Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

 Fortsetzung von Seite 11


Moffett, 39, redet nun leiser, seine Ver-
lobte weiß davon, aber sein Sohn und seine
Tochter wissen es nicht. Er will auch nicht,
dass es in der Zeitung steht. Nur so viel: Sie
mussten mehr machen als nur die Cou-
pons aus den Anzeigenblättchen schnei-
den, wenn sie einen vollen Kühlschrank
haben wollten. Selbst das mit den Coupons
ist ihm unangenehm. Vergünstigungen zu
bekommen, ohne etwas dafür geleistet zu
haben – so haben ihn seine Eltern nicht er-
zogen. Anderen, sagt er, sei das nicht pein-
lich. Die hievten im Supermarkt Krabben
und Steaks aufs Kassenband und bezahl-
ten das mit ihren Access Cards. Die Access
Cards sind auffällig gelb oder auffällig
blau, darauf das Geld vom Staat für Lebens-
mittel. Sein Steuergeld. Chris Moffett brei-
tet die Arme aus: jede Menge Steuergeld.
Für ihn ist es deshalb so: Die Demokraten
bestärken die Faulen in ihrer Faulheit. Die
Republikaner belohnen harte Arbeit.
Donald Trump hat er gewählt, weil es
ihm wichtig ist, dass sich ein Präsident mit
Geld auskennt – und wer kenne sich damit
besser aus als Trump? „Er ist ja nicht um-
sonst reich geworden.“ Der Arbeitsmarkt
habe sich entspannt, die Wirtschaft boo-
me, er hat einen neuen Job als Inspektions-
leiter bei einer Firma, die Kräne baut. Stän-
dig könne er Überstunden machen, so viel
sei zu tun. Und so gehe es vielen in Erie.
In Downtown Erie, der Kreisstadt des
Erie County, ist der Wirtschaftsboom nicht
auf den ersten Blick zu erkennen. Auch
nicht auf den zweiten. In vielen Geschäften
sind die Schaufenster verrammelt, krum-
me Nägel in Spanplatten. In einem Hotel,
das mal beste Lage war, dümpelt Putz in ei-
nem Becken, das mal ein Pool war. Läden,
die an diesem Tag offen haben, verkaufen
Luftgewehre, Dildos, Dosenbier. Wer dar-
an nicht interessiert ist, kann eine alte Post-
karte erstehen aus den Fünfzigerjahren.
Fabriken, Schornsteine, Rauch. Damals ar-
beiteten 50 Prozent der Menschen in Erie
in Fabriken, heute sind es nur noch 16 Pro-
zent. Unter Trump wurden es sogar noch
weniger.
Richtig ist aber auch, dass die Arbeitslo-
senquote hier mit vier Prozent so niedrig
ist wie seit 1976 nicht mehr. In diesem Jahr,
2019, seien im Landkreis Erie 5000 Men-
schen mehr beschäftigt als noch ein Jahr
zuvor, heißt es bei der Vereinigung für wirt-
schaftliche Entwicklung von Erie. Sehr viel
besser aber gehe es den Leuten trotz Arbeit
nicht, weil Miete, Krankenversicherung,
Ausbildung zu teuer seien. Was sie dort
noch erzählen: dass Trump mit der niedri-
gen Arbeitslosenquote wenig zu tun habe.
Sondern das Auf und Ab der Konjunktur.
Zudem gingen die Babyboomer gerade in
Rente, gleichzeitig würden weniger Men-
schen geboren in Amerika. Zu wenig. Wer


etwas von Wirtschaft verstehe, sagen die
Experten, sei deshalb für mehr Einwande-
rung und nicht für Mauern an den Gren-
zen. Nur, wer glaubt heute noch Experten?

