Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 MOBILES LEBEN 67


von marco völklein

K

napp 2,30 Meter lang ist die
BMW Isetta, 1,70 Meter breit.
Zwei Personen haben gerade
mal so Platz in dem Winzling,
der in der Nachkriegszeit viele
Bundesbürger mobil gemacht hat. Ebenso
wie der Messerschmidt-Kabinenroller
oder das Goggomobil, zwei weitere Kleinst-
wagen aus der Zeit nach 1945. Wie also soll-
te in ein solches Auto ein weiterer Passa-
gier passen? Noch dazu einer, der von au-
ßen auf keinen Fall gesehen werden darf?
Diese Fragen stellt sich Klaus-Günter
Jacobi zu Beginn der Sechzigerjahre. Der
Berliner war 1940 im Ostteil der Stadt ge-
boren worden, aber bereits 1958 mit sei-
nen Eltern von Pankow im Osten in den
Westteil übergesiedelt. Mit dem Bau der
Berliner Mauer im August 1961 ist Jacobi
abgeschnitten von seinem besten Freund
im Osten. Der aber will ebenfalls in den
Westen rüberkommen, zudem steht ihm
die Einberufung zur Nationalen Volksar-
mee der DDR im Juni 1963 bevor. Also ent-
wickelt Jacobi einen Plan: Er will seine ge-
brauchte Isetta so umbauen, dass er den
Freund aus dem Osten schmuggeln kann.
30 Jahre nach dem Fall der Mauer widmet
sich das BMW-Museum in München nun
in einer kleinen Sonderausstellung den Er-
lebnissen von Klaus-Günter Jacobi und sei-
ner Fluchthelfer-Isetta.
„Der Platz war nicht das Problem“, erin-
nert sich Jacobi. Er hatte bemerkt, dass un-
ter der Hutablage hinter der Sitzbank ge-
nügend Raum wäre, um seinen Freund un-
terzubringen – allerdings waren dazu eini-
ge Umbauten nötig. Der gelernte Kfz-Me-
chaniker Jacobi baut also die Ablage aus
und schweißt sie später etwa zehn Zenti-
meter höher wieder an, sodass darunter
ein kleiner Hohlraum entsteht. Dann sägt
er einen etwa 50 mal 50 Zentimeter gro-
ßen Zugang in die Rückplatte der Sitz-
bank, durch den der blinde Passagier spä-
ter in den Hohlraum gelangen soll. Außer-
dem fliegt der Luftfilter raus, auch die Um-
mantelung des Auspuffrohres wird ab-
montiert – alles, was unnötig Platz benö-
tigt, entfernt Jacobi aus dem Auto.
Als knifflig stellt sich auch das Auspuff-
rohr heraus, das Jacobi aufwendig umbie-
gen muss, damit der blinde Passagier un-
tergebracht werden kann. „Die Herausfor-
derung war, das Auto fahrtüchtig zu hal-


ten“, sagt Jacobi, trotz aller Umbauten.
Schließlich soll für die Flucht der serien-
mäßig verbaute 13-Liter-Tank rausfliegen
und durch einen kleinen Kanister ersetzt
werden, den sich der Tüftler aus einer Öl-
dose baut. Dessen Fassungsvermögen be-
trägt gerade einmal zwei Liter Sprit. „Das
muss reichen“, denkt sich Jacobi damals.
Außerdem zieht er eine Bodenplatte
aus Blech ein, die er an der Stoßdämpfer-
aufhängung befestigt, damit der Freund
während der Fahrt nicht mit dem heißen
Auspuff in Berührung kommt. Am Ende
kürzt Jacobi sogar die Schmutzfänger am
Heck, damit die unter der Last des blinden
Passagiers nicht über den Boden schleifen


  • und so womöglich Verdacht bei den DDR-
    Grenztruppen erregen.
    Klaus-Günter Jacobi ist damals nicht
    der einzige, der Menschen zur Flucht aus
    der DDR verhilft. Schon kurz nach dem
    Mauerbau gelingt vielen der (aus Sicht des
    Ostberliner Regimes illegale) Grenzüber-
    tritt – auf den unterschiedlichsten Wegen:
    Tunnel werden gegraben, im Herbst 1961
    kriechen mehrere Hundert Menschen
    durch die Kanalisation in den Westen, da-
    bei müssen sie sich unter einem Schlamm-
    gitter hindurchzwängen. Andere versu-
    chen, mit Booten oder Surfbrettern über
    die Ostsee zu segeln, zwei Familien aus
    Thüringen nähen sich einen Heißluftbal-
    lon und gelangen so über die innerdeut-
    sche Grenze nach Bayern. Nicht jeder
    schafft es, viele landen in DDR-Gefängnis-
    sen, Hunderte kommen ums Leben.


