Berliner Zeitung - 02.11.2019

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Berlin


12 Berliner Zeitung·Nummer 255·2./3. November 2019 ·························································································································································································································································································


NichtderOrgasmuszählt


DerBerlinerSexualforscherKlausBeiervonderCharitésagt,dassvorallemGeduldundZärtlichkeitzubefriedigenderSexualitätimAlterführen


K


laus Beier leitet dasInsti-
tut für Sexualwissenschaft
undSexualmedizinander
Charité.Rund 20 Proz ent
seiner Patienten sind ältereMen-
schen mitProblemen beimSex, be-
richteter .HäufiglägenihrenProble-
men irrtümlicheVorstellungen über
körperlicheLiebezugrunde.


Herr Beier,wir sprechen über ein
Thema,dasimAllgemeinentabuist.
Dasstimmtleider.Dochesistein
sehrwichtigesThemaunddadurch,
dassesnichtoffenbesprochenwird,
entstehen viele falscheVorstellun-
genüberSeximA lter.


DannsagenSieuns,wasrichtigist.
Richtig ist, dass die menschliche
SexualitätdurchmindestensdreiEr-
lebnisdimensionen gekennzeichnet
ist: die Lustdimension, die Fort-
pflanzungsdimension und dieBe-
ziehungsdimension.


In den Zeiten vonTinder kommt die
letzteDimensionüberraschend.
Weil Sexualität mitLustgewinn,
sexuellerErregung und Orgasmen
gleichgesetzt wird.DieBeziehungs-
dimension wirdgrundsätzlich un-
terschätzt.Obwohljederbejaht,dass
ersich vertrauensvolleBeziehungen
wünscht.Diese sindvonzentraler
Bedeutung,wenn es darum geht,
unser Grundbedürfnis zu erfüllen,
unssicherundangenommenzufüh-
len. Dennoch ist den meisten nicht
klar,dass sich genau das durch kör-
perliche Nähe mit einervertrauten
Person erreichen lässt.Undzwar
auchohneErregungshöhepunkte.
DieProze sse im Gehirnund im
Nervensystem, die dem zugrunde
liegen,sindguterforscht.Siedämp-
fen dieStresssysteme ab,und das
wirdals wohltuend und entspan-
nendwahrgenommen.
DieEvolution hat diesenMecha-
nismusentwickelt.Siefindenihnbei
allen Säugetieren.Denken Siean
Kinder:WennsieAngsthaben,flüch-
tensiesichindieArmeihrerMutter
oderihresVatersundschnellistalles
wiedergut.


Dasheißt, derSexualpartner sollte
unsauchalsMenschlieben.
DerGrundist: Menschen,dieuns
in dem Gefühl bestärken, dass wir
unersetzlich sind, stärken unsere
Abwehrkräfte .Das Stresserleben
wirdvermindert. Dadurch ist das
Immunsystem weniger gefordert.
Aufdiese Weise verbesserndiese
Menschen und die Nähe zu ihnen
unsereGesundheit.Dasist jedem
Menschenzuwünschen.

Istesw issenschaftlich erwiesen, dass
LiebedasLebenverlängert?
Esistbelegt,dassdieSterblichkeit
vonerkranktenMenschenammeis-
tendavonabhängt,obsiestarkeso-
ziale Beziehungen haben. Anders
ausgedrückt:Menschen mit guten
Bindungenzuanderenlebenlänger.
Starke Beziehungen sind statistisch
ein stärkererFaktor,als mit dem
Rauchenaufzuhören.

Siehaben ein Fünftel älterePatien-
ten.WassindderenProbleme?
Diekörperlichen Proz esse sind
im Alterverlangsamt.ZumBeispiel
dauertesv iellänger,bisbeim Mann
eine Erektion zustande kommt.Bei
der Frau dauertesl änger,bis die
Scheide feucht wird.Wirhaben ge-
rade diesbezüglicheErgebnisse der
BerlinerAltersstudie(BASEII)veröf-
fentlicht.
DadieVorstellungvonSexhäufig
aufPenetrationundOrgasmusredu-
ziertwird,kommtesbeivielenMen-
schen zuFrustrationen.Oder noch
schlimmer:zuS chmerzen.Daspas-
siertzumBeispiel,wennder Mannin
die Frau eindringt, bevor sie feucht
genugist.NacheinersolchenErfah-
rung wir ddie sexuelle Aktivität
manchmalvölligeingestellt.
Oder der Mann erlebt, dass er
nichtinderLageist,eineErektionzu
habenunddassesnichtzumVerkehr
kommt.Danachziehensichmanche
frustrier tzurück. Aussexualmedizi-
nischer Sichtsollten ältereMen-
schen unbedingt ermutigtwerden,
eineaktiveSexualitätzuleben,eben
weil diese eine so wichtige,gesund-
heiterhaltendeRessourceist.

ZUR PERSON

Klaus M. Beierist Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der
Charité. Professor Beier ist seit 30 Jahren klinisch und wissenschaftlich in der Sexualmedizin
tätig.Auf ihngehen neue Konzepte der Sexualtherapie zurVerbesserung der sexuellen und
partnerschaftlichen Beziehungszufriedenheit zurück.Außerdem hat er einen Konzept zur Prä-
ventionvonsexuellem Kindesmissbrauch entwickelt, dasverursacherbezogen ist. Beier wird
auch als Sachverständiger in Kriminalfällen hinzugezogen.

