Berlin –Erst hober Robert Habeck auf
den Schild. Nun hat Baden-Württembergs
Ministerpräsident Winfried Kretsch-
mann (Grüne) sich in der Debatte um die
grüne Kanzlerkandidatur korrigiert.
Kretschmann hatte am Donnerstag bei ei-
ner Veranstaltung in Stuttgart gesagt, Par-
teichef Robert Habeck sei geeignet als grü-
ner Kanzlerkandidat. Die gleichgestellte
Parteichefin Annalena Baerbock erwähn-
te er gar nicht erst. Am Freitag dann ruder-
te Kretschmann zurück. „Die Grünen kön-
nen sich freuen, dass sie zwei Bundesvor-
sitzende haben, die beide kanzlerkandida-
tenfähig sind“, sagte er derSüddeutschen
Zeitung.
Kretschmann war am Donnerstag im
Stuttgarter Schauspielhaus von Entertai-
ner Harald Schmidt gefragt worden, wer
von den Grünen für eine Kanzlerkandida-
tur infrage komme. Kretschmann antwor-
tete, ohne lange zu zögern: „Habeck.“ Der
Parteivorsitzende sei ein guter „Kommu-
nikator“. Parteichefin Annalena Baerbock
erwähnte Kretschmann mit keiner Silbe.
Der Auftritt, über den zuerst derSternbe-
richtete, kam auch bei grünen Habeck-
Fans nicht gut an. Frauen und Männer
sind in grünen Doppelspitzen laut Sat-
zung gleichberechtigt, mehr noch: Frauen
haben bei der Aufstellung von Redner-
oder Kandidatenlisten den Vortritt. Zum
anderen ist noch offen, ob es überhaupt ei-
ne grüne Kanzlerkandidatur geben soll.
Habeck vorschnell zum Kanzlerkandida-
ten aufzurufen, das werde ihm eher scha-
den als nützen und Widerstände – etwa
von grünen Frauen – gegen seine Kandida-
tur wecken, befürchten manche Grüne.
Kretschmann bereut seine Bemerkung
nun offenbar. „Die Entscheidung, ob die
Grünen eine Kanzlerkandidatin oder ei-
nen Kanzlerkandidaten aufstellen, steht
zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht an.
Demnach auch nicht die Frage, wer das im
Zweifel machen soll. Und schon gar nicht
bin ich derjenige, der darüber entschei-
det“, sagte er der SZ. Seine Äußerung sei
„in einem lockeren Gespräch“ mit Harald
Schmidt gefallen, „sie war natürlich Aus-
druck meiner Wertschätzung Robert Ha-
beck gegenüber.“ Kretschmann sagte, er
kenne Habeck seit vielen Jahren. „Das be-
deutet aber keineswegs, dass ich Annale-
na Baerbock in der ersten Zeit als Bundes-
vorsitzende weniger schätzen gelernt ha-
be.“ Keinesfalls habe er der Partei vorgrei-
fen oder einen der möglichen Kandidaten
bevorzugen wollen: „Wir haben zwei her-
ausragende Bundesvorsitzende, die die
Grünen im Bund zu einer relevanten Kraft
gemacht haben. Das kann man nicht oft
genug loben und herausstellen.“
Weder Baerbock noch Habeck wollten
Kretschmanns Auftritt kommentieren.
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner
distanzierte sich. „Das ist gerade nicht un-
sere Debatte. Wir werden alle relevanten
Fragen rechtzeitig vor Bundestagswahl ge-
meinsam mit der Partei beantworten, und
zwar dann, wenn sie konkret anstehen“,
sagte er. Die Grünen wollen Streit um eine
Kanzlerkandidatur unbedingt vermei-
den. Im Bundesvorstand hoffen einige,
dass Baerbock und Habeck sich im Ernst-
fall untereinander einigen, bevor die Per-
sonalie einem Parteitag vorgeschlagen
wird. Andere halten eine grüne Kanzler-
kandidatur nur für sinnvoll, wenn die Par-
tei auch vor der nächsten Bundestagswahl
in Umfragen noch auf Platz zwei liegt.
Dann könne sie die CDU direkt angreifen.
