Jörg Fauser führte Leser in die Welt
der Abgehängten. Nun wird der
Kultautor wieder populär Seite 55
V
on allen Filmen und Momenten
aus der „Sesamstraße“ ist mir
einer am nachhaltigsten in Erin-
nerung geblieben, vielleicht,
weil man die Musik auch heute
noch immer wieder mal hört. „Lulu’s Back
in Town“ ist ein Klassiker aus den Dreißi-
gern. Dass sie in der „Sesamstraße“ früher
solche Songs gespielt haben, erzählt eine
Menge über die „Sesamstraße“, sie war
zwar für Vorschulkinder gedacht, aber
nicht nur für Vorschulkinder gemacht, die
Geschichte zu „Lulu’s Back in Town“ ist
ein schönes Beispiel. Worum ging es? Das
grüne Plüschmännlein Tony tritt auf, ein
Spießbürgerchen mit Haarkranz und Ober-
lippenbart. Tony singt von einer verflosse-
nen Freundin, die er bald wiedersehen
wird, „Lulu kommt heut zurück“, singt er,
und seine Vorfreude ist so gewaltig, dass er
bereit ist, eine Medienkrise heraufzube-
schwören, die es damals noch nicht gab.
„Ich bestell jetzt meine Zeitung ab/weil ich
nur noch Zeit für Lulu hab“, singt Tony,
und natürlich erwartet jeder, dass irgend-
wann eine wahrhaftige Zauberfrau um die
Ecke biegt. Aber dann – da war die „Sesam-
straße“ anders als andere Kinderprogram-
me – kam eben nicht das Erwartbare, son-
dern es schob sich ein gewaltiges blaues
Monster ins Bild. Dieses Monster also war
Lulu. Schwarze Perücke, rote Haarschlei-
fen. Lulu sah komplett irrsinnig aus.
Ich bin in der niedersächsischen Pro-
vinz aufgewachsen, Mitte der Siebziger
gab es dort noch Gemurmel, wenn ein jün-
gerer Mann mit einer älteren Frau zusam-
men war, sogar ein kleinerer mit einer we-
sentlich größeren – das war für die Spieß-
bürgerchen der Vorstadt irgendwie nicht
in Ordnung. Die „Sesamstraße“ ist es gewe-
sen, die mir erzählt hat, dass das doch in
Ordnung ist. Dass also dieser Mann, Tony,
sich offenbar sehnte nach der Gesellschaft
eines überlebensgroßen Flauschwesens,
war erst mal lustig, aber – im
Zweitgeschmack – eben nicht
nur lustig, sondern bewusst-
seinserweiternd, um es mal ent-
sprechend hoch einzuhängen.
Es gibt noch eine zweite Epi-
sode mit Tony und dem Mons-
ter, sie tanzen zum Song „Win-
dy“ vonThe Assocation, am En-
de fliegt das Monster durch die
Luft, knallt auf den Boden, irres
Geschepper. Danach hält es sich
das verschobene Maul. Unver-
gesslich. Ich habe immer ge-
dacht, das Monster hätte sich
den Unterkiefer gebrochen. So-
gar Jahre später fiel mir das wie-
der ein.
1969 landeten Menschen auf
dem Mond, 1969 war Wood-
stock, 1969 kam „Monty Py-
thon’s Flying Circus“ zum ers-
ten Mal im Fernsehen, und auch
die „Sesamstraße“. Am 10. No-
vember 1969 wurde die erste Folge in den
USA gezeigt, 1973 kam sie synchronisiert
ins deutsche Fernsehen, da war ich vier
Jahre alt, Kernzielgruppe. Ich bin Zuschau-
er der ersten Stunde.
Was war das für ein Programm? Die
Gesellschaft „Children’s Television Work-
shop“, kurz CTW, brachte eine Magazinsen-
dung für Kinder und Vorschulkinder, vor
allem für solche aus sozial benachteiligten
Schichten. Die „Sesamstraße“ sollte die
amerikanischen Kids von der Straße ho-
len. Lese- und Schreibübungen, Zeichen-
tricksequenzen, Einspielfilme, alles
schnell geschnitten, wie Werbefernsehen
ohne Werbung. Die Rahmenhandlung
fand statt in der Sesame Street, in den Hin-
terhöfen einer fiktiven Großstadtsiedlung
in Amerika, dort lebten mit den Figuren
echte Menschen namens Bob und Gordon
und Susanne, dort saßen schwarze und
weiße Kinder auf den Steinstufen der Trep-
pen vor den Häusern. In der Sesamstraße
hatte der Riesenvogel Bibo sein enormes
Nest. Und das Monster Oscar the Grouch
lebte da, Oskar der Griesgram.