Haus Nummer 4: Jaime


Eigentlich niemand mehr, so kommt es
Jaime McGuire zumindest vor. McGuire,
41, ist Demokratin und zwar eine, die ihren
Vorgarten bei der vergangenen Wahl mit
Hillary-Clinton-Schildern zugestellt hat.
Jetzt verblühen da blaue Hortensien. Jetzt
wütet sie auf Facebook gegen Trump.
McGuire, dezente Knopfohrringe, matter
Nagellack, ist gerade so ziemlich als Einzi-
ge in der Straße draußen in der Sonne. Der
Rest dürfte vor dem Fernseher sitzen. Auf-
takt der Football-Saison. McGuire sagt:
„Mein Team verliert eh immer.“ Dann er-
klärt sie ihren Spitznamen.
Ihre Freunde nennen sie „Obama-Ma-
ma“, weil sie am Tag, als ihr Sohn geboren
wurde, nur an „ihren Barack“ denken konn-
te. Wehen hin, Wehen her, sie musste wäh-
len. Eine Stunde nachdem sie im Kranken-
bett den Wahlzettel ausgefüllt hatte, kam
ihr Sohn auf die Welt. Sein Geburtsdatum
ist das Datum von Obamas erster Wahl, der


  1. November 2008. McGuire hat es sich in
    schwarzen Schnörkeln auf die Innenseite
    ihres Handgelenks tätowieren lassen.
    Der Sohn fährt nun Tretroller auf der
    Straße, auf und ab, während sie überlegt,
    ob sie mit einer von Trumps Aussagen
    übereinstimmt. Irgendeiner. Ja, sagt sie
    dann: dass er auf der 5th Avenue in New
    York einen Menschen erschießen könnte
    und trotzdem gewählt würde. Kein Skan-
    dal ändere das. Sie merkt das ja, wenn sie
    sich mit Trump-Fans unterhält, wenn sie
    redet und redet, und die sagen nur: „Fake
    News“. Sie macht trotzdem weiter. Einer-
    seits. Andererseits: „Immer wieder das
    Gleiche tun und trotzdem hoffen, dass das
    Ergebnis anders ist. Ist das nicht die Defini-
    tion von Wahnsinn?“ Sie muss über sich sel-
    ber lachen. Wahnsinn, das trifft die vergan-
    genen Jahre ganz gut. Sie nestelt an der
    Schlaufe ihrer Birkenstockschlappen rum.
    McGuire ist aufs College gegangen und
    arbeitet für eine Organisation, die psy-
    chisch Kranken hilft. Anders als die meis-
    ten auf der Rankine Avenue hat sie sechs
    Wochen Urlaub im Jahr, eben noch hat sie
    Koffer gepackt für eine Reise ins Disney-
    land nach Florida. Aber sie kommt aus ei-
    ner Arbeiterfamilie, der Vater fuhr mor-
    gens in die Fabrik. Deshalb wisse sie, wie
    Arbeiter tickten. Ob Trump ein Rassist sei,
    ein Sexist? Sei egal, wenn man Doppel-
    schicht schaffe. Außerdem: „Wer nie erfah-
    ren hat, wie sich Diskriminierung anfühlt,
    für den gibt es keine.“ Und sie weiß noch,
    wie ihr Vater auf Nafta geschimpft hat,
    dieses Freihandelsabkommen, das nur
    den Konzernen nutze, aber nicht den Arbei-


tern. Bill Clinton hat es unterschrieben.
Überhaupt die Clintons. Seit denen umwe-
he die Demokraten der Hauch des Elitären,
sagt McGuire. Demokraten hielten gerne
ewige Vorträge, Republikaner machten Po-
litik mit Sprüchen, so einfach, dass man
sie auf Aufkleber schreiben und ans Auto
pappen könne. Sie findet das nicht nur
schlecht.
Ob es sich für die Demokraten über-
haupt noch lohnt, um die Arbeiter zu kämp-
fen? McGuire nickt so stark, dass ihre Haa-
re um ihr Kinn wippen. „Oh yeah!“ Wie ge-
nau das klappen soll, weiß sie allerdings
auch nicht, und vielleicht weiß sie es auch
deshalb nicht, weil sie selbst so überzeugt
ist von den Demokraten, deren Sozialpro-
grammen und Steuerplänen. Weil sie so sel-
ten mit jemandem redet, der an alldem
zweifelt. Dabei wäre es so einfach.

