von kia vahland
E
s geht doch. Man kann Frösche
kreuzigen, sie mit heraushän-
gender Zunge, Spiegelei und
Bierkrug versehen. Man kann
die Friedensbewegung mit ei-
nem Weihnachtsmann assoziieren, der ei-
ne abstürzende Taube reitet – wer an Ab-
rüstung glaubt, mag das suggerieren, der
glaubt auch an den Mann mit Rute und
Bart. Und wenn einen die Kritiker dann ei-
nen politisch unzuverlässigen, ständig al-
koholisierten Zyniker nennen, ist dies die
beste Anregung für eine ironisch-selbst-
ironische Skulptur: So steht ein lebensgro-
ßer, bieder bekleideter Künstler mit Holz-
kopf (in anderer Fassung mit durchsichti-
gem Schädel voller Kippen) mit dem Ge-
sicht zur Wand in der Ecke und schämt
sich (oder auch nicht).
All dieser Spott ist möglich, will man das
widerständige, auch in offenen Gesell-
schaften noch anstößige Potenzial der
Kunst stärken, will man sagen: Kunstfrei-
heit ist nicht nur für den konsensorientier-
ten Mainstream da, sondern sie eröffnet
Räume der Fantasie zum Spiel mit allem
und jedem. Auch mit den Normen und
Werten der Mehrheit.
Der Konzeptkünstler, Maler und Bild-
hauer Martin Kippenberger wirkte vor al-
lem in den Achtziger- und Neunzigerjah-
ren, 1997 starb er mit 44 Jahren. Er wusste
nichts von den Gräben, die sich heute
durch die deutsche Kulturlandschaft zie-
hen, vom erbitterten Streit über Künstler
und Moral und darüber, dass man angeb-
lich „sehr aufpassen“ müsse, wenn man
heute seine Meinung öffentlich äußere (so
zitiert das aktuelleZeit-Cover eine Umfra-
ge). Er wusste auch nicht, wie rechte Den-
ker einmal versuchen würden, das vage
„Man-darf-nicht-mehr“-Gefühl zu verein-
nahmen für ihren Kampf gegen den „tie-
fen Staat“ und „das System“.
Kippenberger passte nicht auf, musste
das natürlich auch nicht, und provozierte,
polemisierte, witzelte herum, wie es ihm
und seinen Kumpels gefiel. Damit muss-
ten Katholiken, Pazifisten oder alle ande-
ren Herausgeforderten klarkommen,
auch wenn sie Kippenberger mitunter ge-
schmacklos fanden, weil sie selbst nie Tau-
ben zu Tode reiten und besoffene Frösche
ans Kreuz nageln würden.
Und sie kamen damit klar. Die Kunst-
und Redefreiheit auszukosten, das ging in
den Neunzigerjahren leichterhand, ohne
deshalb Gewaltopfer und deren Angehöri-
ge wie beispielsweise die Mütter von Sre-
brenica zu kränken.
Wie unverbittert, albern so eine Feier
der Kunstfreiheit aussehen kann, führt ei-
ne Kippenberger-Retrospektive in Bonn
vor Augen. Wobei sich erstaunlicherweise
zeigt, wie manches, was heute prägend ist,
damals schon angelegt war. Die ständige
visuelle Selbstbespiegelung beispielswei-
se, die nicht mehr heroisch, sondern be-
wusst lächerlich ist: Kippenberger hat sie
in seinen zahllosen Selbstporträts vorge-
lebt. Die hängende Unterhose wird zu sei-
nem Attribut. Denn Picasso besaß weite
Shorts, in denen er sich in seinem ganzen
Meisterkünstler-Stolz fotografieren ließ.
Bei Kippenberger wird daraus ein schlab-
bernder Lappen, der ihm unförmig um die
Schenkel baumelt; nicht immer hat dieser
Unterhosenmann auch einen Kopf, dafür
aber reichlich Bauch. Oder der Künstler
malt sich nach seinem, wie es im Werktitel
heißt, „Dialog mit der Jugend“: Sein gan-
zes Gesicht ist bandagiert, er kann die Au-
gen kaum noch öffnen, durch das Nachbar-
bild hüpft eine Ratte. Kippenberger war,
so die Legende, von einer Kreuzberger
Punkerin verprügelt worden. Grinsen
kann er trotzdem noch.