Oskar wohnte in einer Mülltonne, diese
Behausung war eine Provokation deut-
scher Medienpädagogen, sie fürchteten,
Legionen deutscher Kinder würden, von
Oskar angestiftet, ihren Umzug in den
Ascheimer vorbereiten. Harald Hohen-
acker, Leiter der Projektgruppe Erzie-
hungswissenschaft beim Bayerischen
Rundfunk, schrieb: „Eine Mülltonne zur
schönste Wohnung der Welt zu machen
(...) grenzt an pädagogische Infamie.“ Der
BR zeigte die „Sesamstraße“ also nicht, im
Sendegebiet des aufgeklärten NDR aber
wurden wir flächendeckend versorgt. Ob-
wohl auch im Norden vor der „Sesamstra-
ße“ gewarnt wurde. Im März 1973 erschien
ein ausgesprochen schlecht gelaunter Arti-
kel imZeit-Magazin: „Anstatt sich den
Mysterien des ABC zu widmen, krächzt
das Monster nur immer ,Käkse‘.“ Zum
Glück gingen solche Warnungen bei uns
zu Hause ins Leere, ich konnte noch nicht
lesen, meine Eltern lasen nicht dieZeit.
So kam von 1973 an die „Sesamstraße“
montags bis donnerstags um 18 Uhr im
Dritten, in den Ferien konnte ich sie auch
vormittags sehen, sie kam im Ersten zum
Sendebeginn um 9.30 Uhr, und wenn man
schon um 9.15 Uhr einschaltete, sah man
ein Standbild mit der Aufschrift: „Wir war-
ten auf die Sesamstraße.“ Ich wartete auf
die „Sesamstraße“. Und ich ha-
be es nie bereut, jedenfalls
nicht in den ersten Jahren, als
die „Sesamstraße“ noch aus
Amerika übernommen, ins
Deutsche übersetzt und behut-
sam mit deutschen Elementen
angereichert wurde. Von 1978
an wurde dann eine deutsche
Rahmenhandlung eingebaut,
mit Lilo Pulver und Henning
Venske und dem schwergängi-
gen Bären Samson, das war mir
dann zu bräsig, ich war raus. Ich
war auch zu alt inzwischen.
Aber die ersten Jahre waren
groß. Die „Sesamstraße“ hat
meine ganz frühen Fernsehjah-
re geprägt wie kein anderes Pro-
gramm, und weil wir nicht weit
weg in den Urlaub fuhren, hat
mir die „Sesamstraße“ gezeigt,
wie es weiter weg aussieht. Sie
hat mein Leben bereichert, so
kann man es sagen.
Ein Beispiel: In den Siebzigern waren
schwarze Menschen im deutschen Durch-
schnittsfernsehen meist Klischeefiguren.
Im „Blauen Bock“ sang dasGolden Gate
Quartett: „Schwarzbraun ist die Hasel-
nuss“. Die Fußballerin Beverly Ranger wur-
de vom „Sportschau“-Moderator begrüßt
mit den Worten: „Schön und kaffeebraun
sind alle Frau’n aus Kingston Town.“
Schwarze mussten sich veralbern und re-
duzieren lassen, oft auf so eine süßlich gut
gemeinte Art, so lief das damals. Gordon
und Susanne in der „Sesamstraße“ benah-
men sich dagegen komplett souverän, sie
redeten mit den Monstern und erklärten
Kindern die Verkehrsregeln, sie waren für
mich die ersten Schwarzen (im Fernsehen,
damit im Leben), die sich nicht wie Clowns
benehmen mussten, und die
von den anderen nicht wie
Clowns behandelt wurden.
Dass alle Menschen gleich
sind – diese Botschaft wurde
von der „Sesamstraße“ immer
wieder unters Volk gebracht.
Und dass ein Monster wie Oskar
das Recht hat, schlecht gelaunt
zu sein, wenn es schlecht ge-
launt ist. Muss man sich denn
verstellen, um bei den anderen
anzukommen? So gesehen war
die „Sesamstraße“ damals auch
das Gegenprogramm zum Boh-
len- und Casting-Irrsinn des Ge-
genwartsfernsehens, in dem im
Tiefenrauschen immer behaup-
tet wird, dass es nur derjenige
zu etwas bringt, der sich mit
Haut und Haaren auf die Anfor-
derungen des Massenge-
schmacks hin ausrichten lässt.
Denn sonst ist er schwer ver-
käuflich. Und was wäre heute schlimmer,
als schwer verkäuflich zu sein?