Haus Nummer 5: Susan


Susan Richter wohnt im Haus gegen-
über. Sie ist als Demokratin registriert,
aber sie findet vieles gut, was Trump tut.
Und jetzt? Erst mal hinsetzen. Richter ist
52 Jahre alt, eine Frau mit blondem Bob,
Hoodie, lässig zerrissener Jeans. Man könn-
te sie in jedem Film als All-American Girl
besetzen, aber Richter hat schon einen Job.
Sie hilft Kriegsveteranen, die ihr Geld ver-
pokern oder versaufen, die an Depressio-
nen leiden. Um sie solle sich der Staat
zuerst kümmern, die haben schließlich für
das Land gekämpft. „Unser Land.“ Sie mag
Trump für sein „America first“.
Aber Susan Richter ist eben auch Mut-
ter. Ihren Sohn hat sie so erzogen, dass er
Frauen die Tür aufhält. Mit ihrer Tochter
saß sie am Küchentisch, nachdem der Prä-
sident gesagt hatte, er könne Frauen auch
an die Pussy fassen. So redet kein Mann
mit dir, hörst du? Die Tochter habe ge-
nickt. Überhaupt ist es plötzlich möglich,
alles zu behaupten, zu keifen, zu schreien.
Für Susan Richter, die auf Zwischentöne
achtet, ist das zu viel. Deshalb verachtet sie
Trump.
Während sie erzählt, fährt ihr Mann vor.
Jeff und sie haben sich kennengelernt, da
gingen sie noch zur Schule. Ein Paar wur-
den sie, als er von der Airbase bei Kaisers-
lautern zurückkam. Heirat, Kinder, Einfa-
milienhaus. Jetzt fährt er Gabelstapler in ei-
ner Saftfirma, manchmal 16 Stunden am
Stück. „Work, work, work“, sagt Susan
Richter. Die Kinder sollen aufs College ge-
hen können, wenn sie wollen.
Natürlich wäre kostenlose Bildung gut,
wie das einige Demokraten wollen, aber:
bitte nicht für alle. Ihr Mann arbeitet doch
nicht Doppelschicht und ein anderer arbei-
tet nicht, und beide Kinder kriegen den Ab-
schluss umsonst. Einen Kandidaten oder
eine Kandidatin aus der Mitte fände Susan
Richter gut. Jemand, der nicht so alt ist wie

Joe Biden, 76, der frühere Vizepräsident.
Nicht so links wie Bernie Sanders. Über die
Mitfavoritin Elizabeth Warren weiß sie
fast nichts, aber sie wird sich einlesen. Sie
wird dann vielleicht rausfinden, dass War-
ren für kostenlose Bildung für alle wirbt.
Auf der Straße zerren jetzt drei Jungs
einen Pitbull hinter sich her. Der Pitbull
kläfft. Ein paar Nachbarn strecken ihre
Köpfe über die Veranda. Wohnen die nicht
in der Parallelstraße? Können die den
Hund nicht da ausführen? Die Rankine Ave-
nue, das ist gegenseitiges Vertrauen und
gegenseitige Kontrolle.

