Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

Fahren unter Wind


Beim Rotorschiff
drehtsich eine Art
Riesenwalze an
Deck. Bläst der Wind
über den Zylinder,
entsteht ein Sog,
der das Schiff mit-
zieht. Die Technik
gilt als robust und
einfach zu bedienen.
Beste Leistungen
werden bei seitli-
chen Winden erzielt.
Als Nachteil gilt
unter anderem der
Platzbedarf; auf
reinen Container-
schiffen dürfte sich
die Technik daher
nicht durchsetzen.

Das Drachensegel
wird vor das Schiff
gespannt – kommt
der Wind von hinten,
wird die beste Wir-
kung erzielt. Der
Aufwand für den
Einbau der Technik
ist gering, die Kos-
ten sind überschau-
bar. Fast jedes Schiff
lässt sich damit
nachrüsten. Die
Technik gilt aber als
wetteranfällig, bei
einem plötzlich
auftretenden Sturm
droht unter Umstän-
den der Totalverlust
des Segels.

Rotorsegel Drachensegel

von rolf stünkel

E

in grünweißer Schiffsrumpf
schiebt sich langsam in den Rot-
terdamer Hafen. Sechsmal die
Woche kommt die finnischeEs-
tradenmit Lastwagen und Con-
tainern vorbei; die 20 Jahre alte Fähre ist
ein „Ro-Pax-Kombicarrier“, sie kann also
Laster und Container im „Roll on, roll
off“-Verkehr transportieren, hat aber auch
zwölf Passagierkabinen an Bord. Das aller-
dings bieten auch andere Schiffe. Was die
Estradenindes auszeichnet, sind die zwei
merkwürdigen Säulen auf der Backbord-
seite. Die Dinger drehen sich im Wind wie
überdimensionierte Lüfter auf einem Kühl-
fahrzeug, doch es gibt keine Lüftungs-
schlitze und offensichtlich auch nichts zu
kühlen. Wozu also die Walzen?
„Das sind Norsepower-Rotorsegel“, er-
klärt Tuomas Riski. „Mechanische Segel,
die wie die Flugzeugflügel Vortrieb erzeu-
gen und Kraftstoff einsparen, aber nicht so
aussehen. Dafür bringen sie mit weniger
Segelfläche viel mehr Vorwärtsschub.“ Ris-
ki, 40, ist Chef von Norsepower, einem fin-
nischen Start-up-Unternehmen für Wind-
kraftanlagen auf Schiffen. DieEstraden
liegt ihm besonders am Herzen, denn sie
fährt schon seit vier Jahren mit seinen Rot-
orsegeln – und spart somit Treibstoff.
Die Funktionsweise der beiden tonnen-
schweren 18-Meter-Zylinder basiert auf
dem Magnus-Effekt, benannt nach dem
Physiker Heinrich Gustav Magnus
(1802 – 1870). Er fand heraus, dass bei ei-
ner Strömung, die auf einen rotierenden


Zylinder oder eine Kugel trifft, unterschied-
liche Strömungsgeschwindigkeiten auf
den Seiten und damit Druckunterschiede
entstehen. Die daraus entstehende Kraft
lässt sich nutzen; Fußballspieler tun dies
zum Beispiel, wenn sie eine Bananenflanke
spielen und so eine Ablenkung des Balls
von seiner eigentlichen Bahn erzeugen.
Ähnlich läuft es bei den beiden Riesen-
walzen auf derEstraden: Von Elektromoto-
ren angetrieben, drehen sie bis zu 300 Tou-
ren schnell und führen eine dünne Luft-
schicht mit sich. Bläst der Wind über einen
rotierenden Zylinder, zieht er die gleichge-
richtete Luftschicht auf der einen Seite
mit, gegenüber verlangsamt er die gegen-
läufige Strömung. So entsteht eine Art Sog,
der Rotor samt Schiff mitzieht, der Schiffs-
diesel muss weniger leisten und ver-
braucht weniger Sprit. Die Rotoren (auch
„Rotorsegel“ genannt) wirken etwa zehn-
mal so effektiv wie herkömmliche Segel,
vor allem, wenn der Wind genau seitlich
einfällt. Wichtig ist die Walzendrehzahl,
denn der Magnus-Effekt ist am größten,
wenn die Umfangsgeschwindigkeit der
Walze ungefähr dreimal so hoch ist wie die
Strömungsgeschwindigkeit des Windes.
Auf derEstradenscheint sich der Ein-
satz der Rotoren zu lohnen. „Pro Jahr spart
die Fähre mit dieser Technik ungefähr
400 Tonnen Kraftstoff ein, das entspricht
ungefähr 400 Dollar Ersparnis pro Tag
und senkt den CO2-Ausstoß um 1000 Ton-
nen jährlich“, erklärt Norsepower-Chef Ris-
ki. Damit gehören seine Rotorschiffe zu
den „Green Shipping“-Konzepten, mit de-
nen die Schifffahrtsbranche versucht, ihre