In zwei Wochen stellen Baerbock und Ha-
beck sich erneut zur Wahl, als Parteivorsit-
zende. Mit Zustimmung wird gerechnet.
constanze von bullion Seite 4
Rausgerutscht
Ein Lapsusvon Winfried Kretschmann ärgert viele Grüne
Ministerpräsident Winfried
KretschmannFOTO: DPA
Schwäbisch Hall– Was bleibt, nach ei-
nem Leben von 92 Jahren, an was erinnert
man sich? In der Evangelischen Kirche St.
Michael sind fast alle Reihen gefüllt, der
Schwiegersohn an der Orgel und die Enke-
lin an der Violine spielen Bach. Erhard
Eppler hatte die Stücke selber ausge-
sucht. Es sprechen die Dekanin, die Gene-
ralsekretärin des Evangelischen Kirchen-
tags, die kommissarische SPD-Vorsitzen-
de, der frühere Bundeskanzler. Ihre Re-
den haben eine Gemeinsamkeit, ebenso
wie jene später in der Gedenkfeier der
Stadt: Alle enthalten sie Zitate von Eppler.
Anne-Kathrin Kruse, die Dekanin: „Wer
zu früh kommt, den bestrafen die Partei-
freunde.“ Julia Helmke vom Kirchentag:
„Wir werden klüger, wenn wir uns ande-
ren Menschen zuwenden.“ Malu Dreyer,
die derzeit die SPD repräsentiert: „Viel-
leicht werden wir in Zukunft begreifen,
dass der Versuch, Europa über den Wett-
bewerb zu schaffen, eine Schnapsidee
war.“ Gerhard Schröder, der dies seit lan-
gem hinter sich hat: „Politik ist gelegent-
lich an der Grenze dessen angesiedelt,
was Menschen tun können, ohne an der
Seele Schaden zu nehmen.“
Erhard Eppler gehörte zu jenen Politi-
kern, deren Bedeutung man nicht erfasst,
wenn man sie an Ämtern misst, oder dar-
an, wie kurz oder lang diese zurückliegen.
Hinter seinem Sarg, geschmückt mit Ro-
sen und Sonnenblumen, ist der Kranz der
„Bundeskanzlerin der Bundesrepublik
Deutschland“; weil Eppler einst Bundes-
minister für Wirtschaftliche Zusammen-
arbeit war, von 1968 bis 1974. Das Bemer-
kenswerte an ihm war, dass er in all den
Jahrzehnten seitdem kein großartiges
Amt brauchte, im Grunde auch nicht das
eines „Vorsitzenden der Grundwertekom-
mission der SPD“ oder des Kirchentags-
präsidenten, um Debatten zu Migration,
Sozialpolitik, Frieden oder Russland zu
prägen und Menschen zu inspirieren.
Epplers Größe erwuchs aus Klarheit in
Denken und Sprache. Er durchdachte je-
de Frage als solche, er bildete sich ein Ur-
teil immer wieder von neuem – und da
Wahrheit ja keine Frage von Mehrheit ist,
analysierte und formulierte er ohne Orien-
tierung an dem, was gerade wohlfeil war.
Seine Sprache: einfach, klar, ohne Text-
bausteine, niemals besserwisserisch.
Manche Menschen drücken auch die sim-
pelsten Dinge kompliziert aus. Bei Eppler
war es genau andersherum. Gerhard
Schröder sagt: „Er hatte eine unglaubli-
che Überzeugungsmacht.“
Erhard Eppler war der SPD-Politiker,
der am 10. Oktober 1981 im Bonner Hof-
garten auf der berühmten Demonstration
gegen die Nato-Nachrüstung und damit
gegen den SPD-Kanzler Schmidt sprach.
Erhard Eppler war aber auch der SPD-Po-
litiker, der knapp zwei Jahrzehnte später
dem SPD-Kanzler Schröder empfahl, sich
am Kosovo-Krieg zu beteiligen. Schröder
erinnert sich an Epplers Rat: „Man macht
sich schuldig, gleich was man tut.“ Wirke
man mit an den Bombardierungen in Ser-
bien, verursache man den Tod von Men-
schen. „Man macht sich aber noch schuldi-
ger, wenn man tatenlos zusieht bei Mord
und Vertreibung.“ So habe Eppler ihm da-
mals Orientierung gegeben, sagt Schrö-
der (und wohl auch an die Grenze des see-
lisch Zumutbaren geführt): indem er ihm
klarmachte, dass die Situation im Wort-
sinn tragisch sei, so oder so.
