Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
anna weiss

D

as Viertel möchte ja, dass es
mich gibt“, sagt Marianna Gei-
er und tippt mit den Finger-
spitzen auf die Platte ihres
mit Mosaiken verzierten Café-
Tischchens. Das Viertel von dem sie
spricht, ist das Schlachthofviertel. Geier
hat hier vor neun Jahren ihren Laden
„Buch und Bohne“ eröffnet. Das Konzept:
Eine unabhängige Buchhandlung mit
Café. Der geräumige Laden ist voller Bü-
cher, im hinteren Teil stehen alte Möbel, ei-
ne Gruppe Frauen sitzt auf einem geblüm-
ten Sofa und diskutiert. Mittlerweile ist
Geiers Buchhandlung aus dem Gegend
nicht mehr wegzudenken. Geier verbindet
mit diesem Geschäft ihre Liebe zu Bü-
chern mit ihrer Leidenschaft fürs Gastge-
ben. „Ich bin Ungarin. Die Kaffeehauskul-
tur hat mich inspiriert, es sind Orte des gu-
ten Lebens. Die Leute sollen die Bücher
nicht nur kaufen, sondern auch über sie
sprechen“.


Die Anwohner kommen gerne her, las-
sen sich von ihr und ihren drei Mitarbei-
tern beraten, essen den selbstgebackenen
Kuchen, besuchen die Veranstaltungen. Ei-
gentlich ist Geier gelernte Controllerin.
Doch sie kündigte ihre Stelle, machte ein
Praktikum in einer Buchhandlung und be-
kam Unterstützung durch einen Existenz-
gründer des Börsenvereins des deutschen
Buchhandels. Längst kennt sie sich in der
Verlagswelt aus, weiß, wie die Abläufe sind
und hat ein gutes Gespür für Bücher entwi-
ckelt. „Wir lesen 200 bis 300 Kataloge. Je-
des Buch hier ist eine bewusste Entschei-
dung. Ich kaufe keine fertig geschnürten
Buchpakete“, betont Geier.
Die Kunden wissen das zu schätzen.
„Buch und Bohne“ ist zu der Stadtteilbuch-
handlung geworden, die dem Schlachthof-
viertel gefehlt hat. Kinder stöbern nach Le-
sefutter, die Stammkunden grüßen die In-
haberin mit Namen, das Geschäft ist ein
Platz zum Verweilen. Solche Buchläden fei-
ert die „Woche unabhängiger Buchhand-
lungen“ (WUB), die an diesem Wochenen-
de beginnt. Die Idee: Es soll auf die indivi-
duellen, inhabergeführten Läden aufmerk-
sam gemacht werden, die ihren Kunden
ein Sortiment abseits des Mainstreams bie-
ten und Inseln der Inspiration und des Aus-
tauschs sind. Deshalb organisieren die teil-
nehmenden Geschäfte besondere Veran-


staltungen. Marianna Geier veranstaltet ei-
ne Lesung mit der chinesischen Autorin
Luo Lingyuan, die schon lange in Deutsch-
land lebt. Sie wird aus ihrem Roman „Die
chinesische Orchidee“ lesen, der von einer
modernen Konkubine in China handelt. In
Lingyuans Heimatland ist ihr Roman ver-
boten. „Für die WUB suche ich entweder
Autoren oder unabhängige Verlage raus,
die idealerweise in München ansässig
sind“, sagt Geier. Der Louisoder Verlag, der
Lingyuans Roman verlegt hat, wurde die-
ses Jahr leider aufgelöst.
Im Rahmen der Aktionswoche sind Ko-
operationen zwischen kleinen Verlagen
und Buchhandlungen häufig, man unter-
stützt sich gegenseitig. Und was bringt die
Woche? „Solche Aktionen sind immer
schwierig“, sagt Marianna Geier. „Boo-
kuck“, eine Münchner Initiative zur Sicht-
barkeit von inhabergeführten Buchhand-
lungen schlief nach einiger Zeit ein, nie-
mand weiß so richtig, ob und wie es weiter-