Haus Nummer 6: Joyce


Zum Haus Nummer 1029 führt eine
Treppe, deren Holz splittert. Auf der Veran-
da: ein leerer Benzinkanister, der Stängel
eines Wischmobs, ein einzelner Lauf-
schuh. Klingeln. Warten. Eine Frau kommt
heraus, zieht die Tür aber gleich wieder hin-
ter sich zu. Reden ja, reinkommen nein.
Joyce Dabrowski Price ist 52, das jüngs-
te von acht Geschwistern. Ihre Haare kräu-
seln sich am Ansatz, ihre Augen sind mit Ka-
jal umrundet. Sonst keine Schminke. Sie
hat das „Dabrowski’s“ von ihrem Vater
übernommen, ein polnisches Restaurant
an der Ecke, dort ist sie Geschäftsführerin,
Kellnerin, Köchin. Sechs Tage die Woche
brät sie Piroggen und Pfannkuchen. Don-
nerstags, freitags und samstags geht sie da-
nach noch für ein paar Stunden in die Knei-
pe gegenüber, arbeitet dort in der Küche.
Und wenn sie auch da fertig ist, gegen Mit-
ternacht, wenn sie nach dreizehn Stunden
Arbeit nach Hause kommt, ihre Haare nach
Fett stinken, ihr Rücken schmerzt, dann
weiß sie nicht, was sie zu Hause erwartet.
Hat ihr Mann zu viel getrunken? Hat ihr
Sohn sich Heroin gespritzt? Vier Mal schon
hat er eine Überdosis erwischt, immer hat
sie ihn gefunden. Gerade darf er nur bei ihr
wohnen, weil sie eine Abmachung haben.
Er muss clean bleiben. Clean bleiben heißt:
Heroin ist nicht okay, Koks ist okay. Sie er-
zählt dann noch ein paar Geschichten, un-
ter anderem die, wie sie sich einmal einen
Angelhaken in den Finger gerammt hat,
wie sie den Finger desinfiziert hat und den
Haken mit einer Rasierklinge herausgezo-
gen, Stück für Stück, Widerhaken für Wi-
derhaken. Eine Stunde hat sie gebraucht.
Sie war zu der Zeit nicht krankenversi-
chert, was hätte sie tun sollen? Es ist eine
der harmloseren Geschichten, und wenn
man die anderen so hört, auf den Treppen-
stufen vor ihrem Haus, fragt man sich, wie
viel ein Mensch eigentlich aushalten kann.
Joyce Dabrowski Price weiß, wen sie
wählen würde. Beziehungsweise wen
nicht. Sie ist Migrantin in zweiter Generati-
on, eine Frau, eine Arbeiterin. Trump
nennt sie wahlweise „Idiot“, „Arschloch“,
„Hurensohn“, sie redet jetzt schnell und

das vielleicht auch deshalb, weil sie ihre po-
litische Meinung sonst nie sagt. Auch nicht
ihrem Mann, der im Lager einer Fabrik
Schicht arbeitet. Er liebt Trump, sie hasst
Trump, was bleibt ihr übrig? „Ich lächle
und nicke“, sagt Joyce Dabrowski Price.
Lächeln, nicken, schweigen, so macht
sie es mit ihrem Ehemann am Küchentisch
und mit ihren Gästen im Restaurant. So
machen es mittlerweile viele Menschen in
der Rankine Avenue. Sie sind stolz auf ihre
Nachbarschaft. Leihen sich Rasenmäher
aus. Gucken nach den Kindern, die auf der
Straße Basketball spielen. Sie reden über
Schulfeste, Football, Halloween. Über Poli-
tik reden sie nicht. Das sei schon in der
zweiten Amtszeit Obamas schwierig gewor-
den, sagen sie, weil irgendwann klar wur-
de, dass auch dieser Präsident keine Jobs
nach Erie zaubern konnte.
Dann kam Trump und hat nicht nur den
Bundesstaat Pennsylvania abgeräumt, son-
dern auch den Landkreis Erie. 2012 hatte
Obama hier 58 Prozent der Stimmen erhal-
ten. 2016 dann: 48 Prozent Trump, 44 Pro-
zent Clinton. „Erie County, lange eine de-
mokratische Hochburg, wird rot“, titelte
die Lokalzeitung. Seither ist es in der Ran-
kine Avenue nicht bloß schwierig, über Po-
litik zu reden. Es ist unmöglich.
Demokraten und Republikaner trennt
in Erie nicht nur ein Kreuz am Wahltag.
Manche beschimpfen sich bei Facebook,
manche im echten Leben. Auf jeden Fall re-
den sie miteinander nicht mehr offen. Bei
den Gästen aus Deutschland fällt ihnen
das Reden leichter, Deutschland ist weit
weg. Sie erzählen, dass sie Angst haben,
dass jemand erfährt, für wen sie stimmen.
Dass sich das rumspricht. Manche haben
Freunde verloren, weil sie für oder gegen
Trump sind – auf der Rankine Avenue wol-
len sie nicht auch noch ihre gute Nachbar-
schaft verlieren.
Joyce Dabrowski Price hat noch etwas
anderes verloren. Ihre Stimme. Ihr Mann
würde die Republikaner wählen, sie die De-
mokraten – eins zu eins, ein Patt. Bringt ja
nichts, findet sie. Ja, niemand hier auf der
Straße ärgert sich so sehr über Trump wie
sie. Am Wahltag 2020 aber will sie zu Hau-
se bleiben. Um des lieben Friedens willen.

