Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
von thomas jordan

E

s sind Fragen, die an das Funda-
ment des Menschseins gehen:
Wie verhält sich die Gemein-
schaft im Angesicht der Kata-
strophe? Wer wird gerettet, wer
bleibt zurück – und vor allem: Wer ent-
scheidet über Leben und Tod? Benjamin
Brittens einaktige Oper „Noahs Flut“ ist
für Kinder geschrieben und scheut sich da-
bei doch keinen Moment, die ganz großen
Themen anzupacken. Nicht nur deshalb
ist es ein Projekt von beeindruckendem
musikpädagogischen Ehrgeiz, das am
Samstag in der Reithalle Premiere hat.
Seit zwei Jahren proben 120 Kinder und
Jugendliche unter der Leitung des Dirigen-
ten Daniel Grossmann zusammen mit Mu-
sikern des Jewish Chamber Orchestra Brit-
tens Oper um die alttestamentarische Ar-
che-Noah-Geschichte. Alle zwei Wochen,
immer freitags und am Wochenende. Note
für Note, Takt für Takt. Denn kaum einer
der Fünf- bis Achtzehnjährigen hatte zu-
vor schon Bühnenerfahrung, viele nah-
men zum ersten Mal ein Instrument in die
Hand. „Wir haben die Kinder von Null so-
weit gebracht, dass sie mitspielen konn-
ten“, sagt Daniel Grossmann.


Jeder, der wollte, konnte mitmachen, bei
dem bisher größten Projekt der Opern-
schule des Jewish Chamber Orchestra. Ein-
mal pro Woche gab es Unterricht von den
Musikern. Auch wenn das mitunter enor-
me pädagogische Herausforderungen be-
deutete. Etwa wenn die Kinder so klein wa-
ren, dass sie weder Noten noch Buchsta-
ben lesen konnten, aber dennoch ihre Or-
chesterpartie oder ihre Opernrolle beherr-
schen mussten. „Wir haben Fünfjährige,
die haben nur durch das Hören Melodie


und Text gelernt“, sagt Natascha Ursuliak.
Die Regisseurin hat schon öfter mit Kin-
dern geprobt und ist immer wieder beein-
druckt davon, welche Entwicklungen
durch die intensive Auseinandersetzung
mit klassischer Musik möglich werden.
„Die Kinder entdecken sich selber“, sagt
Ursuliak. Nicht immer sind die Verände-
rungen so deutlich wie bei dem jungen
Mann, der Ursuliak nach einer Opernpro-
duktion einmal damit überraschte, nun
statt eines Hauptschulabschlusses das Ab-
itur anstreben zu wollen. Aber etwas verän-
dert sich fast immer. Da sind die pubertie-
renden Jugendlichen, die sich selbst bes-
ser verstehen. Da ist das schüchterne
Kind, das sich anfangs gar nichts traut
und am Schluss ein Solo singt. „Die Kinder
wachsen daran und lernen eine andere Sei-
te an sich kennen“, sagt die Regisseurin.
Für den siebenjährigen Yaron ist die Sa-
che ganz einfach: „Am meisten Spaß

macht mir das Springen und Singen“, sagt
der Bub, der im Kinderchor der Tiere, die
Noah auf seiner Arche retten will, eine Heu-
schrecke spielt. Nachdem sich Freunde
von ihm angemeldet hatten, wollte der
Zweitklässler unbedingt auch dabeisein.
Die Opernschule des Jewish Chamber Or-
chestra will aber nicht nur die Lust auf die
klassische Musik wecken, sondern in der
Arbeit mit Kindern auch ganz unterschied-
liche Perspektiven zusammenbringen.
So spielen in dieser Produktion des Or-
chesters, das sich zum Ziel gesetzt hat, ei-
ne lebendige jüdische Gegenwartskultur
in München zu schaffen, Kinder aus allen
drei monotheistischen Religionen zusam-
men. Genau wie die Geschichte um Noah,
der auf seiner Arche Mensch und Tier vor
dem Untergang durch die Flutkatastrophe
rettet, zum Glaubensschatz von Christen-
tum, Judentum und dem Islam gehört. Ei-
ne Geschichte allerdings, die in Ursuliaks