Erhard Eppler wuchs in Schwäbisch
Hall auf, die 52 Stufen vor St. Michael
sauste er mit dem Schlitten hinab, sagt
die Dekanin Kruse. In der Kirche wurde er
konfirmiert und heiratete er, hier ging er
fast jeden Sonntag in den Gottesdienst,
an der zweiten Säule links war sein Platz.
Vor vier Jahren ernannte die Stadt ihn
zum Ehrenbürger, im selben Saal, in dem
nun die Gedenkfeier ist – und in dem er
1942 als 16-Jähriger lernte, was Zivilcoura-
ge ist. Ein SS-Mann hielt eine Rede, ein
Lehrer seines Gymnasiums verließ den
Saal. Die Tür schloss der Mann so, dass al-
le sich fragten: Schloss er sie, oder knallte
er sie? Immerhin, ihm geschah nichts.
Sigmar Gabriel, SPD-Chef bis 2017,
und Andreas Stoch, SPD-Chef in Baden-
Württemberg, halten die Reden hier. Zita-
te von Eppler haben auch sie dabei. Gabri-
el: „Viele von meiner Sorte hätte die SPD
wohl nicht ertragen.“ Stoch, als Landesvor-
sitzender ein später Nachfolger Epplers:
„Die Wahrheit wird nicht in Abstimmun-
gen festgestellt.“ Eppler führte die SPD in
dem Bundesland bis 1981. Er trat zurück,
nachdem die Partei bei der Landtagswahl
mit 32,5 Prozent abgeschnitten hatte; so
etwas galt damals als desaströs. Die Par-
teifreunde waren unter anderem seine
Mahnungen zu scheinbar entfernten The-
men leid, mit Themen wie Afrika und Öko-
logie war er womöglich zu früh dran.
Eine schöne Geschichte kommt von
Hermann-Josef Pelgrim, dem Oberbür-
germeister. In Schwäbisch Hall kennt sie
bestimmt jeder. Erhard Eppler wohnte in
einer Straße, die „Auf dem Galgenberg“
hieß; dort war früher die Hinrichtungs-
stätte. 2006 bei einem Spaziergang traf er
den OB. Eppler sagte, nun habe er sich
sein ganzes Leben für Frieden eingesetzt,
da wäre es doch seltsam, würde er eines
Tages „auf dem Galgenberg“ sterben. Ob
Friedensberg nicht besser klänge? Der Ge-
meinderat übernahm den Vorschlag, und
als Erhard Eppler am 19. Oktober starb, in
seinem Bett, war Friedensberg längst der
Name der Straße. detlef esslinger
interview: roland preuß
E
r ist einer der bekanntesten Kri-
minologen im Land, ein streitba-
rer dazu; seit vier Jahren ist er im
Ruhestand. Doch Christian Pfeif-
fer hat weiter geforscht und ge-
stritten. Nun erscheint sein Buch „Gegen
die Gewalt“. Es ist eine Mischung aus neuen
Erkenntnissen der Wissenschaft und den
Lehren aus vielen Jahren Kriminologie.
SZ: Herr Professor Pfeiffer, Sie sagen, Lie-
be und gewaltfreie Erziehung führten zu
weniger Gewalttätern. Das dürfte für vie-
le naiv klingen. Wie kommen Sie darauf?
Christian Pfeiffer: Es gibt dafür eindeutige
wissenschaftliche Belege. Wir haben Men-
schen befragt, die das Pech hatten, in ihrer
Familie ständig geprügelt zu werden und
wenig geliebt. Sie werden im Schnitt sechs-
mal so oft mehrfache Gewalttäter wie die-
jenigen, die gewaltfrei und sehr liebevoll
erzogen wurden. Aus dem Vergleich der in
den 1930er- bis zu den in den 90er-Jahren
Geborenen wissen wir zudem: Je jünger
die Menschen sind, desto weniger wurden
sie zu Hause verprügelt und desto mehr
wurden sie in den Arm genommen, gelobt,
getröstet. Parallel dazu gehen schwere Ge-
walttaten faszinierend stark zurück, Sexu-
almorde etwa um 90 Prozent.
