Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
Das Team des Lichtdesigners Ingo
Maurer hat eine Martinslaterne
entworfen  Seite 22

von bernd graff

E

s gibt eine Radierung des spani-
schen Künstlers Francisco de Go-
ya vom Ende des 18. Jahrhun-
derts, deren Titel bekannter ist
als das Bild selber: „Der Schlaf
der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Dieser Ti-
tel hat in den Achtzigerjahren eine unge-
heure Konjunktur erlebt, weil man ihn als
programmatisch für die Gegenwart erleb-
te. Viele Menschen glaubten, das Zeitalter
der Moderne, der Aufklärung, des Rationa-
lismus sei an sein Ende gekommen, das
„Danach“ nur noch mit „post-“ beschreib-
bar. Und diese Post-Moderne war dann vie-
les, vor allem aber war sie das Ende von vie-
lem. Diskurs, Geschichte, Fortschritt, Ge-
sellschaftsvertrag – all das schien sich in ei-
nem Karneval des „anything goes“ aufge-
löst zu haben. Es gab kein mächtiges Narra-
tiv mehr, das dem Einhalt gebot, den Kar-
neval zur Ruhe bringen und wieder eine
Richtung vorgeben konnte – oder dies
auch nur wollte.
In der Orientierungslosigkeit, die dar-
aus folgte, im beklemmenden Gefühl von
Stillstand und (Über-)Sättigung, wirkte Go-
yas Titel wie ein Menetekel aus verbindli-
cherer Zeit. Die Vernunft schlief jetzt, und
irgendwelche Mythen tanzten auf den Ti-
schen. Viele Menschen im Westen verstan-
den die Welt nicht mehr und raunten sich
eine düstere Weissagung der Hopi-India-
ner zu. Sie gab als „Koyaanisqatsi“ gleich
den Titel für einen Film ab, der trotz der Mi-
nimalschleifenmusik von Phil Glass er-
staunlich erfolgreich war.
„Koyaanisqatsi“, eine Coppola-Produk-
tion von 1982, war ohne gregorianisches
Männerraunen gar nicht zu denken und
wurde übersetzt mit: „Leben im Ungleich-
gewicht“. Der Film zum Zivilisationsende
kam ohne Protagonisten und Dialoge aus
und galt als Antwort auf die Weissagung
der Cree: „Erst, wenn der letzte Baum gero-
det, der letzte Fluss vergiftet, der letzte
Fisch gefangen ist, dann werdet ihr sehen,
dass man Geld nicht essen kann.“


Liebe Kinder von „Fridays for Future“:
Auch eure Eltern waren einmal sehr, sehr
besorgt, selbst wenn sie wahllos die fal-
schen Indianer umarmten.
An diese Fundamentalverwirrung, die
Goyas Spruch zu seiner erstaunlichen Kar-
riere verhalf, muss man denken, wenn
man Robert Harris’ jüngsten Roman liest.
Er trägt den Titel „Der zweite Schlaf“ (Hey-
ne Verlag, 416 Seiten, 22 Euro). Und man
liegt nicht ganz falsch, wenn man ihn sich
nicht nur dem Titel nach als so etwas wie
Goyas Schlaf in der REM-Phase vorstellt.
Bloß heiterer. Doch nicht nur deshalb wer-
den Erinnerungen an die gute alte Postmo-
derne wach.
Unter den Romanciers ist Robert Harris
ein britischer Superstar. Klug, distin-
guiert, eloquent, ironisch, dabei von erlese-
ner Höflichkeit – ein Gentleman ohne Me-
lone. Barhäuptig jedenfalls empfängt er in
einer Suite in einem Münchner Luxusho-
tel, das immer noch eine Spur zu krachle-
dern wirkt für einen Herrn, für den das
Wort soigniert erfunden wurde. Robert
Harris dirigiert seinen Besucher an Sta-
peln von Kisten vorbei, die alle sein neues
Buch enthalten. Er hat gleich noch eine Ver-
anstaltung mit Lesung, ist aber auf den
Punkt konzentriert, gedankenschnell und
aufmerksam.
Das muss ein Wesenszug von ihm sein,
anders sind der Umfang seiner Stoffe und
die Tiefe der Recherchen nicht zu erklären.
Nicht nur, dass er die Antike mit Romanen
zu Pompeji und einer voluminösen Cicero-
Trilogie erschlossen hat, in „München“
führte er seine Leser nach Nazideutsch-
land zur Zeit der Appeasement-Politik der
Briten, er schrieb über das päpstliche Rom
und den Memoirenschreiber eines briti-
schen Premiers, dann aber auch über die
Tricks von Finanzjongleuren. Er hat mit
Roman Polanski zusammengearbeitet
und wurde „Kolumnist des Jahres“ für sei-
ne Texte im britischen „Telegraph“. Harris
ruht nicht.