Inszenierung neu akzentuiert wird: So
kommt der Frau Noahs (Freya Apffelsta-
edt), neben Gott und Noah eine von drei
Rollen, die in der Opernschule mit jungen
Profis besetzt sind, deutlich mehr Gewicht
zu: Bei Britten ist sie noch die lästernde
Trinkerin und Quertreiberin. Hier wird sie
in ihrer Weigerung, ihre Freunde zurück-
zulassen, zur einzigen Figur, die sich dem
göttlichen Befehl nicht bedingungslos un-
terwirft und selbst denkt. Denn auch dar-
um geht es in diesem musikpädagogi-
schen Projekt, das Kinder aus unterschied-
lichen Lebenssituationen zusammen-
bringt: sich selbstkritisch zu fragen, was
mit denen passiert, die es nicht schaffen
und was das für die Gesellschaft bedeutet.
Die 15-jährige Ingrid hat in ihrer heil-
pädagogischen Wohngruppe eine Aus-
schreibung für das Opernprojekt gesehen.
Zuvor hatte sie bereits vier Jahre im Kir-
chenchor gesungen. Nun hat sie den
Schritt zur Solistin gewagt. Die Sopranis-
tin singt die Partie der Frau Jaffett, der
Schwiegertochter von Noahs Sohn. Natür-
lich sei es anstrengend, jeden morgen früh
aufzustehen um pünktlich bei der Probe
zu sein, sagt die 15-Jährige. In einem Jahr
möchte sie ihren Schulabschluss machen.
Aber der Spaß an der Arbeit mit anderen
Jugendlichen wiegt das auf. Unter den üb-
rigen Solisten hat Ingrid während der Pro-
ben Freunde gefunden und schon gemein-
same Pläne geschmiedet: „Wir wollen ei-
gentlich noch vor der Premiere zusammen
Essen gehen“, sagt die Fünfzehnjährige.
Und wenn am Samstagabend die
Scheinwerfer die Bühne in der Reithalle in
ein blaues Licht tauchen und Noahs Bari-
ton (Christian Beutel) „die Flut ist nah“
dröhnt, während sich der Kinderchor um
ihn drängt, dann dürften auch die Mühen
der Probe für einen Moment vergessen
sein.

Noahs Flut, Opernschule des Jewish Chamber Or-
chestra, Samstag, 2. November, 17 Uhr, Reithalle,
Heßstraße 132

München– Das Münchner Lenbachhaus
hat mit Unterstützung der Israelitischen
Kultusgemeinde Wien zwei Zeichnungen
aus dem eigenen Sammlungsbestand an
die rechtmäßigen Erben der Künstlerbrü-
der Olivier restituiert. Es handelt sich um
die Bleistiftzeichnung „An der Isar“ des
1791 geborenen Friedrich Olivier sowie
um die Kreidezeichnung mit dem Titel
„Landschaftskomposition“ seines sechs
Jahre älteren Bruders Ferdinand. Recher-
chen des Lenbachhauses und der Alberti-
na in Wien hatten ergeben, dass die bei-
den Blätter Marianne Schmidl, einer Uren-
kelin von Friedrich Olivier, 1939 NS-verfol-
gungsbedingt entzogen worden waren.
Das Lenbachhaus hatte die beiden Zeich-
nungen im April 1939 auf einer Auktion
des Kunst- und Buchantiquariats von
C. G.Boerner in Leipzig erworben.
Marianne Schmidl, 1890 in Berchtesga-
den geboren, wuchs in Wien auf und pro-
movierte an der dortigen Universität 1915
als erste Frau in Ethnologie. Sie war in völ-
kerkundlichen Museen tätig, von 1921 an
arbeitete sie als Bibliothekarin an der Ös-
terreichischen Nationalbibliothek. Nach
dem „Anschluss“ Österreichs an das Deut-
sche Reich im März 1938 wurde sie auf-
grund der jüdischen Abstammung ihres
Vaters von den Nationalsozialisten ver-
folgt und in den vorzeitigen Ruhestand
versetzt. Die von den Nationalsozialisten
eingeführten antijüdischen Sondersteu-

ern verschärften ihre ohnehin angespann-
te finanzielle Situation, so dass sich Mari-
anne Schmidl 1939 gezwungen sah, die
seit langer Zeit im Familieneigentum be-
findlichen Kunstwerke zu veräußern. Da-
zu gehörten auch die beiden nun restitu-
ierten Werke.
Am 9. April 1942 wurde Marianne
Schmidl nach Polen in das Transitghetto
Izbica deportiert. Von dort wurden die
meisten Insassen in Vernichtungslager ge-
bracht, hauptsächlich nach Bełżec oder So-
bibór. In Izbica verliert sich die Spur von
Marianne Schmidl. Sie wurde nach dem
Zweiten Weltkrieg auf Antrag einer ihrer
Nichten „für tot erklärt“. lyn

München– Es kommt nicht allzu häufig
vor, dass Musikkritiker einer Meinung
sind. Umso bemerkenswerter ist es, wenn
vier professionelle Beobachter des Klas-
sikbetriebes unisono von der „ultimati-
ven Aufnahme“ eines Werks sprechen. So
wie neulich die langjährige FAZ-Journalis-
tin Eleonore Büning, stellvertretend für ih-
re Kollegen vom Preis der Deutschen
Schallplattenkritik. Bezogen war das
Lob auf Mariss Jansons’ Einspielung von
Richard Strauss’ Rosenkavalier-Suite mit
dem Symphonieorchester des Bayeri-
schen Rundfunks (BR). Von „sehr, sehr
tollen Holzbläsern“ war da die Rede, und
von kunstvoller Walzer-Agogik, dem ur-
wienerisch wirkenden Dehnen und Stau-
chen des Spieltempos.