Warum soll die Erziehung die Ursache
dafür sein? Es kann auch andere Gründe
geben.
Die Menschen werden nicht als Täter gebo-
ren, Menschen werden zu Tätern ge-
macht. Sexualmörder zum Beispiel erleb-
ten früh brutale Gewalt, oft gekoppelt mit
sexuellem Missbrauch. Zur Klärung sol-
cher Zusammenhänge haben wir Gruppen
verglichen: Menschen, die viel geliebt und
nie geschlagen wurden, Menschen, die im
Mittelfeld liegen und Menschen, die
schwer verprügelt und kaum geliebt wur-
den. Da sehen wir drastische Unterschie-
de. Gewaltfreie Erziehung fördert den auf-
rechten Gang, ermuntert dazu, couragiert
zu sein. Liebevolle Erziehung fördert Mit-
gefühl, sie macht erfolgreicher im Leben.
Prügel führen zum Gegenteil.
Die schweren Gewalttaten sind durchweg
zurückgegangen. Aber viele haben trotz-
dem mehr Angst vor Kriminalität als frü-
her. Warum ist das so?
Dies sind die Bilder aus Fernsehen und In-
ternet. Die Menschen werden überflutet
von Handyvideos, Kameraaufnahmen von
grausigen Taten. Das bleibt emotional viel
mehr hängen als bei 80 Zeilen darüber in
derSüddeutschen Zeitung. Das verändert
unsere Wahrnehmung, das untergräbt un-
ser Sicherheitsgefühl.
Das wird man kaum ändern können.
Ja, aber Medien können sorgfältiger mit
Kriminalfällen umgehen. Und es gibt noch
einen weiteren Faktor: die Propaganda
der AfD. Kollegen von mir haben 242 Pres-
semeldungen der Partei untersucht, die
nur Gewalt und Kriminalität betreffen.
Das ist von A bis Z Manipulation der Öffent-
lichkeit. Wenn die über Gewalttaten schrei-
ben, dann schreiben sie über Ausländer.
Und wenn mal Deutsche die Täter sind,
dann sind es Iraker oder andere Migran-
ten mit deutschem Pass, also für sie auch
Ausländer. Das sind maßlose Übertreibun-
gen, aber sie erreichen ihr Ziel: den Men-
schen Angst zu machen.
Viele Bürger bringen die Unsicherheit mit
der Zuwanderung in Verbindung, weil es
tatsächlich spektakuläre Verbrechen
gab, die Kölner Silvesternacht, die Verge-
waltigung in den Bonner Rheinauen, den
Schwertmord in Stuttgart.
Das spielt unbedingt eine Rolle, die große
Zuwanderung 2015 hat Ängste ausgelöst.
Wir haben vor Fremden immer Angst.
Ist das berechtigt?
Zunächst ja. Der Anstieg der Gewalttaten
war deutlich. Von 2014 bis 2016 hatten wir
einen Zuwachs um sieben Prozent. Ent-
scheidend war: Es kamen vor allem junge
Männer, jeder zweite aus Nordafrika etwa
war männlich und zwischen 14 und 30 Jah-
re alt. Das ist die Altersgruppe, die am
meisten Gewalttaten begeht, egal ob Mi-
grant oder Deutscher. Klar, dass dann die
Gewalt höher ist! Wir haben zudem viele
sozial Entwurzelte ins Land bekommen.
Aber es ist nicht nur Geschlecht und Alter,
Sie sprechen ja selbst von Entwurzelten.
Es ist auch importierte Machokultur. Frau-
en und ihre Rechte gelten in manchen Her-
kunftsländern nicht viel. Dass es dann
mehr Übergriffe gegen Frauen gibt, kann
keinen verwundern. Es sind junge Män-
ner, die ohne Familie, Frau oder Freundin
ins Land kommen und frustriert sind.
Nordafrikaner, Kriminelle, Machokultur
- da fliegt Ihnen doch schnell der Rassis-
mus-Vorwurf um die Ohren.