Haus Nummer 7: Brian


Es ist Nachmittag, die Sonne steht
schon tief auf der Rankine Avenue. Brian
LeMaye bekommt nur noch ein bisschen
von ihr ab. Er sitzt hinter der halb geöffne-
ten Tür auf einer zugerümpelten Veranda.
Die Linie zwischen Licht und Schatten
läuft über sein Gesicht.
LeMaye ist 45 Jahre alt und über jeden
Tag froh, den er noch hat. Sein Herz funkti-
oniert nicht mehr richtig gut, seine Lunge
auch nicht. Er hat Übergewicht, gleich wird
er sich zwei Plastikschläuche in die Nase

stecken, um genügend Sauerstoff zu be-
kommen. Sagt er und bläst den Rauch sei-
ner Mentholzigarette durch den Türspalt.
Neben ihm ein voller Aschenbecher.
LeMaye ist so ziemlich alles egal. Er ist
nicht bitter, er ist nicht sarkastisch, man
kann mit ihm wunderbar über Bands plau-
dern,RadioheadundInterpol. Früher, in
der Highschool, war er rebellischer, ein
„Punkrock-Kid“. Da hätte er vielleicht ge-
sagt: Die Welt kann mich mal. Heute ist er
der Welt vielleicht schon zu weit entrückt.
Früher hat er Comics gesammelt, 300 hat-
te er, und Filme, 500 DVDs. Keine Komö-
dien, lieber Dramen, europäische Filme.
Dieser eine, wie hieß der noch. Er holt sein
Handy raus und googelt.
Wenn er bei Facebook oder sonst wo im
Internet auf Trump stößt, empfinde er vor
allem: „Hass.“ Selbst bei einem so starken
Wort ist seine Stimme ruhig, fast sanft.
2020 wird er nicht wählen, das weiß er
jetzt schon. Er glaubt einfach nicht mehr,
dass seine Stimme irgendetwas bewirkt.
„Well“, sagt er, so sei die Welt: Wer Geld
hat, der hat die Macht. LeMaye hat kein
Geld. Er hat kein Auto und eine Wohnung
hat er eigentlich auch nicht. Das Haus, auf
dessen Veranda er sitzt, gehört einer Freun-
din. Sie lässt ihn im Keller wohnen. Er hat
eine eigene Eingangstür, immerhin, das
Glas ist gesprungen, der Putz rundherum
bröckelt. Nach der Arbeit öffnet er die Tür
meistens nur, um den Lieferservice mit
der Pizza reinzulassen. Er liegt dann im Kel-
ler im Bett und spielt Xbox. Das Bett, die
Xbox, dazu noch ein paar zerrissene
T-Shirts und ein Fernseher – mehr besitzt
er nicht. Tagsüber stanzt er in einer Fabrik
1400 Plastikteilchen aus, immer wieder
die gleiche Handbewegung. 1400 Mal am
Tag. „Ist mir egal“, sagt er.
Am Ende des Gesprächs ist die Sonne
hinter dem Haus gegenüber verschwun-
den. Brian LeMaye sitzt im Dunkeln.