Anders aber als die Johnson-Boys in der
aktuellen britischen Regierung, die sich
selbst für das eingelöste Versprechen der
Geschichte halten, wirkt Robert Harris we-
der versnobt noch elitär. Sein Anliegen ist
im Gegenteil die Demut vor der geschicht-
lichen Erfahrung, sein Thema ist die Ver-
gänglichkeit allen Ruhms, die Brüchigkeit
jeder Kultur, mag sie sich auch für über-
legen halten.
All dies ist für ihn nicht nur eine Dia-
gnose der fernen Vergangenheit. Auch un-
sere Kultur, sagt er, habe ihren Zenit über-
schritten: „Unsere gesellschaftlichen Sys-
teme und Institutionen, aber auch unsere
Methoden der Informationsverarbeitung
stammen noch aus analogen Zeiten. Viel-
leicht gelingt es uns deshalb nicht, mit den
Krisen der Gegenwart angemessen umzu-
gehen“, sagt er. Unsere Demokratien seien
anfällig „für Fake News und die Blasen aus
den sozialen Medien“.
Die Einsicht in die historische Relativi-
tät aller zivilisatorischen Errungenschaf-
ten macht Harris, den Bestseller-Autor, zu
einem Schriftsteller der Parahistoire, ei-
ner Geschichtsumschreibung mit dem kla-
ren Blick für die Gegenwart.
In „Der zweite Schlaf“ hat er dazu ein
Setting gewählt, das einer anderen Galions-
figur postmoderner Belletristik wohl zu-
tiefst behagt hätte: Umberto Eco. Denn wie
im „Namen der Rose“ erfahren wir zum
Auftakt von einem Novizen, einem Pries-
ter, der sich in die ihm unbekannte Welt ei-
nes späten Mittelalters aufmachen muss
und dort auf einen unerbittlichen, geheim
gehaltenen Glaubensstreit stößt. Harris
schickt seinen Helden etwa eineinhalb
Jahrhunderte später als Eco ins Rennen,
doch auch hier geht es um mittelalterliche
Deutungshoheit, um das, was gesagt und
gewusst werden darf.

Wie der Novize Adson von Melk bei Um-
berto Eco befindet sich auch Robert Har-
ris’ Christopher Fairfax mutmaßlich in ei-
ner unerschütterlichen, von der katholi-
schen Kirche unnachgiebig durchherrsch-
ten Wirklichkeit, die jeden Abweichler er-
barmungslos verfolgt. Doch je mehr Chris-
topher Fairfax von dieser Welt erfährt, um-
so mehr erweist sich die feste Ordnung als
brüchig, werden Vertuschungen offenbar,
kommen Wahrheiten einer ganz anderen
Geschichte ans Licht. Nichts stimmt in die-
ser Spätgotik.

Das erste Opfer dieser Enttäuschungen
ist der Leser. Harris lässt ihn nach und
nach merken, dass das Mittelalter, durch
das Fairfax stolpert, gar nicht in unserer
Vergangenheit, sondern in unserer Zu-
kunft spielt. Harris hat eine Retropie ver-
fasst, eine Geschichte aus der Vergangen-
heit, die jedoch in der Zukunft liegt.
Daraus folgt aber auch: Was wir heute
Gesellschaft, Moderne, Fortschritt nen-
nen, ist da längst verschwunden. Auch das
Wissen davon. Denn die Kirche, in deren
Auftrag Fairfax unterwegs ist, unter-
drückt alles, um das Gedächtnis an unser
Zeitalter, das in einer grandiosen Apoka-
lypse gescheitert sein muss, gar nicht erst

in die Köpfe unserer Nachfahren eindrin-
gen zu lassen. Denn für diese Zukunft wa-
ren wir die Frevler, alle Rationalität und
Wissenschaftlichkeit, Gottes- und Kirchen-
ferne haben uns in den verdienten Ruin ge-
trieben. Das darf sich nicht wiederholen,
und darum muss es aus den Annalen ge-
tilgt werden. Die Menschen von heute sind
verschwunden, und niemand vermisst sie.
Das ist ein typisch Harris’scher Ent-
wurf. Natürlich tauchen dann doch Spuren
auf, Plastik etwa, eine Glasscheibe, ein un-
brauchbares iPhone, von denen in Fairfax’
Welt niemand ahnt, was sie waren und wo-
zu sie nützlich gewesen sein könnten.
Doch es gibt auch Briefe. Einer stammt
von einem Nobelpreisträger aus unserer
Gegenwart. Darin warnt er vor Kollaps,
Ignoranz und Hybris, vor Klimakatastro-
phe, Antibiotika-Resistenz und Atom- wie
Cyberkrieg. Als Leser erschrickt man bei
diesem Warnschuss aus diesem Zukunfts-
mittelalter. Wir hätten es besser wissen
können. Und haben nichts unternommen.
Wenn man Robert Harris auf seine ei-
gentümliche Futur-II-Konstruktion eines
neuen Mittelalters in der Zukunft an-
spricht, führt er erst einmal aus, wie sehr
es ihn schon immer fasziniert habe, dass
eine Landschaft, ein Ort derselbe geblie-
ben ist, auch wenn er schon lange vor uns
bewohnt war: von Menschen, die sich
genau wie wir für die Avantgarde der
Schöpfung und das Optimum der Ge-
schichte hielten.
Doch stelle sich ja die Frage, warum
auch überlegene, hoch entwickelte und
technisch avancierteste Zivilisationen kol-
labieren. Kann es sein, dass es in ihnen ei-
nen Punkt maximaler Kultiviertheit und