Das ist mir wurscht. Wir Kriminologen
müssen uns an die Fakten halten – und die
sind so. Ich verweise dann aber auf ein an-
deres Beispiel: Unter türkischstämmigen
Jugendlichen war die Machokultur früher
auch weit verbreitet. Seit sie aber immer
häufiger Realschulabschluss und Abitur
anstreben, geht ihre Gewaltbereitschaft
zurück. Bildung ist der Schlüssel.
Bildung scheint aber nicht alles zu verän-
dern. Sie sagen, wir haben eine zuneh-
mende Radikalisierung türkischstämmi-
ger Jugendlicher, sie glaubten öfter isla-
mistischen Parolen.
Wir haben ein neues Problem durch den
Wandel der Moscheekultur. Wir hatten
einst eine große Bandbreite an Imamen,
viele Prediger, die hier gut verwurzelt wa-
ren und liberale Positionen vertraten. Das
hat der türkische Präsident Erdoğan geän-
dert. Ich habe von verlässlichen Experten
erfahren: Erdoğan hat liberale Imame
durch AKP-Mitglieder ersetzen lassen, die
seinen Kurs vertreten. Das sehen wir jetzt,
wenn in den Ditib-Moscheen Kriegsbegeis-
terung geweckt wird. Diese Imame predi-
gen einen Islam, der einem Angst machen
muss.
Brauchen wir neue Regeln für Ditib-Mo-
scheen in Deutschland?
Wir brauchen jedenfalls eine Diskussion
darüber. Je häufiger ein Jugendlicher
Ditib-Moscheen besucht, desto mehr ent-
fremdet er sich von unserer Kultur.
Können Sie das belegen?
Ja. Wir haben in Niedersachsen 2015 und
2017 etwa 1000 muslimische Jugendliche
befragt. Besonders von den sehr religiösen
türkischstämmigen vertreten inzwischen
viele einen Glauben, der intolerant ist und
Andersgläubige als Feinde betrachtet. Vie-
le unterstützen radikale Thesen.
Sie fordern auch vehement ein Umsteu-
ern bei Gewalt gegen Frauen. Sie haben
sich immer wieder mit dem Thema be-
schäftigt – warum lässt es Sie nicht los?
Mit 13 Jahren hatte ich meine erste Erfah-
rung mit Vergewaltigung. Ich übernachte-
te bei einer befreundeten Familie. Die hat-
ten einen neuen Mitarbeiter im Haus, der
Mann und seine Frau wohnten im Neben-
zimmer. Ich hörte nachts, die Frau wird
vergewaltigt, bin zur Gastgeberin gelau-
fen, habe sie wachgerüttelt und ihr das er-
zählt. Sie hat das überprüft und den Mann
rausgeworfen. Die Frau aber blieb. Ich frag-
te sie, ob sie nun zur Polizei gehe. Sie mein-
te, als seine Freundin hätte sie das getan.
Aber als seine Ehefrau müsse sie schon die
Beine breit machen. Das hat mich 35 Jahre
nicht losgelassen, bis wir Forschung über
Vergewaltigung in der Ehe machen konn-
ten. Die konnte dazu beitragen, dass 1997
Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde.
Und jetzt geht es wieder um Vergewalti-
ger, die straflos bleiben. Sie haben zusam-
men mit Kollegen herausgefunden, dass
die Anzeigen je nach Bundesland sehr un-
terschiedliche Folgen haben. Eine Bestra-
fung quasi nach Zufallsprinzip.
Ich würde nicht von Zufall sprechen. Aber
wir sind erschrocken darüber, dass die Un-
terschiede so riesig sind (siehe Grafik). In
Berlin erleben drei Prozent der Frauen, die
eine Vergewaltigung anzeigen, eine Verur-
teilung des Täters, in Sachsen 21.
Wenn man sich diese niedrigen Quoten an-
sieht, dann muss man sagen: Man kann in
Deutschland faktisch weitgehend risiko-
frei vergewaltigen.
Die Quote ist so gering, das wollen die Leu-
te überhaupt nicht hören. Von 100 Verge-
waltigungen, die wir durch anonyme Be-
fragungen erfassen, werden 85 gar nicht
erst angezeigt. Und von den angezeigten
Fällen werden nur 7,5 Prozent verurteilt.
