AM WOCHENENDE
WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 2./3. NOVEMBER 2019 75. JAHRGANG /44. WOCHE / NR. 253 / 3,70 EURO
Wenn es in den Büchern von Franz Kafka
besonders absurd wird, geht es meistens
um Gerichte. Für Kafka sind sie Orte, an
denen der Apparat eine solche Eigendyna-
mik hat, dass er für den Menschen nicht
mehr zu beherrschen ist. Kafkas Fanta-
sien sind nun in der Hauptstadt Realität
geworden, genauer gesagt am Kammerge-
richt, dem höchsten ordentlichen Gericht
in Berlin. Seit Ende September ein Compu-
tervirus festgestellt wurde, befindet sich
das Gericht im Ausnahmezustand.
Begonnen hat alles damit, dass jemand
eine E-Mail öffnete, in der sich der Troja-
ner Emotet verbarg. Der gilt als beson-
ders gefährlich, weil er sich über authen-
tisch aussehende Nachrichten verbreitet,
sich im System festsetzt und selbst die
Hardware unbrauchbar macht. So auch
am Kammergericht. Computer mussten
vom Netz genommen werden oder waren
auf einen Schlag nicht mehr zu benutzen.
Wer das Gericht erreichen wollte, musste
anrufen, ein Fax schicken oder persönlich
vorsprechen.
Wie am Mittwoch im Rechtsausschuss
des Berliner Abgeordnetenhauses heraus-
kam, ist das System bis heute nicht wie-
derhergestellt. Das liegt unter anderem
an der Ausstattung der Berliner Justiz.
Wer schon einmal an einem Berliner Ge-
richt war, weiß, dass sich manches Gebäu-
de gut für eine historisch korrekte Kafka-
Verfilmung eignen würde. Das Kammer-
gericht gilt als besonders altmodisch. Das
Computer-Betriebssystem heißt noch
Windows 95, eine Dienstvereinbarung
zur IT-Sicherheit stammt, wie der Kam-
mergerichtspräsident demTagesspiegel
sagte, aus dem Jahr 2006.
Das alles könnte man als typische Berli-
ner Posse belächeln, hätte der Vorfall
nicht einen ernsten Hintergrund. Denn
am Kammergericht wurde einmal mehr
klar, wie anfällig Behörden und Organisa-
tionen für Schadsoftware sind und wie
schnell durch Hackerangriffe ganze Ver-
waltungen lahmgelegt werden können.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-
mationstechnik (BSI) beobachtet schon
seit Längerem, dass die Fallzahlen anstei-
gen und Unternehmen und Kommunen
wirtschaftlichen Schaden erleiden.
Bis am Berliner Kammergericht ein
neues System aufgesetzt ist, müssen die
Richterinnen und Richter sowie die Ge-
schäftsstellen improvisieren, die Justiz
muss ja weiter arbeiten. Auf 60 sogenann-
ten Notfall-PCs kann man inzwischen wie-
der online gehen, oder man wählt sich in
die juristischen Datenbanken über das
Handy ein. Wie ein Sprecher des Kammer-
gerichts sagt, werde zudem die Bibliothek
verstärkt genutzt, und wenn bestimmte
Formulare auszufüllen sind, heißt es
eben: Text ausschneiden, auf das Formu-
lar kleben und kopieren.
Möglicherweise ist es genau der Berli-
ner Umgang mit der Verwaltung, der die
Justiz nun vor dem Kollaps bewahrt.
Denn bei der Umstellung auf die elektroni-
sche Akte, die bis 2026 bundesweit Stan-
dard sein soll, ist die Hauptstadt nicht ge-
rade vorgeprescht. Nur einige wenige Ber-
liner Gerichte sind bislang digitalisiert.
Am Kammergericht sind die Akten jeden-
falls noch immer aus Papier, und die Büro-
kratie kann weiter ihren Gang gehen, so
klassisch wie in den Büchern von Franz
Kafka. ve rena mayer
KLISCHEE
UND LEBEN
Corinna Harfouch
erklärt, wieso sie keine
verlassenen Frauen
mehr spielen mag
Gesellschaft, Seite 56
von nico fried
Es war doch ganz anders geplant. Der Koa-
litionsausschuss sollte in dieser Legisla-
turperiode weniger akute Konfliktfälle lö-
sen. Im Vertrag zwischen Union und SPD
vom 12. März 2018 heißt es vielmehr, die
Spitzen der Parteien und Fraktionen woll-
ten in den Treffen „Angelegenheiten von
grundsätzlicher Bedeutung“ klären. Die
Idee war, es möglichst gar nicht erst zum
Streit kommen zu lassen.