Vielleicht ist dieser Abend ein guter Zeit-
punkt, um eine Pause zu machen. Der Irish
Pub liegt an der Kreuzung von Rankine
Avenue und Main Street. Die Bar des Pubs
ist eine Wand aus Flaschen, Tequila, Wod-
ka, Gin. Kalter Rauch, klebriger Boden. An
der Bar sitzen Menschen, die jeden Tag
herkommen und deshalb gut zusammen
schweigen können. Beim Dartspielen ge-
winnt eine Frau mit Dauerwelle und Cow-
boystiefeln. Notizblock auf den Tresen,
Halbzeitanalyse, einfach mal rechnen.
Nach vier Tagen Türklingeln sind drei Men-
schen für Trump, drei gegen ihn, eine Frau
ist unentschlossen. Könnte knapp werden.
Man zeichnet eine zweite Tabelle, wer über-
haupt wählen gehen würde. Bei den Demo-
kraten wäre es nur Jaime McGuire, die Oba-
ma-Mama. Bei den Republikanern wären
es alle. Merkwürdig. Oder? Also noch ein
paar Tage raus auf die Rankine Avenue.

Haus Nummer 8: John


Vor Haus Nummer 1076 steht ein
schwarzer Jeep. John Jordan hat ihn ge-
kauft, als er in Rente ging, er dachte, es wür-
de sein letzter sein. Das war vor 27 Jahren.
Jetzt braucht er eigentlich wieder ein neu-
es Auto. Er überlegt, ob sich das noch
lohnt. Er ist 89 Jahre alt.
Jordan hat seine weißen Haare zurück-
gekämmt, wie in den Dreißigerjahren. Sei-
ne ausgebeulte Jeans hält ein Gürtel zu-
sammen, den er über dem Bauch trägt. Er
kommt aus einem Dorf im Norden Pennsyl-
vanias. Als er geboren wurde, war Herbert
Hoover Präsident der USA und Hitler noch
nicht an der Macht. Sein Vater erzählte ihm
vom Ersten Weltkrieg, später hängte er
zwei Gewehre an die Küchendecke, damit
die Familie sich verteidigen konnte. Die
Mutter sagte: „Johnnyboy, du musst arbei-
ten.“ Tat er auch. Er ging in die Fabriken, in
die Stadt. Vor Wahlen haben die Jungs dort
auf die Republikaner geschimpft, sie woll-
ten, dass er mitschimpft. „Aber ich habe es
immer so gemacht, wie ich es wollte.“ Jor-
dan lächelt wie einer, der jemandem gera-
de einen Streich gespielt hat.
Als Präsident Franklin D. Roosevelt
starb, beteten viele Familien für den Demo-
kraten. Seine nicht. Er hat immer Republi-
kaner gewählt. Als Fabrikarbeiter. „Gerade
deshalb.“ Republikaner sind für ihn die,
die mit Geld umgehen können. Die nur aus-
geben, was sie haben. Und das heiße eben
auch, dass man nicht alles haben könne,
wie es die Demokraten versprechen. Sein
Sohn, John Junior, ist mit 23 Jahren an
Krebs gestorben. Die Behandlung war teu-
er. Wenn das der Staat übernommen hätte,
sicher, das wäre schön gewesen. Nur: „Ich
weiß nicht, ob wir uns das leisten können.“
Mit „wir“ meint er den Staat.
John Jordan ist skeptisch, ein Foto will
er nicht von sich machen lassen. Er lehnt
noch immer hinter der Fliegengittertür,
hat sie nur einen Spaltbreit geöffnet, als
würde sie ihn schützen. Er weiß gar nicht
mehr, wie oft er gewählt hat, er weiß nur,
dass er keine Wahl ausgelassen hat. Viele
junge Leute blieben am Wahltag zu Hause,
sagt er. Er versteht das nicht.

Haus Nummer 9: Alyssa


Ein paar Meter die Rankine Avenue her-
unter fliegt Spielzeug durch ein Wohnzim-
mer. Klopfen. Ruhe. Dann schiebt eine jun-
ge Frau das Fenster hoch und klettert raus.
Moment kurz, sagt sie, sie müsse erst den
Ersatzschlüssel zur Haustür finden.
Alyssa Keel ist 29 Jahre alt, sie trägt ein
Shirt mit Batman-Logo und Socken mit Co-
micfiguren. Bei jedem Schritt wippt ihr
Haardutt. Als sie den Schlüssel endlich ge-
funden hat, setzt sie sich im Schneidersitz
auf den Teppich, aber dass sie sitzt, bedeu-

