Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

W


er schon mal mit Kopfschmer-
zen am Morgen nach einer
durchgeschlampten Nacht eine
Coke getrunken hat, weiß: Das zuckrige
Zeug ist eine Religion. Was in einer idea-
len Welt Grund genug wäre, den ikoni-
schen Schriftzug American-Way-of-Life-
mäßig auf dem Rücken zu tragen, wie
auf dieser schönen Jeansjacke, die
gerade in Zusammenarbeit mit dem
italienischen Denim-Label Diesel ent-
standen ist. Aber leider ist die Welt nicht
ideal. Die Umweltbewegung „Break Free
from Plastic“ hat den Getränkekonzern
gerade zum zweiten Mal zum plastik-
schmutzendsten Unternehmen der Welt
ausgerufen. Mit großem Abstand dahin-
ter folgen Nestlé und Pepsi. Was ja erst
mal nur beweist, dass Coke besser
schmeckt. Aber Coca-Cola ist sich des
Imageproblems mittlerweile bewusst
und hat dieses Jahr eine Technologie
präsentiert, die verunreinigtes Plastik
aus dem Meer wieder aufbereiten kann.
Schon vom nächsten Jahr an soll eine
nicht näher bezifferte Zahl neuer Plastik-
flaschen zu einem Viertel daraus beste-
hen. Darf man die Jacke mit dem Coke-
Logo also tragen? Klar darf man, oder
um es mit dem Produkttext im Online-
Shop zu sagen: „Diese klassische Jeans-
jacke im Workwear-Stil verschafft dir
nicht nur Styling-, sondern auch Karma-
Punkte, weil sie aus wiederverwerteten
Materialien besteht.“ Mit Konsum das
Karma reinigen, das klingt natürlich
sehr verlockend. Stilvoller wäre es aller-
dings, der Wahrheit ins Auge zu sehen:
Die alte Jeansjacke geht noch. Und Cola
aus Glasflaschen schmeckt immer noch
am besten.julia werner


Für ihn: Trag,


was du isst


Für sie: Trinken


reicht nicht mehr


I


m Jahr 1661 bekam König Karl II.
feierlich eine reife Ananas über-
reicht. Es war die erste ihrer Art, die
es an einen europäischen Hof schaffte,
und weil sie so süß und selten war, galt
sie umgehend als Luxussymbol. Ananas-
Übergaben wurden fortan in Öl festgehal-
ten, die Frucht wurde in Stein gehauen
und als Schmuck für prunkvolle Torein-
fahrten verwendet, im 18. Jahrhundert
baute sich ein schottischer Lord sogar
ein Sommerhaus in Form einer Ananas.
Ein Obst-Hype ist also eigentlich nichts
Neues. Trotzdem sind die Anzüge, die
das neue Fashionlabel Meals in Los Ange-
les entwirft, etwas ungewohnt. So gerne
man hin und wieder mit einer Wasserme-
lone oder ein paar Shrimps zu tun hat,
als Inspiration für das eigene Outfit hat
man sein Essen bisher eigentlich nicht
betrachtet. Im Gegenteil – zu viel Melo-
ne auf dem Anzug galt eher als schädlich
für den Gesamteindruck. Nun aber bie-
tet Meals (Slogan: „Wear What You Eat!“)
ein ganzes Sortiment in den Naturde-
signs von Avocado, reifer Banane und ja,
auch Ananas. Angesichts dieser Hosen
und Jacken fällt einem erst auf, wie inter-
essant und, äh, farbkrass Früchte ausse-
hen. Die Canvas-Anzüge des Labels sind
übrigens nicht nur unisex geschnitten,
sondern haben auch extra geräumige
Taschen, angeblich um Lebensmittel
vom Markt transportieren zu können.
Designer Sam Salad (Künstlername)
experimentiert schon länger an der
Schnittmenge von Essen und Mode.
Früher hat er Jeans mit Attributen aus
der Gastronomie beworben. Großer
Quatsch? Vielleicht. Aber auch sehr kali-
fornisch.max scharnigg FOTOS: DIESEL X COCACOLA, MEALS