geht. Übergreifende Projekte, die Auf-
merksamkeit auf ihre Branche richten, sei-
en gut, allerdings würde ihr gezielte Wer-
bung in ihrem Stadtteil mehr bringen, sagt
Geier: „Wenn jemand aus Milbertshofen
zu einer Lesung bei mir kommt, ist das
schön. Aber seine Bücher kauft er dann
doch bei sich im Viertel“. Konkrete Auswir-
kungen der WUB seien nicht spürbar.
So sieht es auch Regina Moths von „Lite-
ratur Moths“, die zusätzlich ein ganz ande-
res Problem ausmacht: „Die Ästhetik. Wir
sind eine Branche, die sich mit Typografie,
Grafik und Aufmachung beschäftigt, und
dann diese Optik“. Damit bezieht sie sich
sowohl auf das weiß-blaue Design der
WUB als auch auf den Auftritt des Börsen-
vereins des Deutschen Buchhandels. Trotz-
dem ist sie von Anfang an bei der WUB da-
bei und organisiert Veranstaltungen, die
das besondere Profil ihrer Buchhandlung
unterstreichen. „Natürlich lade ich tolle,
unabhängige Verlage ein. Denn das ist es,

was uns von den großen Ketten unterschei-
det“, sagt Moths. An einem Abend liegt der
Fokus auf den Übersetzerinnen von Reden
berühmter Frauen, die eine amerikani-
sche Autorin gesammelt hat, das Buch wur-
de im Münchner Sieveking Verlag veröf-
fentlicht. „Große Kleinverlage“, nennt Re-
gina Moths diese Verlage.
Ihre Kunden, die auch oft Touristen
sind, denen „Literatur Moths” empfohlen
wurde, wissen, was sie an dem Laden am
Isartor haben. Trotzdem findet Moths,
dass es einen Wandel der Leserschaft ge-
ben sollte. „Es muss viel mehr gelesen wer-
den. Und die Menschen müssen verste-
hen, dass es unmöglich ist, bei Amazon zu
bestellen“, sagt sie. Der Konzern ist vielen
Buchhändlern ein Dorn im Auge. Vielen
Menschen sei das Bewusstsein dafür ab-
handen gekommen, was die Buchhand-
lung um die Ecke alles leisten könne. So-
wohl bei Geier als auch bei Moths können
Bücher bis abends bestellt werden, am

nächsten Morgen sind sie da. Marianna
Geier geht gelassen mit dem Thema Ama-
zon um. „Wenn Menschen zum Einkaufen
nicht mehr das Haus verlassen möchten,
muss ich ihnen etwas bieten, was über das
Einkaufen hinausgeht. Die Atmosphäre,
meine Gastfreundschaft. Und die bekom-
men sie hier“, sagt sie.
Ihre größte Sorge ist, dass die Buch-
preisbindung wegfällt. Dann wären inha-
bergeführte Buchhandlungen machtlos ge-
genüber den großen Firmen, die viele Bü-
cher viel günstiger verkaufen würden, als
es ein kleines Geschäft jemals könnte. Was
die Großkonzerne nicht können: Spannen-
de Autoren in Stadtteile bringen, in deren
Buchhandlungen man sich mit Namen
kennt, Bücher zum Teil nach den Präferen-
zen der Stammkundschaft ausgesucht
werden und auf alle Kundenwünsche ein-
gegangen wird. Der Buchkauf in einem La-
den mit Flair ist eben doch schöner als ei-
ne Bestellung per Mausklick.

Sie nennen sich jetzt „Youth Okay“. Ihre Texte sollen mehr sein, als nur jung und
okay. FOTO:PAUL AMBRUSCH


Es ist eine Nachricht, die zu Tränen rührt:
Ein ganzerVerlag heult – und das auch
noch öffentlich. „Hanser weint“, unter
diesem dürren, düsteren Titel steht die
Ankündigung, dass der Verlag vom 7. bis


  1. November eine Art Pop-Up-Store be-
    spielt; im Lost Weekend will man nicht
    nur Bücher verkaufen (eine in diesem La-
    dencafé ohnehin seltene Tätigkeit), son-
    dern plant auch eine Lesung von Ronya
    Othmann und Mira Mann mit anschlie-
    ßender „Sad Disco“. Inspiriert wird der
    Gefühlsausbruch vom sehr persönlichen
    Buch „Weinen“ der amerikanischen Auto-
    rin Heather Christles. Darin lernt man un-
    ter anderem, dass Heulen (crying) lauter
    und Weinen (weeping) feuchter ist.