tet nicht, dass sie ruhig wäre. Natürlich ge-
he sie wählen, sagt sie, und natürlich nicht
Republikaner. Schon gar nicht Trump.
Warum? „Wenn du nicht weiß bist und ei-
nen Penis hast, interessiert sich der Präsi-
dent nicht für dich.“ In ihren Adern fließe
das Blut von Deutschen, Indianern, Iren.
Wegen der Iren werde sie nie braun, danke
dafür. Was sie sagen will: „Diese Vielfalt,
das ist Amerika.“ Die Einwanderer riskier-
ten ihr Leben, um in dieses wunderbare
Land zu kommen. „Lasst sie rein!“
Der Wortstrom versiegt kurz, sie
kreischt verzückt, ihr Sohn Tyler hat
Schoko-Erdnussbutter-Puffreis gemacht,
klebrig süße Rechtecke unter einer Plastik-
folie. Keel macht ihm klar, dass es sich ge-
hört, dem Besuch eines anzubieten. Tags-
über steht sie hinter der Theke in einem
Tankstellenshop, aber am liebsten würde
sie zu Hause bleiben. Sie ist schließlich ei-
ne Frau. Während Männer gerne in Fabri-
ken schufteten, hätten Frauen andere Auf-
gaben. Kochen, Kinder, Familie. So hat sie
es von ihrer Oma gelernt, bei der sie aufge-
wachsen ist. Wenn Keel über ihren Freund
spricht, sagt sie „meine bessere Hälfte“.
Alyssa Keel hält kurz inne. Ach ja, sagt
sie, 2016 hat sie genau genommen doch
nicht gewählt, obwohl sie Trump da auch
schon für einen Vollidioten hielt. Aber die
Alternative war Hillary Clinton. Und bei al-
ler Liebe, für so ein Amt seien Frauen ein-
fach nicht gemacht.

Auf der Rankine Avenue wird es dunkel.
In den Einfahrten der Häuser parken Au-
tos groß wie Panzer. Hinter Gardinen leuch-
ten Lampen. Der Versuch, die USA ein biss-
chen besser verstehen zu wollen – er geht
zu Ende. Wer hier eineinhalb Wochen die
Straße entlanggelaufen ist, kann noch im-
mer nicht vorhersehen, wie die Wahl aus-
geht. Aber er weiß doch, dass es für die De-
mokraten schwerer werden könnte, als
manche denken. Trotz Ukraine, Impeach-
ment, all den Lügen. Ihre große Hoffnung
war doch, dass die Menschen entsetzt sein
würden über Trump – so entsetzt, dass sie
am Ende für jeden Gegenkandidaten stim-
men würden. Auch wenn sie mit ihm nicht
zu hundert Prozent einverstanden sind. Es
geht nicht um den dritten Satz im vierten
Absatz im Wahlprogramm von Elizabeth
Warren. Nicht um Joe Bidens Alter. Es geht
darum, weitere vier Jahre Trump zu verhin-
dern. So sehen es die Demokraten und ver-
zweifeln daran, dass viele das anders se-
hen. Warum wählen Frauen, Arbeitslose,
Einwanderer gegen ihre Interessen?

Haus Nummer 10: Karolina


Ein allerletztes Haus, ein allerletztes
Mal klingeln. Die Veranda ist mit Blumen-
kübeln zugestellt, Vorsicht, nicht stolpern.
Karolina Niedobecka bittet ins Wohnzim-