Oskar war mein Lieblingsmonster, und
nicht nur meins. ImSpiegelstand, Früh-
jahr 1973: „In Ulzburg kippt der dreijähri-
ge Rudi noch immer die Ascheimer der
Nachbarschaft um, weil er Mülltonnen-Os-
kar nicht finden kann.“ Die „Sesamstraße“
sei „eine Gesellschaft guter Nachbarn, wo
jeder jedem hilft“, stand damals imZeit-
Magazin. Sie haben nicht richtig hinge-
schaut, so überzuckert war es gar nicht.
Ernie gab seinem Kumpel Bert eine mit,
wann immer es ging, nahm ihm den Regen-
schirm weg, brachte ihn um den Schlaf.
Der Klassiker: Ernie kann nicht schlafen,
Bert empfiehlt ihm, Schafe zu zählen. Statt-
dessen zählt Ernie Luftballons, er pustet
und presst Luft in den gedachten Ballon,
es ist ein perfekt auf die Pointe
hinkomponierter Sketch. Bert
schläft, noch schläft er, aber
der Ballon wird dick, dicker, je-
der weiß, dass er gleich platzt,
und wenn es dann tatsächlich
so weit ist, ist es immer noch
ein Knaller.
Nicht alles war pädagogisch
wertvoll, vieles war auch ein-
fach federleichter Quatsch:
Sherlock Humbug und das
Krabbelkäfer-Bonbon-Fest.
Aber hinter allen Sequenzen er-
kennt man das brillante Hand-
werk. Die Figuren stammen
aus der Werkstatt des genialen
Jim Henson, er hat Ernie früher
selber gespielt. Es gibt faszinie-
rende Aufnahmen vom Mons-
ter Grobi, wie es dem jungen
Stevie Wonder zuhört. Grobi ist
eigentlich nur ein Stück blaues
Fell, eine hellrote Nase, die Au-
gen. Trotzdem kriegt sein Puppenspieler
es hin, dass Grobi wie ein hoch konzentrier-
tes Kleinwesen rüberschaut zum Musiker,
staunend und bewundernd. Er lebt in die-
sem Moment, Grobi lebt.
Zum Bild der Klang: In Deutschland
wurden die Figuren von exzellenten Leu-
ten synchronisiert. Gisela Trowe, die deut-
sche Stimme von Gina Lollobrigida und Si-
mone Signoret, war in der „Sesamstraße“
Susanne Klickerklacker. Der Schauspieler
Gerd Duwner sprach Ernie, der Charakter-
darsteller Wolfgang Kieling sprach Bert.
Kieling war ein Gigant, der im „Tatort“ mit-
spielte, in „Die Geschwister Oppermann“,
in Hitchcocks „Der zerrissene Vorhang“.
Die Sprecher von heute haben nicht dieses
Format, die „Sesamstraße“ der Gegenwart
ist beliebiger, verniedlichter, verplüsch-
ter, braver. Wenn man Ernie
und Bert jetzt im Kinderkanal
sieht, haben sie nichts mehr
vom anarchistischen Witz der
Vergangenheit. Das Krümel-
monster ist auch auf Diät ge-
setzt worden.
Aber wer kann über 50 Jahre
die Form halten? In Amerika im-
merhin erreicht die „Sesamstra-
ße“ manchmal noch ein großes
Publikum. Die kanadische Sän-
gerin Leslie Feist hatte 2007 ei-
nen Hit, „1234“: das Video hat
13 Millionen Abrufe bei You-
tube. Ein Jahr später trat sie in
der „Sesame Street“ damit auf:
mehr als 270 Millionen Abrufe.
Die „Sesamstraße“ wird 50,
in einer Woche ist es so weit, sie
ist eine Legende. Aber hat sie
die Welt verbessert? Es sah
ganz gut aus, all die Jahre hat
sie erklärt, dass Weißhäutige
wie Schwarzhäutige sind und Blaufedrige
wie Rotfedrige. In der „Sesamstraße“ trat
schon in den späten Sechzigern ein aus
Plüschdamen gebildeter Chor auf, der die
Gleichbehandlung von Mann und Frau for-
derte: „Women can fly way up high on tra-
pezes / women can be roller skaters.
Women can help to find cures for diseases
/ women can hunt alligators.“
Aber trotzdem sitzt jetzt ein bitterer, ge-
fährlicher Präsident im Weißen Haus, der
von Pussys redet und rassistisches Zeug
twittert und der mexikanische Immigran-
ten Vergewaltiger nennt, und das schadet
ihm alles irgendwie nicht.
Wie sang Oscar seinerzeit in „The
Grouch Anthem“, der Griesgramhymne:
„You know what’s right with this world?
Nuttin!“ – Du weißt schon, dass nichts in
der Welt in Ordnung ist. Der Misanthrop
hat immer noch den klarsten Blick aufs
Panorama.