Das Lachen vergeht ihm auf den gezeig-
ten Werken eigentlich nur einmal. Kippen-
berger bezieht sich diesmal auf Théodore
Géricaults „Floß der Medusa“. Zuerst lässt
er sich in den Körperhaltungen der Schiff-
brüchigen fotografieren – in der Sicher-
heit seines Betts, er nimmt die Sache nicht
ganz ernst. Auch dem gewebten Teppich
mit konstruktivistischen Floßmotiv geht
das Pathos ab. Dann aber malt er sich von
hinten als Ausgesetzter, der vergeblich
mit seinem Taschentuch ein Schiff herbei-
wedeln will. Der dicke bleiche Leib ist ge-
schunden, vielleicht sollte der wacklige
Urinstrahl, den er abgibt, lustig sein, doch
das Bild hat tatsächlich etwas anrührend
Verzweifeltes. Keine Pose mehr, dieses
Selbstmitleid wirkt ausnahmsweise echt.
Ansonsten aber ist sein Körper ihm vor
allem Medium und Material. Wie er in al-
len Farben seiner Palette glitzert, in dem
bunt betupften Gewand, das doch gar
nicht zu dem klobigen grauen Gesicht pas-
sen mag. Überhaupt das Feminine: Er hat
offenbar weniger Berührungsängste als
manch andere Männer seines Alters. Ein-
mal pinselt er gemeinsam mit dem Kolle-
gen Albert Oehlen alles Mögliche, darun-
ter einen Ford Capri, mit orange lackier-
tem Haferbrei an. Dann schmiert Oehlen
die Tür einer gynäkologischen Praxis mit
der Pampe ein; später berichtet er, wäh-
renddessen habe Kippenberger sich auf
dem Gynäkologenstuhl in den Hintern fo-
tografieren lassen.
Das Delegieren eines Teils des Produkti-
onsprozesses hat bei Kippenberger Sys-
tem. So wie er den Haferbrei Oehlen über-
lässt, so kopieren später Assistenten seine
Werke (die er dann zerstört und im Abfall-
container ausstellt, weil sie ihm zu perfekt
vorkamen). Und er engagiert „Meister
Werner“, einen kommerziellen Plakatma-
ler, für seine Serie „Lieber Maler, male
mir“. Nach Schnappschüssen Kippenber-
gers von einem mobilen Souvenirladen
der DDR und anderen Straßenszenen pin-
selt „Meister Werner“ drauflos, und Kip-
penberger hat sich so nicht nur über den
expressiven, ich-betonten Gestus der Neu-
en Wilden lustig gemacht, sondern auch
über Gerhard Richters Fotorealismus. Ne-
benbei unterwandert er, wie auch in sei-
nem Gemälde „Sympathische Kommunis-
tin“, die Idee, West und Ost hätten ästhe-
tisch nichts miteinander zu tun.
Ob diese vielen Seitenhiebe auch einer
viel späteren Nachwelt noch verständlich
sein werden? Nicht unbedingt. Dass Kip-
penberger für den grauen Couchtisch in ei-
ner Installation (angeblich) als Platte ein
monochromes Bild Gerhard Richters ver-
wendet hat, muss man schon wissen, um
es zu goutieren. Es ist eine Stärke Kippen-
bergers, den Kunstbetrieb aufzuwirbeln,
gleichzeitig aber klammert er sich mit sei-
ner unbedingten Zeitgenossenschaft, sei-
nem ironischen Grundton am histori-
schen Moment fest und verharrt in ihm.