Einatmen,


ausatmen


Den Wellnesstrend der


Saison beherrscht jeder – und kostenlos


ist er auch: Wie Luft zum Wirkstoff der


Selbstoptimierung wurde


von tania messner

W

ie die Modeindustrie lie-
fert auch die Sport- und
Wellnessbranche regel-
mäßig neue und selbst-
verständlich brandheiße
Trends. Wer schon länger auf sich achtet,
kennt die mehr oder weniger langlebigen
Neuerungen der Fitnessstudios und Per-
sonal Trainer. Wer will, stärkt aktuell sei-
ne Körpermitte und Balance bei Pilates-
und TRX-Kursen, studiert Choreografien
bei Zumba und Bokwa ein oder powert
sich bei Barre-Training oder Piloxing aus.
Der kleinste, gemeinsame Nenner der
Sportangebote, die einen fitter und gesün-
der machen sollen ist: Bewegung.
Vor diesem Hintergrund klingt es erst
einmal nach einem Scherz, was bei Fit-
ness-Gurus gerade als nächstes großes
Ding gehandelt wird: Atmen. Genauer:
Atmen-Work-outs. Geht es noch unambi-
tionierter? Man kann ja nicht nicht at-
men. Oder nur sehr kurz. Es gilt die Dreier-
Regel: Man überlebt drei Wochen ohne Es-
sen, drei Tage ohne Wasser und drei Minu-
ten ohne Sauerstoff. Zumindest wenn
man nicht Apnoe-Tauchen betreibt und
mehr als neun Minuten schafft.
20 000 Mal am Tag atmet der Mensch
durchschnittlich ein (und wieder aus) und
saugt dabei etwa 10 000 Liter Sauerstoff
in die Lungen. Das hat Jessica Braun re-
cherchiert, die mit ihrem Buch „Atmen –
Wie die einfachste Sache der Welt unser
Leben verändert“ (Kein & Aber Verlag) ei-
nen sehr lesenswerten Bestseller ge-
schrieben hat. „Mir ging es nicht darum,
den Leuten zu allen anderen Dingen, die
sie stressen, auch noch Atemhausaufga-
ben zu geben“, mailt die Autorin aus
Miami, wo sie auf Lesereise ist. „Ich woll-
te vor allem zeigen, über was für eine au-
ßerordentliche Fähigkeit wir alle verfü-
gen, und wie sich diese einsetzen lässt,
um vielleicht ein bisschen gelassener und
entspannter durchs Leben zu gehen.“

Denn die wenigsten Menschen saugen
den Sauerstoff tief in den Brustkorb und
Bauch hinunter. Die meisten atmen zu
flach und messen der Ausatmung zu we-
nig Bedeutung bei. Genau da wird es je-
doch erst interessant: Wenn nicht gut aus-
geatmet wird, gibt es zu wenig Platz für
frischen Sauerstoff in der Lunge.
Das Thema erobert den Lifestyle-Be-
reich: DasWomen’s Health Magazinehat
„Breath Work“, also die Atemarbeit, zum
wichtigsten ganzheitlichen Gesundheits-
thema im Jahr 2019 erklärt. In London ist
Richie Bostock mit seiner Atem-Work-
shop-Firma Xhale Breathwork extrem er-
folgreich, und in New York ersetzen im-
mer mehr Leute ihre Psychotherapiestun-
den mit sogenannten Virtual Breathwork
Sessions. Neben dem Marktführer „Breet-
he“ gibt es eine ganze Menge Atem-Apps