Immer wieder setzen Fluchthelfer auch
Autos ein. Mitte der Sechzigerjahre gelingt
es, mit einem Cadillac DeVille, Baujahr
1957, Menschen in den Westen zu schleu-
sen, meist über die Grenzübergänge zur
Tschechoslowakei. Das Auto, ausgestattet
mit Heckflossen und Weißwandreifen,
fällt zwar an jeder Kontrollstelle auf, doch

es hat einen Vorteil: Unter dem giganti-
schen Armaturenbrett lässt sich ein Flücht-
ling verstecken. Mehrere Fluchthelferorga-
nisationen nutzen den Wagen. Fahrer und
Nummernschilder wechseln, ebenso die
Farben: Mehrmals wird der Cadillac umge-
spritzt. Die Fluchthelfer tauschen sogar
Kühlergrill samt Markenemblem aus und
machen aus dem Cadillac so einen Mercu-
ry, später einen Plymouth. Die meisten

Grenzsoldaten können die US-Automar-
ken ohnehin nicht unterscheiden.
Klaus-Günter Jacobi indes fällt als Fah-
rer aus. Als Bürger Westberlins verwehrt
ihm die DDR die Einreise, zwei westdeut-
sche Studenten melden sich freiwillig. Sie
springen für eine Studentin ein, die als
Fahrerin vorgesehen war, aber kurz vor Be-
ginn der Aktion absagt. Am 23. Mai 1963,
wenige Tage vor der Einberufung des
Freundes, fahren sie in den Osten. Einer
am Steuer der umgebauten Isetta, einer in
einem VW Käfer als unauffällige Verstär-
kung. Auf einem Feldweg in Heinersdorf
zwängt sich Jacobis Freund in das Isetta-
Versteck, „in Embryonalstellung“, wie Ja-
cobi sagt. Zuvor haben die beiden Studen-
ten den 13-Liter-Tank gegen die Öldose ge-
tauscht. Weil sie das aber nicht geübt hat-
ten, dauert alles viel länger als geplant.
Erst gegen 22.30 Uhr macht sich die
Gruppe auf den Weg zurück zur Grenze, ei-
ne Stunde müssen beide Autos am Über-
gang Bornholmer Straße warten. Die Zeit
wird knapp, um Mitternacht wird die
Grenze geschlossen. Erst gegen 23.55 Uhr
passiert die Isetta die Kontrollstelle, mit
ihr rollt der Begleit-Käfer gen Westen,
heißt es in der BMW-Ausstellung. In ei-
nem Park zwängt sich der Freund aus dem
Versteck, allein das dauert fünf Minuten.
Seine Beine sind geschwollen, der Rücken
schmerzt. Aber er ist im Westen.

Die Sonderschau „Mit der Isetta in die Freiheit“ im
BMW-Museum München läuft bis 8. März 2020.

Kann ein E-Bike, das Curt heißt, cool
sein?Lange hatten Fahrräder mit elektri-
schen Hilfsmotoren ja ein bräsiges Image.
Sie wirkten schwer, klobig, wenig elegant.
Doch seit immer mehr jüngere Leute auf
das Auto verzichten und in der Großstadt
aufs Elektrorad steigen, hat sich auch das
Design der E-Bikes geändert. Verbesserte
Technik hat zur Evolution des E-Bikes bei-
getragen, Antriebe und die Akkus werden
immer kleiner. Das Modell Curt von Am-
pler ist dafür ein Paradebeispiel.
Schwarz, schlicht, schlank: Curt wirkt
wie ein puristisches Design-Objekt, dem
man auf den ersten Blick gar nicht an-
sieht, dass es elektrifiziert ist. Ein starrer
Rahmen aus gebürstetem Aluminium, ei-
ne Gabel aus Carbon, ein gerader, nicht all-
zu breiter Lenker, schmale Schutzbleche