Unsere Gegenwart aber ist noch nah ge-
nug dran am später 20. Jahrhundert, um
sich beflügeln zu lassen von dieser unver-
schämten Leichtigkeit, mit der Kippenber-
ger immer wieder auch Sinnfragen verhan-
delt. Der gekreuzigte Frosch ist ja nicht
nur eine Toleranzprobe. Er ruft tatsäch-
lich die Schöpfungskraft auf, wenn er das
Ei als Symbol bemüht, das, etwa auf ei-
nem Madonnenbild Piero della Frances-
cas, für Fruchtbarkeit und die große Welt
im Kleinen steht. Und Kippenbergers
1984 geschaffenes Gemälde „Heil Hitler
Ihr Fetischisten“, das silikonbeschmierte
Bild eines kaputten gereckten Arms,
spielt vielleicht mit dem Tabu von Nazi-
symbolen, vor allem aber führt es Faschis-
ten, ähnlich wie es einst Salvator Dalí tat,
als auch emotional verblendete Fanatiker
vor.
Dieser Kämpfer für die Freiheit der
Kunst achtete genau drauf, sich keine fal-
schen Freunde zu machen.
Martin Kippenberger,BITTESCHÖN DANKESCHÖN,
Bundeskunsthalle in Bonn, bis 16. Februar. Kata-
log:49 Euro im Museum (snoeck Verlag).
Eine der aufregendsten Publikatio-
nen der deutschsprachigen Comic-
Szene trägt den Titel „Spring“. Ist
die Jahreszeit gemeint oder soll das
eine Aufforderung sein? Beide Les-
arten passen. Die Anthologie, die
seit 2004 jährlich erscheint und
stets einem bestimmten Thema
gewidmet ist, wird ausschließlich
von Zeichnerinnen gestaltet. Dazu,
dass die Neunte Kunst hierzulande
nicht mehr nur als eine Männersa-
che angesehen wird, hat „Spring“
entscheidend beigetragen. Eine
Chefredaktion gibt es nicht; Ent-
scheidungen fallen basisdemokra-
tisch im Kreis der Frauen, die mit
dem Projekt assoziiert sind. Nach
zwei Ausgaben zu den Themen
„Zukunft“ und „Arbeit“ dreht sich
im aktuellen „Spring“ alles um Sex
(Mairisch Verlag, 24 Euro).
Mit den handelsüblichen por-
nografischen Comics hat der Band,
zum Glück, nicht das Mindeste zu
tun. In einigen Beiträgen stehen
Lust und Liebe im Zentrum, in
anderen Gender-Fragen. Die groß-
artige Stephanie Wunderlich deckt
beide Aspekte ab. In „Enden als
jungfräulicher Freak“ erzählt sie
von pubertären Ängsten im Zusam-
menhang mit dem eigenen Körper
und von dem Schock, den das erst-
malige Betrachten von Porno-Hef-
ten in ihr auslöste, als sie zwölf
Jahre alt war. Für „Adult Corner“
dagegen hat sie diverse Kopulati-
onsszenen aus YouPorn in ihren
elegant-humoristischen Scheren-
schnitt-Stil übertragen; das schaut
wie eine Kreuzung des späten Ma-
tisse mit Ostblock-Graphik aus.
An pornografischer Deutlichkeit
fehlt es nicht; vulgär und peinlich
wird es dennoch nie. Doris Freigo-
fas feiert in „Overflow“ Orgasmus
und weibliche Ejakulation; Nina
Pagalies setzt unter Vulva-Porträts
Volksweisheiten aus aller Welt,
darunter aus Katalonien: „Die See
beruhigt sich, wenn sie die Vulva
einer Frau sieht.“ Aisha Franz schil-
dert in „Gender Traffic“ die Ge-
schichte eines Flirts mit konse-
quent verkehrtem Rollenverhalten;
keine ganz frische Idee, aber so
witzig umgesetzt, dass es erhellend
wirkt. Sehr schön ist auch „001“
von Jul Gordon. In lakonisch-sehn-
suchtsvollen Sätzen berichtet eine
Frau von einer leidenschaftlichen
Urlaubsaffäre. Zu sehen sind jedoch
nur ganzseitige Zeichnungen einer
menschenleeren, kaum möblierten
Wohnung. Wer diese Story liest,
muss sich ein eigenes Bild machen.