wie Box Breathing, Breathe Ball, Pure Breat-
he, Breathe Easy, Kardia oder Breathe2Re-
lax. Und seit Hillary Clinton in ihrer Biogra-
fie erklärte, welche Atemtechnik ihr aus
dem Tief nach ihrer Wahlniederlage half,
weiß halb Amerika, was die Wechselat-
mung ist. Auch bei uns erfreuen sich Atem-
kurse immer größerer Beliebtheit. Bei-
spielsweise bei high-balance.com, brea-
thworks.de, erfahrbarer-atem.de. Atmen
kann man lernen, etwa auch in Hamburg.
„Psychedelic Breath“ heißt die Veranstal-
tung mit Eva Kaczor im Meridian Spa & Fit-
ness Club in Eppendorf. Kaczor ist Diplom-
Psychologin und bezeichnet sich selbst als
„Breathwork & Meditation Teacher“. Sie
hat das Programm vor zwei Jahren entwi-
ckelt, nachdem „die Idee dazu in einer Me-
ditation zu mir kam“. Wie halt so geredet
wird, wenn man sich sehr intensiv mit dem
Ich auseinandersetzt. Kaczor ist 43, sieht
blendend aus, wie eine Influencerin, und
spricht auch so. „Man kann sein Herz nicht
belügen, deshalb ist die Stunde für die
meisten sehr schön“, sagt sie zur Begrü-
ßung. „Es kann sehr emotional werden,
zum eigenen Purpose im Herzen zu gelan-
gen“. Ziel sei es, eine andere Dimension zu
erreichen, ohne dafür 50 Jahre meditieren
oder etwas Bewusstseinserweiterndes
schlucken zu müssen. Kazcor konzentriert
sich auf die Atem-Retention, also das An-
halten des Atems, und hat für ihre Praxis
„uraltes Wissen aus der Yogaphilosophie
mit neuesten Erkenntnissen aus der Neuro-
wissenschaft und dem Lebensgefühl der
elektronischen Musikszene kombiniert“.
Kazcor hat auch schon auf dem „Bur-
ning Man“-Festival, dem jährlichen Neo-
Hippie-Großtreffen in der Wüste von Neva-
da unterrichtet. Sie weist die Teilnehmer
an, mit geschlossenen Augen kraftvoll ein-
und auszuatmen und den Atem immer wie-
der zu stoppen, in immer längeren Interval-
len, zu Elektromusik. Schon nach einer Mi-
nute wird der Körper warm, um einen her-
um schnauben die Kursteilnehmer, es hört
sich an wie ein Hechelkurs auf Ecstacy. Kaz-
cor und ihre Assistentin halten den Teilneh-
mern ätherische Öle unter die Nasen. Hin-
terher berichten beglückt wirkende Atmer,
es habe auf ihrer Haut gekribbelt, als habe
man sie mit Champagner übergossen. Man
kann sich leicht über all das lustig machen,
aber auch ohne psychedelische Bewusst-
seinsveränderungen fühlt man sich für
den Rest des Tages frischer, wacher, auf-
nahmebereiter.
Der Effekt ist nicht ganz unbekannt,
beim jahrtausendealten Yoga nehmen die
Atemübungen, das sogenannte Pranaya-
ma, einen wichtigen Teil der Lehre ein.
Durch die Übungen wird die Lebensener-
gie (Prana) erhöht, man lernt, mehr Sauer-
stoff tiefer in den Körper zu leiten, und da-
mit Muskeln zu dehnen und Blockaden zu
lösen, was wiederum einer der Gründe sein
dürfte, weshalb Yoga weltweit derart erfolg-
reich ist. Allein in Deutschland üben mehr
als drei Millionen Menschen regelmäßig
und praktizieren beispielsweise die soge-
nannte Ujjayi-Atmung. Bei dieser Übung
wird ein „H“ ausgehaucht und der Mund
dabei verschlossen, wodurch sowohl beim

Ein- als auch Ausatmen durch die Nase ein
feines Rauschen entsteht, das ein bisschen
nach Darth Vader klingt.
Oder „Kapalabhati“, der sogenannte Feu-
eratem, bei dem man das Zwerchfell kraft-
voll und stoßweise aktiviert. Der Körper er-
wärmt sich dabei schnell, das Stresshor-
mon Cortisol sinkt, das Immunsystem
wird, wenn man es regelmäßig macht, ge-
stärkt.
Wer mal versuchen will, wie anstren-
gend richtiges Atmen sein kann, muss nur
mit der Wechselatmung anfangen. Dazu at-
met man über ein Nasenloch ein, während
man das andere mit einem Finger ver-
schließt, den Atem in der Fülle kurz anhält
und über dasselbe Nasenloch doppelt so
lange ausatmet. Dann wechselt man die Sei-
te. Einatmen, ausatmen. Anfänger werden
kurzatmig, Profi-Atmer spüren mindes-
tens Entspannung und Wärme.
Wer regelmäßig übt, versteht Hermann
Hesses Siddhartha besser, der sich in der
gleichnamigen Erzählung jahrelang mit sei-
ner Atmung beschäftigte und es nicht als
verschwendete Zeit empfand. Am Schluss
setzt er sich an den Fluss und blickt nur
noch aufs Wasser. Mehr braucht er nicht,
nur Atem und Natur, das pure Sein. Der Hin-
tergrund für Hesses Erfolg war die Industri-
alisierung, heute sind es die Globalisierung
und Digitalisierung, die den Menschen die
Luft nehmen. Theodor Fontane könnte
recht damit haben, wenn er sagt: „Es ist
und bleibt ein Glück, vielleicht das Höchs-
te, frei atmen zu können.“