Im Ergebnis heißt das: Auf hundert Verge-
waltigungen gibt es einen Verurteilten.
Berlin – Verkehrsminister Andreas
Scheuer (CSU) kommt wegen der geplatz-
ten Pkw-Maut zunehmend unter Druck,
wehrt sich aber vehement gegen neue Kri-
tik an seinem umstrittenen Vorgehen.
Das Ministerium wies am Freitag Kritik
des Bundesrechnungshofs in einem noch
unveröffentlichten Bericht zur Maut „in
sämtlichen Punkten“ zurück. Die Maut-
verträge stünden im Einklang mit dem
Haushalts- und Vergaberecht. Zuvor hat-
te die ZeitschriftDer Spiegelberichtet,
das Ministerium habe nach Ansicht des
Rechnungshofs bei der Pkw-Maut gegen
Vergabe- und Haushaltsrecht verstoßen.
Oppositionspolitiker forderten Scheuer
erneut zum Rücktritt auf.
Ein Entwurf des Rechnungshofbe-
richts zur Maut ging zunächst ans Ver-
kehrsministerium. Dieses wirft der Fi-
nanzkontrolle nun in einer Stellungnah-
me vor, dass der Rechnungshof die ihm
im Rahmen seiner Überprüfung der Ver-
gabeverfahren zur Maut zur Verfügung
gestellten Dokumente, Informationen
und Erläuterungen „teils nicht, teils nicht
ausreichend bzw. unzutreffend würdigt“.
Das sagte eine Sprecherin Scheuers. Zu-
erst hatte die Funke Mediengruppe dar-
über berichtet. Ein Sprecher des Rech-
nungshofs sagte: „Wir werden uns die
Stellungnahme des Ministeriums jetzt an-
schauen, bewerten und den Bericht ab-
schließen.“ Der Bundesrechnungshof er-
teile keine Testate und gebe auch kein
Verwaltungshandeln frei, da er am Ver-
waltungshandeln nicht beteiligt sei.
Scheuer ist unter Druck geraten, weil
er die Verträge zur Erhebung und Kontrol-
le der Maut mit den Betreibern Kapsch
und CTS Eventim schon 2018 geschlos-
sen hatte, bevor endgültige Rechtssicher-
heit bestand. Der Europäische Gerichts-
hof erklärte die Pkw-Maut Mitte Juni für
rechtswidrig. Direkt nach dem Urteil kün-
digte das Verkehrsministerium die Verträ-
ge. Das könnten Forderungen der Betrei-
ber in Millionenhöhe zur Folge haben. We-
gen des Maut-Debakels gibt es auch ei-
nen Untersuchungsausschuss im Bundes-
tag, der voraussichtlich in ein paar Wo-
chen seine Arbeit aufnimmt. dpa
Bremen– Die Polizei kam vor dem Mor-
gengrauen. Um 3.40 Uhr am 10. Juli sol-
len Spezialbeamte den Libanesen Ibra-
him Miri, 46, aus dem Bett geklingelt, in
einen Hubschrauber verfrachtet und
zum Berliner Flughafen Schönefeld geflo-
gen haben, wo schon die Maschine in den
Libanon wartete: Abflug kurz vor halb sie-
ben. Miri gilt als Kopf des sogenannten
Miri-Clans, der in Bremen ansässig und
in einigen anderen Städten aktiv ist,
mehr als 2000 Mitglieder zählen soll und
dem viele kriminelle Handlungen vorge-
worfen werden. Miri selbst war Chef der
verbotenen Rocker-Bande Mongols MC,
2014 wurde er wegen bandenmäßigen
Drogenhandels zu sechs Jahren Gefäng-
nis verurteilt. Im Dezember 2018 kam er
auf freien Fuß, die Reststrafe wurde zur
Bewährung ausgesetzt. Die Abschiebeak-
tion des Clan-Chefs werteten Politik und
Polizei als großen Erfolg. Rainer Wendt,
Vorsitzender der Deutschen Polizeige-
werkschaft, nannte sie „ein herausragen-
des Beispiel polizeilicher Arbeit“. Nun
aber ist Ibrahim Miri trotz eines Einreise-
und Aufenthaltsverbots wieder in Bre-
men – und will juristisch um ein Bleibe-
recht kämpfen.