christoph haas
Studenten muss man wirklich alles
erklären. Sogar den linken. Dass
man Parolen nicht mit Pinsel und
Farbe an die Wände schreibt, son-
dern mit Filzstift und Sprühdose,
das machte dem SDS in Hamburg
1968 ein Eiffe vor. Allerdings
schrieb der Reserveoffizier und
Landvermessungslehrling keine
revolutionären Parolen auf Zebra-
streifen, Plakate und Straßenschil-
der. Peter Ernst Eiffe vermerkte
dort: „Rockefeller, Mao, Eiffe, das
magische Dreieck“, „Sorgt euch
auch um die Alten“. „Wer Krieg will
stirbt, Eiffe lebt lange“, oder
„Dutschke zeigt die Wunden, Eiffe
heilt.“ Denn Eiffe, der Erfinder des
deutschen Sponti-Graffito, machte
Wahlkampf für sich und das ironi-
sche Zeitalter, das erst viel später
kommen sollte: „Eiffe for Presi-
dent“ forderte er. Innerhalb von
zwei Wochen im Mai 68 überzog er
die Stadt so flächendeckend mit
seiner Kampagne, dass vonBildbis
Zeitjeder fragte: „Wer ist Eiffe?“ Er
hatte sogar ein Schattenkabinett:
„Eiffe Bundeskanzler, Springer
außen, Augstein innen, Bartels vom
Eros Center als Familienminister,
Heinemann Rest.“ Der extrem spie-
ßig herumlaufende Adoptivsohn
eines NS-Fregattenkapitäns weite-
te seinen „Protest gegen die absurd
erscheinende Welt des manipulier-
ten Verstandes“ aber auch auf die
Rituale des Studentenlebens aus.
Die frisch gekürte „Miss Universi-
tas“ signierte er auf dem Rücken,
und in die Vollversammlung des
SDS schlenderte er mit einer „Was-
ser-MP“ und mähte die Wortführer
mit scharfen Garben H2O nieder.
Schließlich fuhr Eiffe mit seinem
vollgemalten Fiat in den Haupt-
bahnhof und proklamierte dort die
„Freie Republik Eiffe“. Dafür kam
er in die Klapse. Nach fatalen Psy-
chopharmakavergiftungen kom-
plett psychiatrisiert, nahm er sich
an Weihnachten 1982 in einem
Moor das Leben.
An diesen kurz aufleuchtenden
Erfinder eines sarkastischen Messi-
anismus, wie ihn später Martin
Kippenberger oder Jonathan Meese
professionalisierten, erinnert nun
ein schön gemachtes Poesiealbum
mit dem Titel „Eiffe for President –
Alle Ampeln auf gelb“ (Assoziation
A Verlag), inklusive der DVD eines
Dokumentarfilms, den Christian
Bau 1995 gedreht hat. Völlig klar.
Diese Stimme muss wieder gehört
werden. Denn Eiffe heilt den verlo-
genen Ernst.till briegleb
Frauen im Gezipark: Josephine Köhler als Umut. FOTO:BJÖRN KLEIN
Unter den sonderbaren Heiligen
der Musik in unserer Zeit ist der
einzigartige Geiger Gidon Kremer
ein ganz spezielles Kaliber. Mit
seinen überraschenden Program-
men hat er schon manchen Konzert-
veranstalter verstört, mit grenzenlo-
ser Klangfantasie das Publikum
rund um die Welt gefesselt, indem
er nicht einfach Stücke von irgend-
jemandem spielt, sondern uner-
müdlich den tieferen Sinn der jewei-
ligen Musik auf eine je spezifische
Weise zu ergründen sucht.
In seinem Dokumentarfilm „Fin-
ding Your Own Voice“, (als DVD bei
accentus music), gelingt es Paul
Smaczny, den immer nachdenkli-
chen und eher scheuen Meister
ungemein sensibel und unauffällig,
gleichwohl höchst aufmerksam zu
begleiten. Da steht Kremer im In-
nenhof eines Häuserblocks in sei-
ner Geburtsstadt Riga und erzählt,
wie sehr dieser Hof für ihn Freiheit
von der Übefron bedeutete, zu der
ihn der Vater streng anhielt. Oder
wir schnüren gleichsam mit Kre-
mer durch das Tschaikowsky -Kon-
servatorium in Moskau, an dem er
nicht nur beim großen David Ois-
trach studierte, sondern das über-
haupt ein Ort voller Inspirationen
für ihn war. Oder Smaczny beobach-
tet eine Probe der Kremerata Balti-
ka. Daran nimmt der estnische
Komponist Arvo Pärt teil, ebenfalls
ein besonderer Heiliger der Musik:
freundlich, sanft, und doch uner-
bittlich im Anspruch, den seine
Musik bei der Realisierung fordert.