Ja, denkste.
13 Ausschusssitzungen hat es gegeben.
Weniger als fünf Stunden dauerte keine.
Am Montag, in der 14. Sitzung, werden
nun ein Konflikt und das große Ganze in-
einanderfließen wie weißer und brauner
Teig im Marmorkuchen. Die Parteispit-
zen wollen den Streit um die Grundrente
beilegen und so möglichst auch eine „An-
gelegenheit von grundsätzlicher Bedeu-
tung“ klären: die Zukunft der Koalition.
Scheitert die Grundrente, ist die Halbzeit-
bilanz derart beschädigt, dass der SPD-
Parteitag im Dezember sicher für ein En-
de der Regierung stimmen wird. Das ist
ein Grund für die steigende Nervosität –
aber nicht der einzige.
Am Koalitionsausschuss kann man
auch den personellen Umbruch der Regie-
rungsparteien ablesen: Nur Kanzlerin An-
gela Merkel und ihr Vize Olaf Scholz sowie
der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe
Alexander Dobrindt waren immer dabei.
Keine der drei Parteien schickt in die
nächste Sitzung denselben Vorsitzenden
wie in die erste Sitzung am 26. Juni 2018.
Keine Fraktion schickt denselben Chef.
Und das Karussell, es dreht sich noch.
Denn der größte Einschnitt für die Re-
gierungsparteien steht noch bevor, wenn
früher oder später auch Merkels Kanzler-
schaft endet. Zum ersten Mal seit 1949
tritt bei der nächsten Bundestagswahl
kein Amtsinhaber an. Es wird auf jeden
Fall einen neuen Kanzler oder eine neue
Kanzlerin geben. Was nach demokrati-
schem Normalfall klingt, schafft in den
Volksparteien wachsende Verunsiche-
rung. Angesichts ihres Abwärtstrends ge-
rät die Selbstverständlichkeit der Macht
ins Wanken. Und je näher der Tag X rückt,
desto mehr trägt nun auch die CDU ihre
Krise in personellen Streitigkeiten aus.
Noch auf dem Parteitag der CSU vor
zwei Wochen hatte CDU-Chefin Annegret
Kramp-Karrenbauer die Union davor ge-
warnt, sich nur mit sich selbst zu beschäf-
tigen. Dann kamen die Wahlschlappe in
Thüringen mit anschließender Ver-
wirrung über das Verhältnis zur Linken,
sowie die Attacke von Friedrich Merz auf
Merkel, bei der Kramp-Karrenbauer rhe-
torische Streifschüsse abbekam. Die Füh-
rungsfrage steht nun im Raum, auch weil
Kramp-Karrenbauer sie, provoziert vom
Chef der Jungen Union, öffentlich themati-
siert hat, was Merkel in ihrer Zeit als Par-
teivorsitzende niemals eingefallen wäre.
Doch die Querelen lassen sich nur ober-
flächlich mit Führungsschwäche der Vor-
sitzenden erklären. Der Streit um eine et-
waige Kooperation mit der Linken in Thü-
ringen offenbart: Die CDU ist politisch mit
sich nicht im Reinen. Reihenweise lehn-
ten CDUler eine Annäherung dem Sinne
nach mit Formulierungen ab wie: „Wenn
wir das auch noch machen ...“ Hinter dem
„auch noch“ kam das Hadern mit Merkels
Politik der vergangenen Jahre zum Vor-
schein: erfolgreich, aber ungeliebt.
Oft heißt es, die CDU sozialdemokrati-
siere sich. Das war früher ein inhaltlicher
Vorwurf gegen Merkel. Heute meint es die
unablässigen Streitereien und die Unfä-
higkeit, Vergangenes abzuschließen. Nun
könnte dieser Vorwurf plötzlich ins Leere
laufen – nicht weil die CDU sich zusam-
menrauft, sondern die SPD. ImSpiegelver-
söhnen sich an diesem Wochenende sogar
Olaf Scholz und Ex-Kanzlerkandidat Mar-
tin Schulz – und beenden damit eine sozi-
aldemokratische Feindschaft, die der zwi-
schen Merz und Merkel in nichts nach-
steht, weil auch sie viel mit zerstörten Am-
bitionen zu tun hat, vor allem bei Schulz.