Details zu seiner Rückkehr aus dem Li-
banon nach Deutschland sind noch nicht
bekannt, die Empörung aber ist groß.
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sag-
te der ZeitungBild, ihn mache es „wü-
tend, wie ein krimineller Clan-Chef ver-
sucht, unseren Rechtsstaat lächerlich zu
machen“. Die FDP-Innenpolitikerin Bir-
git Bergmann findet, „solche Fälle scha-
den der Akzeptanz des Asyl- und Aufent-
haltsrechts“.
Miri hatte sich im Beisein eines An-
walts in der Außenstelle des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in
Bremen-Nord selbst angezeigt, weil er oh-
ne Visum und Pass nach Deutschland ein-
gereist sei. Sein Rechtsanwalt Albert Tim-
mer, den der in Bremen erscheinendeWe-
ser-Kurierzitiert und der für dieSüddeut-
sche Zeitungam Freitag nicht zu errei-
chen war, hält die Abschiebung vom Som-
mer „in einer Nacht- und Nebelaktion“
für unrechtmäßig. Dem Bericht zufolge
will Miri erneut einen Asylantrag stellen.
Der Grund: Todesdrohungen durch schi-
itische Milizen in seinem Heimatland.
Rechtsanwalt Timmer verweise in ei-
nem Schreiben darauf, dass sein Man-
dant nach der Haft in Bremen ein neues
Leben begonnen habe, mit Job und guter
Sozialprognose, was bei der übereilten
Abschiebung nicht berücksichtigt wor-
den sei. Außerdem sei ihm das Recht ver-
wehrt worden, gegen die Maßnahme ju-
ristisch vorzugehen. Miri wurde noch in
der Bamf-Stelle festgenommen und sitzt
nun auf Antrag der Bremer Innenbehör-
de in Abschiebehaft. Über seinen Antrag
will die Nürnberger Bamf-Zentrale rasch
entscheiden. ralf wiegand
Der Mann vom Friedensberg
Und jeder hat ein Zitat dabei: die Trauerfeier für Erhard Eppler in Schwäbisch Hall
Alles ruhig auf der Kölner Domplatte, doch „die Zuwanderung 2015 hat Ängste ausgelöst“, so Christian Pfeiffer. IMAGO
Christian Pfeiffer, 75,
leitete mehr als 20 Jahre
das Kriminologische
Forschungsinstitut Nie-
dersachsen. Von 2000 bis
2003 war er SPD-Justizmi-
nister in Niedersachsen.
FOTO: OH
Rechnungshof setzt
Scheuer unter Druck
Rückkehr eines
Clan-Chefs
IbrahimMiri stellt nach
Abschiebung neuen Asyl-Antrag
6 POLITIK HMG Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH
Daheim: Erhard Epplers Sarg in der Kir-
che St. Michael. FOTO: DPA
„Menschen werden
zu Tätern gemacht“
Christian Pfeiffer über Liebe und Hiebe, die Propaganda
der AfD – und eine Vergewaltigung vor vielen Jahren
Weitgehend straffrei
Angezeigte Vergewaltigungsfälle Anteilder Verurteilungen in Prozent
Sachsen
Mecklenburg-Vorpommern
Thüringen
Hamburg
Bayern
Baden-Württemberg
Saarland
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Bund insgesamt
Niedersachsen
Schleswig-Holstein
Hessen
Brandenburg
Nordrhein-Westfalen
Bremen
Berlin
294
209
420
493
2588
2461
240
1122
621
22 286
2741
799
1460
576
5992
377
1893
SZ-Grafik: Mainka; Quelle: Christian Pfeiffer
Vergewaltigungen
von
werden
angezeigt
100
15
davon führt
zu einer
Verurteilung
1
21,
18,
14,
10,
10,
10,
10,
9,
7,
7,
6,
6,
6,
5,
5,
4,
3,
Schiitische Milizen bedrohten
ihn mit dem Tod, sagt Miri.
Nun muss das Bamf entscheiden