Diskret ist die Kamera dabei,
wenn Kremer eine Tochter in Paris
und die andere Tochter in Moskau
trifft. Natürlich klagt der Geiger
über die Strapazen des Reisens,
wenn es nach Tokio geht, und weiß
doch, dass es keine Alternative zur
lebendigen Begegnung mit dem
Publikum im Konzert gibt. So run-
det sich der Film zum behutsam-
eindringlichen Porträt eines stets
skrupulösen, aber nie zufrieden in
sich ruhenden Künstlers, der im
Geigenspiel seine ureigene Stimme
immer neu finden will und muss.
Das bestätigt der Mitschnitt des
Konzerts im Moskauer Gogol Cen-
ter, bei dem Kremer die 24 Prelu-
des von Mieczysław Weinberg
spielt zu den intensiven Bildern, die
der litauische Fotograf Antanas
Sutkus in den Sechzigerjahren
machte.harald eggebrecht
Die beiden hat es erwischt. „1000 Schmet-
terlinge“ haben sie im Bauch, flirten, ki-
chern, balgen sich, man kennt das. Trotz-
dem ist es ein ungewohntes Bild, wie
Umut und Janina auf der Bühne des Stutt-
garter Kammertheaters übers Bett kul-
lern und küssen. Ebru Nihan Celkan ver-
handelt in ihren Stücken selbstverständ-
lich, was in der Theaterliteratur bis heute
nicht ernsthaft angekommen ist: sexuelle
Vielfalt. Deshalb sind die beiden Hauptfi-
guren von „Last Park Standing“ Frauen.
Die eine aus Berlin, die andere aus Istan-
bul. Und das ist das Problem: Umut ist Ak-
tivistin, die die Türkei nicht verlassen will.
„Ich bleibe hier, verdammt.“
Vermutlich hat auch Ebru Nihan Cel-
kan schon auf dem Taksim-Platz die Re-
genbogenfahne geschwungen. Und wie ih-
re Hauptfigur hat auch sie sich entschie-
den, in der Türkei für bessere Zustände zu
kämpfen, selbst wenn die längst auch in
Deutschland tätig ist. Im Schauspiel Stutt-
gart hatte „Last Park Standing“ seine
deutschsprachige Erstaufführung, ein
Stück, das die Lebenswelt der jungen Ge-
neration künstlerisch aufgreift.
Ein Großteil der Handlung wird über Vi-
deonachrichten transportiert, die die
jungen Frauen zwischen Berlin und Istan-
bul hin- und herschicken. Wenn die Mäd-
chen auf dem Smartphone durch die Bil-
der scrollen und „Warte, warte, warte“ ru-
fen, dann ist das eine vertraute Szene.
„Last Park Standing“ erzählt das per-
sönliche Schicksal der zwei Frauen wäh-
rend der Aufstände 2013 in Istanbul. Hier
heißt es beiläufig „Alter, warum fällen die
die ganzen Bäume?“, dort werden „Hyä-
nen“ erwähnt, die immer in den Morgen-
stunden kämen. Plastisch werden die Er-
eignisse in der Türkei allerdings nicht.
