Alle Fahrer sind


registriert, besitzen einen Personenbeförderungs-


schein und eine Versicherung. Die E-Modelle vom


Typ Renault Zoe werden für maximal zwölf Monate


gemietet, vergütet wird pro mitgenommener Person.


Die Bürger-Taxis sollen als Zubringer zum nächst-


größeren Verkehrsknotenpunkt fungieren, von wo


aus die Fahrt dann mit einem schienengebundenen


VVVerkehrsmittel oder Bussen weitergehen kann. So-erkehrsmittel oder Bussen weitergehen kann. So-


weit die Theorie.


Zurück in die Stadt, wo Mobilitätsforscher an „Ri-


de-Pooling“, „Ride-Sharing“ oder „Ride-Hailing“ ho-


he Erwartungen knüpfen, werden doch Fahrtwünsche


ohne Linienbindung abgewickelt und gebündelt. Die


Buchung erfolgt per App. Hamburg entwickelt sich


gerade zu einem Testmarkt für digitale Sammelbeför-


derungsangebote, wie sie VW mit Moia, Daimler mit


ViaVan, die DB AG mit ioki und das Startup Clever


Shuttle anbieten.


Die Stadt zu einem Teil vom Autoverkehr zu erlö-


sen, wird dennoch unumgänglich sein, sagt Stefan


Bratzel vom Center of Automotive Management in


Bergisch Gladbach: „Wir können das Problem nur


durch die Beschränkung des individuellen Verkehrs in


den Griff bekommen. Entweder durch eine City-Maut


wie in London oder eine deutliche Verteuerung des


Parkraums.“ Anders als noch vor zehn Jahren würden


das mehr und mehr Autofahrer inzwischen in Kauf


nehmen, will Bratzel festgestellt haben, erkennt aber


auch die damit reflexartig aufkommenden Bedenken


des City-nahen Einzelhandels an. „Wir müssen den


Raum anders nutzen und Straßen zum Teil umwid-


men, aber zugleich Alternativen anbieten. Neue Mobi-


litätsformen müssen sozial eingehegt werden.“ Auto-


nome Robo-Taxis, im Augenblick des Bedarfs verfüg-


bar, hält auch er für besonders zukunftsträchtig.


Schöne neue Mobilitätswelt? Wenn ja, dann nicht


über Nacht. Denn dass die Deutschen trotz aller span-


nenden Mobilitätsalternativen nur ungern vom Auto


lassen wollen, beweist eine ADAC-Umfrage: Auf die


Frage, ob sie sich vorstellen könnten, innerhalb der


nächsten fünf Jahre auf ein Auto im Haushalt zu ver-


zichten, antworteten 68 Prozent mit einem klaren


„nein“. Joachim Scheiner, Professor für Verkehrspla-


nung an der TU Dortmund, weiß: „Die Strahl- und


Bindungskraft des Autos ist mächtig. Wir beobachten


gerade eher eine Zu- als eine Abnahme des Pkw-Besit-


zes. Viele Menschen stricken ihren Alltag so, dass es


ohne Auto nicht geht.“


VON THOMAS IMHOF

Das Ministerium verkündet


viel, tut aber wenig. Es gibt


dort noch nicht einmal eine


Abteilung für Fahrradbelange,


nur ein Referat, und das auch


nur als halbe Stelle


Andreas Knie,


Verkehrs- und Innovationsforscher in Berlin


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