mer, wo sie in einem Sessel versinkt, und
erzählt von ihrem amerikanischen Traum.
Niedobecka war 13 Jahre alt, als sie ein
paar Habseligkeiten in einen Koffer packte
und gemeinsam mit ihrer Familie von
Polen in die USA auswanderte. Sie sprach
kein Wort Englisch, kannte niemanden.
„Ich musste mir alles erarbeiten.“ Es ist ein
Satz, den sie heute, mit vierzig Jahren, häu-
fig sagt. Sie erarbeitete sich den High-
school-Abschluss, den College-Abschluss,
gerade ist sie bei einem Pharmaunterneh-
men angestellt, ein guter Job. Wenn sie pol-
nisch spricht, sagen Polen, sie habe einen
Akzent.
Karolina Niedobecka wird immer pol-
nisch sein, sagt sie, aber sie ist auch stolz
auf dieses Land. Und auf sich. Ist sie nicht
eine Einwanderin, die es geschafft hat? Ne-
ben ihr auf dem Beistelltisch steht ein Fo-
to, Niedobecka und ihre Freundin, beide lä-
cheln. Gerahmtes Glück. In ihrer Heimat,
auf dem Dorf, wäre Händchenhalten mit ei-
ner Frau schwierig, sagt sie. Hier aber:
Land of the Free. Es wäre so ein wichtiger
Schritt gewesen für die USA, endlich eine
Frau als Präsidentin zu haben, sagt sie,
und man vergisst fast zu fragen, wen sie ge-
wählt hat. Dann sagt sie: „Trump.“
Bitte was?
Karolina Niedobecka sagt, sie habe im-
mer republikanisch gewählt, weil das die
Partei sei, die Leistung belohne. „Wenn in
der Schule Sportfest ist, wollen die Demo-
kraten allen Schülerinnen und Schülern
Medaillen umhängen. Warum? Weil sie ge-
kommen sind.“ Einfach nur kommen, das
reiche ihr nicht. Sie ist ja auch nicht ein-
fach nur gekommen. Auch deshalb findet
sie die Mauer zu Mexiko nicht verkehrt.
Wer legal einreise und arbeite, der sei aber
jederzeit willkommen.
Karolina Niedobecka ist eine Frau, die
vorsichtig spricht. Einerseits, anderer-
seits. Einerseits seien die Republikaner die
Partei der Logik, das mag sie. Ihre Rechte
als lesbische, eingewanderte Frau nutzten
ihr nichts, wenn die Wirtschaft den Bach
runtergehe. Und Trump sei schließlich ein
Geschäftsmann. Mit ihm habe sie die
„Wild Card“ gegen die Etablierten in Wa-
shington gezogen, das sei nötig gewesen,
denn die USA hatten ihr Ansehen in der
Welt verloren, Obama hatte sie zu einer
schwachen Nation gemacht, das musste
sich ändern. Logisch, oder?
Andererseits sei Donald Trump ihr
schon auch peinlich. Bei seinem Amtsan-
tritt zum Beispiel habe er seiner Frau nicht
die Autotür geöffnet. Bei einem Treffen in
Washington habe er Angela Merkel nicht
die Hand gegeben. Und erst die Twitterei!
Karolina Niedobecka hofft nun, dass
sich ein anderer Republikaner als Präsi-
dentschaftskandidat durchsetzt. Und falls
nicht, wählt sie eben doch wieder: Donald
Trump.

Die Republikaner?
Könntenmit Geld umgehen.
Und die Demokraten?
Wollten die Faulen auch noch
fürs Faulsein bezahlen

Klar, Trump sei ihr
peinlich, sagt Karolina.
Aber er habe die USA
endlich wieder zu einer
starken Nation gemacht

Lächeln, nicken,
schweigen: Über Politik
reden sie lieber nicht
mehr auf der
Rankine Avenue

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12/13 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH


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Haus Nummer 2: Travis Brown, Grafikdesigner


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Haus Nummer 3: Chris Moffett, Inspektionsleiter bei einer Kranbaufirma Haus Nummer 5: Susan Richter, arbeitet mit Kriegsveteranen


Haus Nummer 4: Jaime McGuire, hilft psychisch kranken Menschen

Haus Nummer 7: Brian LeMaye, Fabrikarbeiter

Haus Nummer 6: Joyce Dabrowski Price, Köchin und Kellnerin

Haus Nummer 10: Karolina Niedobecka, arbeitet für ein Pharmaunternehmen

Haus Nummer 9: Alyssa Keel, arbeitet in einem Tankstellenshop

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FOTO: GOOGLE EARTH

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