Antriebe auf die Anforderungen des Um-
welt- und des Klimaschutzes umzustellen.
Nach einer Statistik der International Mari-
time Organisation (IMO) produzieren welt-
weit etwa 50 000 Handelsschiffe mit ihren
schwerölbetriebenen Dieselmotoren et-
was mehr als zwei Prozent aller CO2-Emis-
sionen, so viel wie die gesamte Bundesre-
publik. Umweltorganisationen drängen da-
her auf umweltfreundlichere Antriebe; die
Kraft des Windes zu nutzen, könnte da ei-
ne Lösung sein. Nicht zuletzt, weil wirt-
schaftliche Gründe der Windkraft auf See
ein Comeback bescheren könnten.
Noch vor hundert Jahren brachten Groß-
segler wie die schnittigen „P“-Liner emissi-
onsfrei Fracht über die Weltmeere, bis billi-
ger Dieselantrieb und kalkulierbare Fahrt-
zeiten die umweltfreundlichen Riesen ver-
drängten. Jetzt könnte es umgekehrt lau-
fen: Die Treibstoffpreise steigen, härtere
Vorschriften zwingen Reedereien zum Um-
stieg auf teureres Schiffsgasöl und schwe-
felarmes Heizöl; die Branche befürchtet
Mehrkosten von 100 Milliarden Dollar pro
Jahr. Sie transportiert rund 90 Prozent des
Welthandels und spielt alternative An-
triebsvarianten durch, vom reinen Segler
bis zum Hybriden mit allen denkbaren An-
triebsformen. Am besten schneidet kurz-
fristig Windkraft als Hilfsantrieb für Mo-
torschiffe ab, denn man muss die großen
Pötte nicht völlig neu konstruieren. Zudem
kostet Wind nichts, und er weht (meist)
auch bei Nacht und schlechtem Wetter.
Neben den Rotorschiffen kommen des-
halb auch Schiffe mit Drachensegel zum
Einsatz. Dabei wird vor einen Frachter in

etwa 100 bis 300 Meter Höhe ein großes Se-
gel gespannt, das den schweren Kahn wie
einen Kite-Surfer hinter sich herzieht. Ei-
ne Vorrichtung auf dem Vorschiff fährt das
160 bis 320 Quadratmeter große Segel, das
an einem robusten Kunststoffseil befes-
tigt ist, innerhalb von zehn bis 20 Minuten
auf die gewünschte Höhe aus. Kommt der
Wind von achtern, also von hinten, entlas-
tet die Zugkraft des Drachensegels „die Ma-
schine recht ordentlich und sorgt damit
für beachtliche Brennstoffersparnis“, er-
klärt der Athener Schifffahrtsexperte Alex-
ander Vassiliadis.

Drachensegel wurden bereits vor über
zehn Jahren auf deutschen Motorschiffen
erprobt und erfolgreich eingesetzt; Auf-
merksamkeit erregte seinerzeit der Frach-
terBeluga SkySailsdes Reeders Niels Stol-
berg. Nach Angaben des deutschen Markt-
führers Skysails Marine in Hamburg sind
derzeit mehrere Schiffe mit dieser Technik
im Einsatz. Das System benötigt mit dem
faltbaren Ausleger zum Ausrollen und Ein-
holen des Drachensegels nur wenig Platz
an Bord und soll je nach Windrichtung und
-stärke eine Kraftstoffersparnis von zehn
bis 25 Prozent bringen. Eines der wenigen
Risiken: der Absturz des Drachensegels
durch plötzlich auftretende Windböen.
Rotorschiffe haben dennoch gegenüber
den „Drachenbooten“ einige Vorteile, auch