Kommunikation gibt, eine feinnervige Aus-
differenzierung auch in technischen Fra-
gen, die den Zusammenhalt des Ganzen
sprengt? Ein Dekadenz-Phänomen? Eine
Art tödlicher Überkomplexität?
Nach Harris steckt in der Aufdeckung al-
ler historischen Relativität und Fragilität
von Gewissheiten durchaus ein Stück Auf-
klärung: „Dass Vernunft und Wahrheit in
liberalen Demokratien gerade von Fake
News und Verschwörungstheorien strapa-
ziert und geschwächt werden, dass sich un-
sere Gesellschaftssysteme als verwundbar
erweisen, erkennt man leichter mit dem
Blick des Archäologen auf unsere Gegen-
wart“, sagt er: „Man sieht dann nicht nur
die Brandbeschleuniger in den sozialen
Medien, man erkennt auch, dass autoritä-
re Strukturen, irrationales Denken und Ver-
schwörungstheorien überall an Kraft ge-
winnen. Und das, obwohl wir doch so super-
informiert sein wollen.“
Nein, er habe nicht nur eine Dystopie
des Jetzt formulieren wollen. „Falsche My-
then haben die Menschen immer nur
schwächer, primitiver gemacht. Wir wis-
sen es doch besser.“ Wirklich? Auch Robert
Harris räumt ja ein, dass wir „gerade ein
Wiederaufblühen des Fanatischen, der Ir-
rationalität“ erleben.
Harris hat seinem großen, vielleicht er-
nüchternden Gesellschaftsbefund mit
„Der zweite Schlaf“ ein spannendes neues
Kapitel hinzugefügt: Hybris und irregelei-
teter Glaube haben noch immer zu Regress
geführt, nicht zum Fortschritt. Wenn also
der – zweite – Schlaf der Vernunft wieder
Ungeheuer gebiert, dann sind wir diese
Ungeheuer.

DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 15


FEUILLETON


Elizabeth Jane Howards Romane galten lange
als schnödeFrauenunterhaltung.
Jetzt werden sie neu gelesen  Seite 18

Der Leser erschrickt bei
diesem Warnschuss. Wir hätten
es besser wissen können

Wir Ungeheuer


Was bleibt, wenn unsere Zivilisation untergeht? Eine Begegnung mit dem Schriftsteller


Robert Harris, der in seinem Roman „Der zweite Schlaf“ die Archäologie der Gegenwart betreibt


Je mehr der Held weiß, desto
brüchiger wirkt die Ordnung:
Nichts stimmt in dieser Spätgotik

Bastelbogen


Er ist so distinguiert, dass sogar


das Münchner Luxushotel


eine Spur krachledern wirkt


Ein Gespräch mit Emilia Clarke über
„Game of Thrones“ und ihre Kino-
komödie „Last Christmas“  Seite 17

Khaleesi


„Falsche Mythen haben die Menschen immer nur schwächer, primitiver gemacht“: Der britische Schriftsteller Robert Harris. FOTO:GARETH IWAN JONES, EYEVINE

FOTO: DPA

Wiederauferstehung


»›Die Zeit des Lichts‹ erzählt die Geschichte einer


Künstlerin, einer Freidenkerin, eines einzigartigen


Lebens. Dieser Roman funkelt auf jeder Seite.«


Paula McLain


Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner, 400 Seiten, geb. mit SU € 22,– (D) / € 22,70 (A), ISBN 978-3-608-96340-

In ihrem spektakulären
Debütroman erzählt Whitney
Scharer vom Leben der
Fotografi n Lee Miller. Sie
schildert die Pariser Bohème der
Dreißigerjahre, Lee Millers
Liebesbeziehung mit Man Ray
und ihre Arbeit als Kriegs-
reporterin. Vor allem aber zeigt
sie eine Frau, die sich weigerte,
in jemandes Schatten zu stehen,
und die sich als selbstbewusste
Künstlerin behauptete.

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