Fast geräuschlos ist auch Familienmi-
nisterin Franziska Giffey (SPD) nach über-
standener Prüfung ihres Doktortitels zu-
rückgeschwebt in die überschaubare
Schar der Sozialdemokraten mit Strahl-
kraft. Vereinzelte Rufe, ihr noch eine Chan-
ce im Rennen um den Parteivorsitz zu ge-
ben, ließ sie selbst verstummen. Scholz’
Co-Kandidatin Klara Geywitz kommen-
tierte einen Vorschlag, sie möge Giffey wei-
chen, so: „Frauentausch ist ein bewährtes
RTL-2-Format und sollte nicht auf die
SPD übertragen werden.“
Der Härtetest für die Sozialdemokra-
ten kommt nach dem Mitglieder-
entscheid über die Spitze. Werden die Ver-
lierer der Stichwahl die Sieger unterstüt-
zen? Je knapper das Duell der Duos Nor-
bert Walter-Borjans / Saskia Esken und
Scholz / Geywitz endet, desto größer ist
die Spaltungsgefahr für die SPD.Womög-
lich schlägt dann auf dem Parteitag in letz-
ter Minute doch Giffeys Stunde – als Kom-
promisskandidatin und von allen akzep-
tierte Integrationsfigur. Anderenfalls dürf-
te es in der SPD mindestens so rau weiter-
gehen wie nach der knappen Entschei-
dung zwischen Kramp-Karrenbauer und
Merz in der CDU.Man würde dann wohl
von einer Christdemokratisierung der
SPD reden müssen. Seiten 4 und 7
MÜNCHEN
UND DIE LIEBE
EineSerie über
die Weltstadt
mit Herz, in der es
mehr als 440000
einsame Herzen gibt
Lokales
Lob der Langsamkeit
Weil am Berliner Kammergericht die Akten immer noch aus
Papier sind, widersteht es jetzt einem fatalen Computervirus
Überwiegend dicht bewölkt und nur ört-
lich etwas Sonne. Gebietsweise kräftige
Regengüsse, auch mit geringer Gewitter-
neigung. Temperaturen zwischen elf und
19 Grad, bei länger andauerndem Föhn
auch wärmer. Seite 14 und Bayern
San Francisco– Twitter wird weltweit kei-
ne politischen Inhalte mehr als Werbung
verbreiten und stellt sich damit klar gegen
den Rivalen Facebook. „Wir glauben, dass
Reichweite für politische Botschaften ver-
dient werden muss, statt erkauft zu wer-
den“, schrieb Twitter-Chef Jack Dorsey.
Der Stopp für politische Werbung soll
vom 22. November an greifen, die Regeln
dazu sollen eine Woche davor vorgestellt
werden. In den vergangenen Wochen war
vor allem Facebook verstärkt in die Kritik
geraten wegen der Entscheidung, Anzei-
gen mit politischen Inhalten nicht prüfen
zu lassen. Außerdem beschloss Facebook,
nichts zu unternehmen, wenn Politiker fal-
sche oder irreführende Informationen ver-
breiten. dpa Wirtschaft
Washington– DieAussicht auf ein Amts-
enthebungsverfahren gegen US-Präsi-
dent Donald Trump spaltet Amerika, das
ergibt eine am Freitag veröffentlichte Um-
frage. Im Repräsentantenhaus formali-
sierte die Mehrheit der Demokraten am
Vortag die Untersuchungen zur Ukraine-
Affäre und legte das weitere Prozedere
fest. sz Seite 8
Gesellschaft,
Seite 49
Xetra Schluss
12961 Punkte
N.Y. Schluss
27347 Punkte
22 Uhr
1,1159 US-$
Euro-Jackpot(01.11.2019)
5 aus 50:3, 17, 31, 34, 40
2 aus 10:1, 2 (Ohne Gewähr)
TV-/Radioprogramm, Medien 42–
Forum & Leserbriefe 14
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 36
Traueranzeigen 19–
Die SZ gibt es als App für
Tablet undSmartphone:
sz.de/zeitungsapp
19 °/5°
Verfahren gegen
Trump spaltetUSA
MIT IMMOBILIEN-,
STELLEN- UND
MOTORMARKT
Kanzlerin Angela Merkel und ihr Vize Olaf Scholz (Mitte) waren von Anfang an im
Koalitionsausschuss dabei,Horst Seehofer ist es nicht mehr.FOTO: B. VON JUTRCZENKA /DPA
50 Jahre
Kindheit
Die „Sesamstraße“ wurde
1969 zum ersten Mal
ausgestrahlt. Seitdem hilft
sie nicht nur sehr jungen
Menschen, die Welt
zu begreifen, sondern auch