Bemerkenswert, wie tief sich das, was
man als Kind gesehen hat, einprägt. Als ich
Mitte der Neunziger zum ersten Mal in
New York war, waren da überall die kurzen
Steintreppen in den Nebenstraßen, manch-
mal standen auch riesige Metallmüllton-
nen herum, das war alles „Sesamstraße“,
live. Und, „Sesamstraße“ live war übrigens
auch der Boxkampf zwischen Arthur Abra-
ham gegen Edison Miranda 2006. Exper-
ten erinnern sich: Abraham brach sich den
Kiefer, sein Mund sah grotesk schief aus,
das war ungefähr der Moment, an dem mir
Windy wieder einfiel, das Monster damals
mit dem verbogenen Maul. Es war wie ein
Flashback.
Natürlich war die „Sesamstraße“ auch
das erste große Merchandising-Ereignis
des Fernsehens, es gab Ernie und Bert als
Handpuppen, die in Pappschachteln bei
uns im Spielzeugladen standen. An der Vor-
derseite war eine transparente Folie,
durch die ich die Figuren im Karton sehen
konnte, sie streckten die Arme nach mir
aus. Diese Puppen waren ziemlich teuer,
ich bekam immerhin die Fingerpuppen,
die günstiger waren, aber auch kleiner.
Vor zwei, drei Jahren füllte ich diese Lü-
cke, ich ersteigerte bei Ebay Ernie und
Bert-Handpuppen, Originale aus den frü-
hen Siebzigern, mit Stempel im Nacken.
Das Paar kostete keine zehn Euro, das ist
praktisch geschenkt, für ein Stück Kind-
heit. Sie waren gut erhalten. Ich begann,
weitere Exemplare heranzuschaffen. Sen-
timentale Idee: sie alle zusam-
menholen. Die Figuren sind un-
gefähr so alt wie ich, jede Puppe
trägt die Spuren des Lebens mit
sich herum, keine sieht aus wie
die andere. Abgeriebene Nasen,
nachgemalte Pupillen, Löcher
im Pullover. Einige sind von ih-
ren früheren Besitzern mal fri-
siert worden, aber zum Erwach-
senwerden gehört die Erkennt-
nis: Bei Puppen wächst nichts
nach.
Ganz oben im Büroregal
drängeln sich inzwischen, wie
auf einer Tribüne beim Spitzen-
spiel, 30 Ernies und 30 Berts,
vintage natürlich, zwei davon
komplett kahl, mehr passen da
nicht hin. Bei Ebay hatten die
Preise vorübergehend etwas an-
gezogen, weil der Bedarf rätsel-
hafterweise gestiegen war, aber
bei der Gelegenheit jetzt kann
man es ja verraten: Das war nur eine Blase,
denn es war nur mein Bedarf.
Unter den Figuren aus der „Sesamstra-
ße“ fühlt man sich nicht allein, auch wenn
man mal nachts länger im Büro bleiben
muss, um noch was fertigzuschreiben.
Dann ist es fast wie früher. Früher habe ich
ihnen bei der Arbeit zugesehen. Jetzt se-
hen sie mir bei der Arbeit zu.
Immer schön, wenn am Ende eins zum
anderen kommt. Happy Birthday, „Sesam-
straße“.
Heute
FOTO: IMAGO
Die Schauspielerin Jane Birkin ist
eine Stilikone. Sie selbst findet sich
aber nicht berauschend Seite 50 Die Bundesbank schlägt vor, das Rentenalter auf
knapp 70Jahre zu erhöhen. Wie soll das gehen? Zehn
69-Jährige sehen das sehr unterschiedlich Seite 51
Fenster
zum Hof
Im November 1969 kam
die „Sesamstraße“ ins Fernsehen.
Unser Autor gehörte damals
zur Kernzielgruppe – und lernte mit
Ernie und Bert die Welt kennen
von holger gertz
Ein
Monster
wie Oskar
hat das
Recht,
schlecht
gelaunt
zu sein
Heute ist
die Serie
braver.
Aber wer
kann schon
50 Jahre
die Form
halten?
Vom
Leben
gelernt:
Haare
von
Puppen
wachsen
nicht nach
DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 49
GESELLSCHAFT
Gestern
FOTO: IMAGO
Morgen
Corinna Harfouch erzählt im großen
Interview,warum Disziplin wichtig ist
und Klischees sie nerven Seite 56
Sei so lieb!
FOTO: DPA
Bei deutschen Sendern
war man zunächst
skeptisch, ob ausge-
rechnet die Bewohner
der Sesamstraße (v.l.:
das Krümelmonster,
Mariechen, Ernie,
Elmo, Bert, Oskar,
Grobi und hinten Bibo)
den Kindern gute
Vorbilder sein können.
FOTO: KNA