  • das Rad sieht geradlinig und funktional
    aus, es gibt keinerlei Schnickschnack.
    Sportliche Geometrie, fast spartanische
    Anmutung – der Hersteller, die junge est-
    ländische Firma Ampler, nennt das einen
    „athletischen Look“. Man könnte auch sa-
    gen: Optisch ist Curt eine Kreuzung aus
    Manufactum und Fitnessstudio.
    Nur ein grün leuchtender Knopf am
    Sitzrohr deutet auf das elektrische Interi-
    eur hin. Ein kleiner Hecknabenmotor,
    kaum zu bemerken hinter dem Zahn-
    kranz, unterstützt am Hinterrad, wenn
    man in die Pedale tritt. Ein Akku ist nicht
    zu sehen. Er ist gut versteckt im Unter-
    rohr platziert. Das ist optisch sehr fein ge-
    löst, lässt sich aber auch als Nachteil inter-
    pretieren: Falls der Akku mal kaputt sein
    sollte, muss Curt in die Werkstatt, wo die
    Batterie herausoperiert wird. Der An-
    schluss für das Stromkabel ist im Sitzrohr
    untergebracht. Wer also im dritten Stock-
    werk wohnt und sein stylisches Urban-E-
    Bike aufladen muss, ist gezwungen, es
    komplett in die Wohnung zu schleppen.
    Das fällt aber nicht allzu schwer, denn
    Curt wiegt nur 13,5 Kilogramm. Das gerin-
    ge Gewicht macht sich auch bei den Fahr-
    eigenschaften bemerkbar: Curt beschleu-
    nigt an der Ampel sehr flott, auch auf län-
    geren Strecken mit Hügeln erreicht man
    einen Durchschnitt von 23 bis 24 Stunden-
    kilometer. Wie bei allen E-Bikes regelt die
    Unterstützung bei 25 Stundenkilometer
    ab. Es gibt drei Modi: keine Unterstüt-
    zung, normale Unterstützung und Turbo.
    Dank Turbo radelt man mühelos steile
    Passagen – etwa den Schäftlarner Kloster-
    berg im Münchner Süden – mit Tempo 20
    hinauf. Die Steuerung des Motors ist in-
    des gewöhnungsbedürftig, denn es gibt
    keine Bedienungselemente am Lenker.
    Auch der Akku-Ladestand lässt sich nicht
    ablesen. Die Einstellungen kann man ent-
    weder am Ein- und Ausschalter am Sitz-
    rohr ändern, was während der Fahrt eher
    unpraktisch ist, oder eine App laden, um
    das Rad per Smartphone zu steuern.
    Curt ist ein Federgewicht, aber nicht
    mal das leichteste E-Bike auf dem Markt.
    Der schwäbische Hersteller Remsdale hat


die nach eigenen Angaben „leichteste Pe-
delec-Flotte der Welt“ auf den Markt ge-
bracht, das Modell Carbon Pedelec Road
wiegt 10,9 Kilogramm mit Akku (aber oh-
ne Pedale). Das österreichische Modell Vi-
vax Veloce bringt gerade mal 9,8 Kilo-
gramm auf die Waage, das Steinbach-
Rennrad Sonnblick sogar nur sagenhafte
8,5 Kilogramm. Solche E-Rennräder sind
mit Mini-Motoren ausgestattet, die bei
Steigungen und Sprints zu punktuellem
Elektro-Doping verhelfen. Sie kosten so
viel wie ein kleines Auto: Das Carbon-E-Bi-
ke von Remsdale ist für 8499 Euro zu ha-
ben. Dagegen ist Curt von Ampler mit
2890 Euro fast ein Schnäppchen.