wenn die Zylinder mitsamt ihrem Elektro-
antrieb etwas mehr Platz an Bord wegneh-
men. So sind die Rotoren robuster als die
Segel und trotzen jedem Wetter, sie benöti-
gen kaum Wartung und sind per Knopf-
druck von der Brücke aus zu bedienen. Da-
bei sind die futuristischen Litfaßsäulen be-
reits seit fast hundert Jahr bekannt.
So meldete der Mathematiklehrer An-
ton Flettner (1885– 1961) das Rotorprinzip
schon zu Beginn der Zwanzigerjahre des vo-
rigen Jahrhunderts zum Patent an, entfern-
te 1924 die Takelage des Dreimastscho-
nersBuckauund installierte an Deck zwei
etwa 18 Meter hohe Walzen. Das Schiff mit
dem Namen eines Magdeburger Vorortes
fuhr nun mit einer 220 PS starken Haupt-
maschine und zwei „Flettner-Rotoren“
mit 7,5-kW-Elektromotor, die von einem
Dieselgenerator versorgt wurden. Wo im-
mer das Schiff auftauchte, war der Jubel
groß. „... Ein dreifaches Hurra! auf Flett-
ner, den Erbauer!“, schrieben etwa die
Hamburger Nachrichtenim Sommer 1925.
Im Jahr 1926 machte das inBaden-Ba-
denumgetaufte Schiff auf einer großen
Amerikafahrt Furore. Ausgezeichnetes
Seeverhalten im stärksten Sturm, Stabili-
tät durch den Kreiseleffekt der drehenden
Rotoren, bis zu 90 Prozent Brennstoffer-
sparnis bei reiner Rotorfahrt – Anton Flett-
ner sah riesige Verkaufschancen für seine
Rotoren. Dass daraus nichts wurde, lag an
der geringen Gesamtleistung von Rotoren
und Diesel: Die Durchschnittsgeschwindig-
keit des Hybriden war im Vergleich zu den
damaligen Motorschiffen zu klein; jeder
der Rotoren wog 3,5 Tonnen und musste
mit Elektrokraft auf Drehzahl gebracht
werden. Um die 150 Touren schafften die
E-Motoren derBaden-Baden, für schnelle-
re Fahrt bei starkem Wind wäre das Dop-
pelte nötig gewesen.
Norsepower-Chef Riski glaubt den-
noch, dass moderne Rotorschiffe über
kurz oder lang einen Siegeszug antreten
werden, sofern die Dieselpreise nicht ins
Bodenlose fallen und der Umweltschutz ge-
kippt wird. Wären sie Zeitgenossen gewe-
sen, hätten sich Riski und Rotor-Pionier
Flettner wohl prächtig verstanden. Zumal
sich mit den Möglichkeiten von heute – bei-
spielsweise Verbundwerkstoffe, stärkere
Elektromotoren, Computerdesign und On-
line-Vermarktung – der Rotortechnik
neue Perspektiven öffnen.
Flettner indes, mit seiner Technik zu
früh am Markt, wechselte nach dem Rotor-
Flop in den Flugzeugbau. Er entwickelte
Ruder und Auftriebshilfen, außerdem den
HubschrauberFI 282 Kolibriund viele wei-
tere Produkte. Zwischen 1912 und 1960
meldete er mehr als 1000 Patente an. Die
Buckauaber, deren Technik ihrer Zeit da-
mals so weit voraus war, verkaufte der rüh-
rige Flettner nach dem Ende der Erpro-
bungsphase an einen Schiffseigner in den
USA, der den Hybriden wieder zum Segler
umrüstete. Im Jahr 1931 ging das erste Mo-
torschiff der Welt mit „grüner“ Technik in
einem Sturm vor der Küste von Cape Hatte-
ras, North Carolina, verloren.

DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 68


MOBILES LEBEN


Mit dem Rotorprinzip waren
schon Schiffe in den
Zwanzigerjahren unterwegs

Rückkehr der Segel


HoheSpritpreise und der Umweltschutz drängen die Schiffsbranche


dazu, auf ein altes Prinzip zu setzen: die Kraft des Windes


Bis zu 300 Meter hoch
können dieDrachensegel
steigen – das bis zu 320
Quadratmeter große
Segel zieht das Fracht-
schiff dann mit sich.
Kommt der Wind von
hinten, ist nach Angaben
der Entwickler eine
Kraftstoffersparnis
von bis zu 25 Prozent
möglich.
FOTOS: SKYSAILS, NORSEPOWER

Zeitgeschichte: Mit einer umgebauten
Isetta gelingt in den Sechzigerjahren die
Flucht aus der DDR  Seite 67

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