Heute würde man Siddharthas Weg ver-
mutlich als Achtsamkeitsübung verstehen.
Als Arbeit am Selbst, oder an den letzten
Prozent der Selbstoptimierung. Im Gegen-
satz zum Herzschlag und Stoffwechsel, die
wir über unser Gehirn nicht direkt ansteu-
ern und beeinflussen können, können wir
unsere Atmung verändern – und mit ihr vie-
le andere Dinge im Körper.

Wer doppelt so lange ausatmet als einat-
met, beruhigt den Puls und signalisiert
dem Körper: alles in Ordnung. Die Solda-
ten der US-Navy-Seals praktizieren die so-
genannte taktische Kampfatmung, eine
Technik, die den Puls verlangsamt, die Auf-
merksamkeit schärft und die Nervosität
senkt. Dazu trainieren die Scharfschützen
das Dreimal-vier-Prinzip: durch die Nase
einatmen, zwei, drei, vier, halten, zwei,
drei, vier und ausatmen, zwei, drei, vier.
Obendrein kann die richtige Atemtech-
nik auch ein überaus effizientes Werkzeug
sein, um Gefühle zu regulieren. „Jede Emo-
tion ist mit einem eigenen Atemmuster ver-
knüpft“, hat die Professorin Emma Seppä-
lä, wissenschaftliche Leiterin des „Zen-
trums für Mitgefühl und Altruismusfor-
schung“ an der Universität Stanford, her-
ausgefunden. „Wird es geändert, beein-
flusst das auch das damit verbundene Ge-
fühl.“ Seppälä hat Atemübungen mit trau-
matisierten Kriegsheimkehrern durchge-
führt, und tatsächlich minderten sich bei
den Teilnehmern der Studie Schuldgefüh-
le, Angstzustände und Depressionen um
40 Prozent, während sich die Schlafquali-
tät sogar um mehr als 70 Prozent verbesser-
te. Auch noch ein Jahr nach Studienende.
Jessica Braun, die für ihr Buch auf einer
Geburtsstation war, um den ersten Atem-
zug eines Menschen zu beobachten, und in
einem Hospiz für den letzten, die mit Wis-
senschaftlern und Gurus gesprochen hat,
übt seitdem täglich. Sie schreibt: „Wenn
wir einatmen, inhalieren wir die Seufzer So-
krates’, Goethes Husten, das Flüstern von
Anne Frank und das Lachen von Romy
Schneider.“ Sie beruft sich dabei auf die
These, dass ein einzelner Atemzug uns mit
Zukunft und Vergangenheit verbindet. At-
men wir aus, entlassen wir Atome in die
Welt, die schon unsere Großeltern mit ih-
rem letzten Atemzug aushauchten und die
eines Tages die Lungen unserer Enkel fül-
len werden. Mit dem Atem ist man mit dem
Leben an sich verbunden, mit allem, was
schon war, und allem, was noch kommen
wird. Und das Beste: „Atemübungen sind
nicht anstrengend. Jeder, der gesund ist,
kann sie machen – überall und kostenlos.“

LADIES & GENTLEMEN


„Es kann sehr emotional werden,
zum eigenen Purpose im Herzen
zu gelangen“, sagt die Trainerin

Heute sind es Globalisierung
und Digitalisierung, die den
Menschen die Luft nehmen

Wer bewusst atmet,
fühlt sich oft frischer
und wacher. Auch
beim Yoga gehören
diese Techniken zur
Lehre, zum Beispiel
die Wechselatmung:
Man atmet über ein
Nasenloch ein, während
man das andere
mit einem Finger
verschließt, die Luft
kurz anhält und über
dasselbe Nasenloch
doppelt so lange
ausatmet. Dann
wechselt man die Seite


  • und es wird
    einem ganz warm.
    FOTOS: F1ONLINE


DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 57


STIL


Der Popstar Billie Eilish ist längst
auch eine Stilikone. Aber was für ein
Stil soll das sein?  Seite 58

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