den Ältergewordenen
Dax▲
+ 0,73%
Dow▲
+ 1,11%
Euro▶
+ 0,
DAS WETTER
▲
TAGS
▼
NACHTS
Twitterstoppt
Polit-Werbung
Der Internetdienst setzt sich
damit vom Rivalen Facebook ab
Verunsicherte Volksparteien
Die Koalitionreibt sich auf. Je näher die nächste Bundestagswahl rückt, umso nervöser
wird die CDU. Und die SPD ist immer noch auf der Suche nach neuem Zusammenhalt
FOTOS: NDR/DPA; ANDREAS PEIN/LAIF; ILLUSTRATION: SEAD MUJIC
Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8,81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO: € 4,20;
ES (Kanaren): € 4,30; dkr. 34; £ 3,90; kn 36; SFr. 5,
(SZ) Vielerorts gibt es Zeitzeugentreffen,
bei denen nicht die großen Weltereignis-
se abgehandelt werden, sondern Kleinig-
keiten des Alltagslebens, an die man sich
gerade noch erinnert, die aber ohne sol-
che Treffen vom Vergessen bedroht wä-
ren: bauliche Veränderungen, Kindheits-
streiche, prominente Verfehlungen, lie-
benswerte Sonderlinge. Ohne es in aller
Regel zu wissen, dürften diese Zeitzeu-
gen sich auf Goethe berufen, der 1792 als
Zaungast an der „Kanonade von Valmy“
beteiligt war, einer im Ersten Koalitions-
krieg ausgefochtenen Schlacht. Danach
saß man noch zusammen, und da Goethe
die Militärs die ganze Zeit über schon
„mit kurzen Sprüchen erheitert und er-
quickt“ hatte, ließ er sich auch diesmal
nicht lumpen. Er sagte, wie er 30 Jahre
später zu Protokoll gab, Folgendes: „Von
hier und heute geht eine neue Epoche der
Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen,
ihr seid dabei gewesen.“
Zwischen diesen zwei Sphären: der le-
geren nachbarschaftlichen Gedenkarbeit
und der pathetisch dröhnenden Adabei-
Geste, wuchert jene dritte Zeitzeugen-
schaft, der sich keiner von uns entziehen
kann und deren Mantra die Frage „Wo
warst du, als ...“ ist, komplementär dazu
die Behauptung: „Ich weiß noch genau,
wo ich war, als ...“ Historischen Begeben-
heiten wächst jenseits ihrer wissenschaft-
lich belegten Bedeutung einiges an Grö-
ße zu, wenn möglichst viele Menschen
sich erinnern, wo sie waren, als diese sich
ereigneten, ein mit der an den Universitä-
ten üblichen Drittmitteleinwerbung ver-
gleichbarer Zugewinn. Im Gegenzug er-
höht sich das gesellschaftliche Renom-
mée derer, die sich erinnern können, wo
sie waren oder was sie taten, als dies und
das geschah. Man vermutet dahinter eine
nicht alltägliche Wachheit und Kombina-
tionsgabe – schließlich ist es nicht jedem
gegeben, in der Badewanne zu liegen und
gleichzeitig Boris Beckers Triumph in
Wimbledon mitzuverfolgen.
Als Pièce de Résistance dieser Sorte Er-
innerungsarbeit gilt das Wissen, wo man
war oder was man tat, als die Mauer fiel.
Es gibt eine Menge Leute, die darüber kei-
ne befriedigende Auskunft geben kön-
nen. Sie wissen es nicht oder nicht mehr.
Wohl aber wissen sie, dass ihnen das als
Dumpfheit und Desinteresse an der Ge-
genwartsgeschichte ausgelegt wird, wes-
wegen sie sich denn auch, wenn sie da-
nach befragt werden, vor lauter Peinlich-
keit in Scherze à la „Wo waren Sie, als der
Anruf kam? Am Telefon“ flüchten. Ihnen
allen ist nun ein Retter und Rächer erstan-
den: der Schauspieler Lars Eidinger. Er
sagte der dpa, dass er „verrückterweise“
nicht wisse, wo er zum Zeitpunkt des
Mauerfalls war, und dass es ihn mit da-
mals 13 Jahren auch nicht groß interes-
siert habe. Vielleicht wusste auch Goethe
nicht genau, wo er bei der Kanonade von
Valmy war, doch konnte einer wie er das
natürlich nie zugeben. Nun, wenigstens
ist ein schönes Zitat daraus erwachsen.
4 190655 803708
63044