Für den BR dürfte das eine Bestätigung
dafür gewesen sein, dass sich die Arbeit
der vergangenen zehn Jahre gelohnt hat.
Denn 2009 entschied sich das Haus dazu,
als erster öffentlich-rechtlicher Sender in
Deutschland ein Tonträgerlabel zu grün-
den und in Eigenregie zu managen. Inzwi-
schen sind bei dem Label BR Klassik, des-
sen Aufgabe es laut Intendant Ulrich Wil-
helm ist, „Botschafter der Musikkultur in
Bayern für ein weltweites Publikum“ zu
sein, 150 CD-Aufnahmen erschienen, vie-
le gibt es auch als Stream und Download
im Netz. Darunter sind Livemitschnitte
ebenso wie Studioeinspielungen aller
Klangkörper des BR – vom Symphonie-
orchester über dessen kleinen Bruder, das
Rundfunkorchester, bis hin zum BR-
Chor. Der Bestseller ist bisher eine Einspie-
lung aller Beethoven-Sinfonien aus dem
Jahr 2012. Und erneut heißen die Protago-
nisten hier Mariss Jansons und die Sym-
phoniker.
Dabei bewerkstelligt der 76-jährige Let-
te das Kunststück, einer der wichtigsten
Künstler des BR-Labels zu sein und zu-
gleich zu dessen Konkurrenten auf dem
Klassik-CD-Markt zu zählen. Denn das
Amsterdamer Concertgebouw-Orchester,
das Jansons bis 2015 leitete, war mit der

Idee, ein eigenes Tonträgerlabel zu grün-
den, noch etwas früher dran als der BR.
Das führt zu dem musikwissenschaftli-
chen Glücksfall, dass Klassikinteressierte
etwa bei Gustav Mahlers 7. Sinfonie ver-
gleichen können, ob ihnen der lettische
Maestro mit den Münchnern oder den
Amsterdamern besser gefällt.
Jansons selbst wird wohl nicht in die
Verlegenheit kommen, sich für eine seiner
Einspielungen entscheiden zu müssen. So
bekannte der Publikumsliebling neulich
auf einem Podium, dass er selbst seine
Aufnahmen kaum anhören kann. „Ich wer-
de dann sehr nervös und kritisiere dies
und das“, sagte der Maestro. Den profes-
sionellen Zuhörern, die seine Einspielun-
gen bei BR Klassik erst möglich machen,
ist er dagegen für ihre Kritik dankbar: „Gu-
te Tonmeister fühlen den Klang“, sagt Jan-
sons. Er versteht es als eine Art mitlaufen-
de Qualitätssicherung, dass seine Sym-
phoniker regelmäßig den Mikrofonen aus-
gesetzt sind. Die Aufnahmen helfen bei
der Entwicklung des Orchesters, weil die
Musiker daran gewöhnt seien, die Quali-
tät zu halten. Das kann auch Ivan Repušić,
der Chefdirigent des zweiten Orchesters
des Labels, bestätigen: Ein Rundfunkor-
chester ist es gewöhnt, „mehr Druck und
weniger Zeit zum Proben“ zu haben.
Neben aller Begeisterung für die Flagg-
schiffe der Gegenwart liegt der Charme
des BR-Labels gerade darin, klassische
Musik viel umfassender zu begreifen. Da-
zu gehören die historischen Aufnahmen
von Pultstars wie Lorin Maazel oder Otto
Klemperer, die den Interpretationsge-
schmack der jeweiligen Zeit dokumentie-
ren. Dazu gehört auch der Mut, sich an sel-
tener gespielte Werke zu wagen. Ivan
Repušić hat hier in letzter Zeit Maßstäbe
gesetzt, etwa mit der Aufnahme der Verdi-
Oper „I due Foscari“.
Und dazu gehört nicht zuletzt, sich die
Freiheit zu nehmen, als Klassik-Label
über reine Musikaufnahmen hinauszuge-
hen. So tragen die aufwendig mit Klang-
beispielen und Sprechertexten produzier-
ten „Hörbiografien“ großer Komponisten
wie Robert Schumann, Gustav Mahler
und Richard Wagner am Ende auch zum
Musikgenuss bei: Denn wer mehr weiß,
der hört auch mehr. thomas jordan

Viel mehr als nur die Welt retten


Am Samstag hat die Oper „Noahs Flut“ in der Reithalle Premiere. 120 Kinder und Jugendliche haben


dafür zwei Jahre lang geprobt – die meisten hatten zuvor noch nie ein Instrument in der Hand


Nach 80 Jahren


Lenbachhaus restituiert zwei Zeichnungen


Beglückt


Das BR-Klassik-Label wird zehn Jahre alt


Friedrich Olivier: „An der Isar“, Bleistift-
zeichnung von 1844. FOTO: LENBACHHAUS

„Die Kinder entdecken sich


selber“, sagt Regisseurin


Natascha Ursuliak


Jeder konnte mitmachen beim Opernprojekt und bekam fachkundige Anleitung,
unter anderem von Dirigent Daniel Grossmann (rechts). FOTOS: ROBERT BREMBECK

Hochspannung und volle Konzentration heißt es seit zwei Jahren für die 120 Kinder, die bei der Aufführung von „Noahs Flut“ mitwirken FOTO: ROBERT BREMBECK


Der Charme des BR-Labels
liegt darin, klassische Musik
viel umfassender zu begreifen

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