Denn das Konzept – die Drastik der politi-
schen Situation durch die pathetische
Überhöhung der jugendlichen Liebe spür-
bar zu machen – geht nicht auf. Zu oft
setzt die Autorin auf Plattitüden und auf
schlichte Umgangssprache, auf „krass“
und „es sind alle von der Rolle“, garniert
mit poetischen Ausreißern wie „In mir ist
alles voller Scherben.“
Der Regisseur Nuran David Calis ver-
sucht mit stimmungsvollen Bildern zu
kompensieren, dass dem Stück jegliche
Kunstfertigkeit abgeht. Das Bühnenbild
von Irina Schicketanz ist halb gläsernes La-
byrinth, halb Wintergarten. Das Strobo-
skop blitzt, die Nebelmaschine gibt, was
sie kann und verwandelt die Figuren im-
mer wieder in geheimnisvolle Schemen,
die durchs Urwaldgrün geistern. Die bei-
den Darstellerinnen Anne-Marie Lux als
Janina und Josephine Köhler als Umut ma-
chen ihre Sache zwar gut, doch die Kluft
ist groß zwischen farblosem Realismus
und plötzlichem Pathos, etwa wenn sie
dramatisch Gesicht und Hände an die
Glasscheiben pressen.
Der Name Umut bedeutet Hoffnung.
Ebru Nihan Celkans Verdienst es ist, das
Theater diverser zu machen. Sie vermit-
telt sehr ernsthaft, dass sie die Hoffnung
auf eine Öffnung der Türkei nicht fahren
lassen will. Man solle bitte nachdenken
auch über das, was man nicht sieht und
hört, schickt sie in einem Prolog dem
Stück voraus.
Das Tragische an „Last Park Standing“
ist aber, dass die zelebrierte große Liebe
und das Pathos verhindern, dass sich Mit-
gefühl an den Schicksalen der Menschen
oder Interesse an den Missständen in der
Türkei einstellt. Das große politische The-
ma schnurrt letztlich zusammen auf die
profane Frage, die sich auch bei Wochen-
endbeziehungen zwischen Gelsenkirchen
und Butzbach stellt – ob man für die Liebe
die Heimat verlässt oder nicht.
adrienne braun
Ein Werk nennt er „Heil Hitler
Ihr Fetischisten“ – auch diese
Provokation ist durchdacht
Quiller ist verbohrt, er will seinen
Vornamen nicht preisgeben. Inge,
sagt er, als der fiese Oktober, ge-
spielt von Max von Sydow, ihn fragt
- obwohl er heftig unter Drogen
gesetzt ist. Quiller (George Segal) ist
ein US-Agent im gleichnamigen
Thriller, 1966, von Michael Ander-
son, nach einem Drehbuch von
Harold Pinter, jetzt auf DVD, der
sich ungeniert auf John-Le-Carré-
Terrain bewegt. Quiller wird nach
Berlin geschickt, um dem briti-
schen Geheimdienst zu helfen, den
Alex Guinness verkörpert, very
british. Gedreht wurde an Original-
schauplätzen, doch die Stadt schaut
absolut surreal aus. Kein Kalter
Krieg, sondern eine Bande Neona-
zis, das erklärt Guinness im Olym-
piastadion, und wenn er die Nazi-
bonzen erwähnt, ist im Ton ein
dünnes „Heil!“-Echo zu hören – in
der deutschen Fassung fehlt es.
(WVG). fritz göttler
Seine Selbstbildnisse sind
absichtlichlächerlich, nicht
heroisch wie Picassos Fotos
Krasse Küsse
auf dem Taksimplatz
Ebru Celkans „Last Park Standing“ in Stuttgart
Der Regisseur Nuran David
Calis schafftstimmungsvolle
Bilder mit Nebel und Urwald
16 FEUILLETON HF2 Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH
Unterwegs mit Gidon Kremer
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Unterhosenmann
MartinKippenberger wirbelte den Kunstbetrieb auf und zeigte, wie man Freiheit
spielerisch nutzt. Die Bundeskunsthalle Bonn zeigt eine herrliche Retrospektive
Eine Comic-Anthologie über Sex
Oben:„Ohne Titel (Window Shopping bis 2 Uhr
nachts)“, 1996. Unten: „Lieber Maler, male mir“, 1981.
ABB.: ESTATE OF MARTIN KIPPENBERGER, GALERIE GISELA CAPITAIN, KÖLN;
RADEMACHER /GÜNZEL, VG BILDKUNST BONN 2019
„Quiller“ auf DVD „Freie Republik Eiffe“
VIER FAVORITEN DER WOCHE