Das passt natürlich in erschütternder
Weise zu einer Zeit, in der die Menschen
ohnehin trüben Gemüts im Novemberne-
bel über Friedhöfe wandern. Bevor das
Weinen allerorten nun allzu laut wird
(heul leise, Hanser!), hilft nur ein Gegen-
gift: die Liebe. Denn: Random House
liebt. Am 9. und 10. November werden in
der Neumarkter Straße für die „Lit.Love“
wieder pastellfarbene Luftballons aufge-
pumpt; Autorinnen von Anne Freytag bis
Katherine Webb werden den Leserinnen
dann sehnsüchtig ihre Werke ans Herz le-
gen, außerdem als fast einziger Mann
Wladimir Kaminer, der unvorsichtiger-
weise ein Buch mit „Liebeserklärungen“
vorgelegt hat. Wem so viel Romantik auf
die Seele drückt, dem bleibt immerhin
ein Ausweg. Denn: Heyne rockt. Bei einer
musikalisch-literarischen „Hardcore
Night“ am 5. November in der Milla, mit
Gästen von John Niven bis Tot Taylor,
präsentiert der Verlag kalten Herzens
„Underground-Literatur ohne Berüh-
rungsängste“.
Wie sich all diese Verlagsanstrengun-
gen deuten lassen? Schon so: Wer Bücher
verkaufen will, braucht Emotionen. Wer
mehr Bücher verkaufen will, braucht
mehr Emotionen. Es geht natürlich wie-
der einmal um Leserbindung, um schnö-
des Marketing. Doch um ganz kurz die ro-
sarote Brille aufzusetzen: Solche Aktivitä-
ten beweisen ja auch einiges an Kreativi-
tät; nichts spricht dagegen, Bücher zu be-
werben und dabei Spaß zu haben. Es ist
nicht zum Weinen, wenn Verlage sich ih-
ren Aufgaben mit Hingabe zuwenden.
Sondern schön. antje weber

Kein Mausklick
kann das Erlebnis
vor Ort ersetzen

München– Ein wirklicher Neuanfang im
Leben. Funktioniert das überhaupt? Oder
bleibt aufgrund unserer Erinnerung, unse-
rer Genetik oder kulturellen Prägung
nicht doch immer etwas vom alten Leben
haften? Was es auf jeden Fall gibt, das sind
Knoten- oder Wendepunkte, Momente
oder Situationen, in denen man im Leben
eine neue Richtung einschlägt. Entweder
mit Absicht oder auch, weil man durch äu-
ßere Umstände dazu gezwungen wird. Um
solche „Turns“, um solche Wenden, Abbie-
gungen dreht sich das gleichnamige Al-
bum vonYouth Okay. Einer Münchner
Band, die noch bis Ende 2018Naked Super
Herohieß und damit auch selbst für eine
Neuausrichtung steht. An diesem Sams-
tag stellen die sechs Musiker „Turns“ im
Strom vor.
Warum sie sich nach acht Jahren und
mehr als 300 Live-Auftritten als Naked Su-
per Hero plötzlich anders nennen? Weil
„kreativ alles gesagt“ war und sie irgend-
wie in der berühmten „Sackgasse“ gelan-


det waren. So jedenfalls die offizielle Ver-
lautbarung der Band, die sich mit ihrem
Skate-Ska-Pop-Punk-Rock’n’Roll und
durch ihre mitreißenden Shows bereits ei-
nen guten Ruf erspielt hatte. Deswegen ha-
ben sie bereits aufgenommene Songs für
ein Naked-Super-Hero-Album wieder ge-
löscht, haben angefangen zu experimen-
tieren und irgendwann die Trompete und
Posaune über Effektgeräte gejagt. Das
neue Genre „Alternative BrassFX“ war ge-
boren und damit der Weg für einen musi-
kalischen Neuanfang geebnet.
Ganz konkret bedeutet das, dass sich
die Posaune nun wie ein wabernder Syn-
thesizer oder ein breitflächiger Keyboard-
Teppich anhören kann wie etwa bei „Sup-
posed To Do“. Bei „World On Fire“ ist sie
als Posaune zwar noch zu erkennen, klingt
aber etwas bräsiger und aggressiver. Auch
der Sound der Gitarren hat sich verändert,
in Richtung härter, schwerer, fetter produ-
ziert. Wie überhaupt die Musik als Ganzes
eine Spur ernster, man könnte auch sa-