Das alltagstaugliche, voll für den Stra-
ßenverkehr zugelassene E-Bike ist als
Singlespeed mit Riemenantrieb oder mit
Zehn-Gang-Schaltung (Shimano Deore
M6000) erhältlich. Für den Einsatz in ei-
ner relativ flachen Stadt bietet sich der
wartungsfreie Riemenantrieb ohne Schal-
tung an, für Pendler, die längere Strecken
bergauf und bergab fahren, ist die Gang-
schaltung sicherlich sinnvoller. Pannensi-
chere, schmale Reifen lassen Curt auf As-
phalt ruhig und schnell dahinschnurren,
auf Kieswegen und im Matsch tut sich das
Rad dagegen schwer. Man sitzt eher ge-
bückt und sportlich als aufrecht und be-
quem, Curt vermittelt somit eher ein Renn-
rad- als ein Rentnergefühl.
Ob Curt cool ist? Diese Frage ist spätes-
tens dann beantwortet, wenn man abends
mit Freunden in einer Bar sitzt und mit ver-
liebten Blicken immer wieder zu Curt rü-
berschielt, der draußen vor der Scheibe
schwarz schimmert. Kurz vor der Abfahrt
gibt man die Route in die Ampler-App ein,
und am Fahrrad geht automatisch das
Licht an. Im Sattelrohr blinken rote LEDs
auf, vorne leuchtet ein kleiner, starker
Scheinwerfer die Nacht aus. Jetzt fehlt nur
noch eine Funktion, die das Rad eigenstän-
dig an die Bordsteinkante fahren lässt, da-
mit man bequem aufsteigen kann. Curt ist
wie K.I.T.T., das mitdenkende schwarze
Auto aus der TV-Serie „Knight Rider“ –
nur umweltfreundlicher. titus arnu

Schlicht und schlank


DasE-Bike Curt macht eine gute Figur


Hinterm Armaturenbrett
eines Cadillacsholten
Helfer mehrere Hundert
Menschen in den Westen.

FOTOS: ULRICH BIENE/DELIUS KLASING VERLAG

Sehen Kinderzimmer von heute anders aus
als die aus den, sagen wir, Sechziger- oder
Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhun-
derts? Vielleicht findet sich heutzutage mehr
Elektronik in so manchem Kinderzimmer,
aber Automodelle prägen nach wie vor bei
den meisten Kindern das Bild.
Welche Schätze sich darunter verbergen,
das beschreibt der Autor und Modellbauspezi-
alist Ulrich Biene in seinem Buch „Lieblings-
autos“ fein und anschaulich. Wer in dem
knapp 160 Seiten starken Buch blättert, der
trifft immer wieder auf alte Bekannte aus Kin-
dertagen. Da ist zum Beispiel der orangefarbe-
ne Muldenkipper von Playmobil (oben), der

schon früh zum Sortiment der Zirndorfer zähl-
te. Der schlichte Kühlergrill, die kippbare Prit-
sche, die Halterungen fürs Werkzeug – all das
zeichnete das Fahrzeug aus. Und machte es zu
einem der beliebtesten in Kinderhänden.
Abgestellt wurden die vielen Fahrzeuge
von Herstellern wie Siku, Matchbox oder Wi-
king oft stilecht in einer Hochgarage; die von
Gama (rechts) bot einen mechanischen Auf-
zug am aus Blech gefertigten Turm, die Eta-
genböden hingegen waren aus farblich variie-
rendem Kunststoff gespritzt. mvö

Ulrich Biene:Lieblingsautos, Delius Klasing Verlag,
Bielefeld, ca. 160 Seiten, 29,90 Euro

Unter der Hutablage


Nach dem Mauerbau 1961 wollte Klaus-Günter Jacobi einen Freund in den Westen


holen – mit einer umgebauten Isetta. Er sagt: „Der Platz war nicht das Problem.“


Hinweis der Redaktion:Ein Teil der im „Mobilen Le-
ben“ vorgestellten Produkte wurde der Redaktion
von den Herstellern zu Testzwecken zur Verfügung
gestellt und/oder auf Reisen präsentiert, zu denen
Journalisten eingeladen wurden.


Flucht aus der DDR

Vor 56 Jahren half Klaus-Günter Jacobi einem Freund bei der Flucht aus der DDR. Seine Isetta hatte er dafür so umgebaut,
dasssichder Freund „in Embryonalstellung“ in eine Nische zwischen Heckmotor und Rückbank kauern konnte. FOTO: BMW

Der Akku versteckt sich im Rahmen, der
Motor in der Hinterradnabe: Das E-Bike
Curt kostet 2890 Euro. FOTO: AMPLER

Brumm, brumm


Im Buch „Lieblingsautos“ trifft man auf alte Bekannte

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