gen: erwachsener wirkt. Von der früheren
Ska-Punk-Leichtigkeit ist jedenfalls nicht
mehr viel zu spüren in den elf Songs. Em-
phatischen Alternative-Rock mit Elektro-
pop- und Emocore-Anleihen, so könnte
man die neue Stilrichtung auch nennen.

Der neue Ernst, er steckt auch in den
Texten, die allgemeine Themen wie Klima-
wandel oder die politische Lage verhan-
deln, im Falle von „For A Moment“, „Sup-
posed To Do“ und „Mouse In A Maze“ aber
auch sehr persönlich von den Themen Tod
und psychische Erkrankung erzählen. Sie
zeigen den Richtungswechsel in einem an-
deren Licht. Der Hintergrund: Vor fünf Jah-
ren ist die Mutter von Sänger Daniel Fahr-
länder gestorben, die an einer manischen
Depression litt. Genaueres dazu erfährt
man in einem zum Album erhältlichen
„Konzeptbuch“, das neben Songtexten, Fo-
tos, Zeichnungen persönliche Gedanken
von Fahrländer über seine Mutter oder
von anderen Bandmitgliedern über das
Thema psychische Erkrankungen enthält.
Verbunden ist diese persönliche Offen-
heit mit der Forderung nach einer Enttabu-
isierung und dem Wunsch, dass die Gesell-
schaft insgesamt offener mit Themen wie
Depression oder Psychotherapie umgeht.
Damit die Betroffenen die nötige Hilfe
und den Weg aus ihrer jeweiligen Krise fin-
den. So wie es auch den Jungs von Naked
Super Hero gelungen ist, die ihre Verwand-
lung in Youth Okay im Song „Turn
Around“ behandeln. Kratz den alten Na-
men vom Trompetenkoffer, heißt es da,
zieh die alten Klamotten aus und schmeiß
sie in die Flammen. Aber nicht mit der Fol-
ge, dass die Musiker nun wirklich nackt
wären. Nein, sie haben jetzt ein neues
Outfit an, „wie ein Held im nächsten Spiel-
Level“. jürgen moises

Youth Okay: Turns (Munich Warehouse), Sa., 2.
Nov., 20.30 Uhr, Strom, Lindwurmstr. 88

München–Georg Baselitz wurde in die
Académie des beaux-arts des Institut de
France aufgenommen. Die Académie des
beaux-arts hat 63 Mitglieder und ist in
neun Fachbereichen organisiert. Sechs-
zehn Stühle werden mit ausländischen
Kunstschaffenden besetzt. Baselitz folgt
auf den 2016 verstorbenen polnischen Fil-
memacher Andrzej Wajda. lyn

Verweile doch, hier ist’s so schön


Sieberaten kompetent und individuell, beleben ihr Stadtviertel mit Lesungen und Veranstaltungen – und kämpfen ums Überleben:


Bei der „Woche unabhängiger Buchhandlungen“ stellen inhabergeführte, kleine Buchläden einmal mehr ihre Vielfalt unter Beweis


Am Wendepunkt


Aus „Naked Super Hero“ wurde „Youth Okay“ – das hat Folgen


Treffpunkt fürs Viertel: „Buch & Bohne“ von Marianna Geier ist Buchhandlung und Café zugleich. FOTO: ANDREAS GEBERT/DPA

Georg Baselitz


neu in Akademie


Vor fünf Jahren ist
die Mutter von Sänger
Daniel Fahrländer gestorben

Heul lauter


Hanserweint, Random liebt
und Heyne rockt

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