Wiehelfen Sieden Menschen in Ih-
remInstitut?
In der Sexualtherapie fragen wir
zunächst nach der aktuellenSitua-
tion in derPartnerschaft.Wo sieht
sichdereine,wod erander ePartner?
Sofernsich beide in derBeziehung
richtig fühlen und die sexuelleZu-
friedenheit verbessernwollen, er-
mutigenwirdiePaarezum ehrallge-
meiner und sexuellerKommunika-
tion.DaskanndurchStreichelnund
Körperkontakt genauso geschehen
wiedurchGeschlechtsverkehr.Esist
wichtig, dass beide es unbefangen
genießenkönnen.Undobwohldas–
unabhängigvomAlter –auf jeden
Fall möglich ist, geschieht es leider
vielzuselten.

Aber warum fällt es Männern so
schwer,den Frauen Streicheleinhei-
tenzugeben?
Männerhabenhäufigeineeinge-
engte Sichtauf Sexual ität.Sex heißt
Funktionieren, also Erektion voll-
bringen und zum Orgasmus kom-
men,nichtseltenverbundenmitder
Annahme,für den Orgasmus der
Partnerin ebenfalls zuständig zu
sein. Vordiesem Hintergrund wird
Streichelnschnellalsmehroderwe-
niger wertlos empfunden. Wenn
schon, dann sollte es zumVerkehr
kommen,unddasklapptdannnicht
mehrsowiefrüher.Dannkannman
esgleichganzlassen.

Spieltde rOrgasmusüberhaup tkeine
Rolle?
Doch, klar.Erregung und Orgas-
mensindebenfallsbandstiftendund
bindungsfördernd. Daswissen wir
auch durch dieAusschüttungvon
entsprechendenNeurop eptide nwie
zumBeispielOxytocin.Aberdaspas-
siertauchdurch kö rperliche Nähe
ohne Einbeziehung derGenitalien
undohneErregungshöhepunkt.

WashaltenSievonPotenzmitteln?
DieSexualtherapiestehtanerster
Stelle.Durchsi elässt sich viel errei-
chen.UndsielässtsichmitMedika-
menten durchaus kombinieren. Es
kommt vor, dass be ideP artner sa-

gen: „Verkehr finden wir super,wir
möchten das erleben und sind be-
reit, Medika ment ezun ehmen.“Ich
beto ne:beide.HäufigerfolgtdieEnt-
scheidung an derPartnerin vorbei.
Männerversuchen nicht selten, in
Eigenregie auf erektionsfördernde
Medika ment ezurückzugreifen.
Dasist ei ne ungünstigeBezie-
hungsaussageunddieFrauenfühlen
sichzurechtenttäuscht.Eskannder
Eindruck entstehen:Er findet mich
nicht attraktiv und die Chemie er-
setztdieErregungimKopf.DieEnt-
scheidung fürPotenzmittel sollten
beidetreffen.

Sindin einem PaarbeidefürPotenz-
mittel,würdenSieesu nterstüt zen?
Genau. DieEinnahmemussaber
ärztlichabgeklärtwerden,insbeson-
derewenn andereMedikamente,
zumBeispielbeieinerHerzkreislauf-
erkrankung, genommen werden.
ZurBehandlungvonErektionsstö-
rungen gibt es zudem mechanische
Hilfsmi ttel wieVakuumpumpen.
Auch hie rsollte dasPaar entschei-
den. Wenn be ideesbefürworten,
kanndassehrgu tfunktionieren.

GibtesauchPotenzmittel fürFrauen?
Nochkeine ,diewirk lichüberzeu-
gen. In den USA wurde gerade ein
Präparat zugelassen, aber die in kli-
nischenStudiengefundenenEffekte
sind uneinheitlich und allenfalls
moderat.MichwundertdieseSitua-
tion nicht. DamitFrauenbeginnen,
Erregung aufzubauen, muss es eine
Beziehung geben, die Stimmung
mussstimmen.

Womitwir beim Anfang desG e-
sprächs wären. Schneller Sexist
nichtsfürFrauen,ältereoderjüngere.
Richtig.EsistdieSignaturunserer
Zeit, dass wir überSelbstverwirkli-
chung auch eineKonsumorientie-
rungin BezugaufandereMenschen
haben. Deranderemerkt dasu nd
verliertdas Interesse, wenn das Ge-
genübersichnichtwirklicheinlässt.

DasGesprächführte
Eng verbunden zu sein, ist die besteVoraussetzung für guten Sex. IMAGO IMAGES, PRIVAT MechthildHenneke.

ÄltereMenschensindmitunteraktiveralsjüngere


DieneueBerlinerAltersstudieBASEIIkommtzuüberraschendenEinsichtenindieRealitätvonMenschenzwischen60und80Jahren


Ä


ltereMenschen sind imDurch-
schnittwenigersexuellaktivund
haben weniger sexuelleGedanken
alsjüngere.ImErlebenvonGefühlen
wieIntimitätundGeborgenheitgibt
eszwischenJungundAltjedochnur
geringe Unterschiede.Das zeigt die
BerlinerAltersstudieII(BASE-II).


Riesige2nterschiedegefunden

Für die Studie analysiertenWissen-
schaftler mehrerer Berliner For-
schungseinrichtungen Daten von
60-bis80-JährigenmitBlickaufihre
sexuelle Aktivität, sexuelleGedan-
kenundIntimitätaufderGrundlage
eines Fragebogens des sexualwis-
senschaftlichen Instituts der
Charité. Auch wenn der Durch-
schnitt der älteren Erwachsenen
wenigersexuellaktivistalsdiejun-
gen,sogiltdasabernichtfüralle.So


gab fast einDrittel der 60- bis 80-
Jährigen an, häufiger sexuell aktiv
zu sein und häufiger sexuelleGe-
danken zu haben als derDurch-
schnittder20-und30-Jährigen.„Es
zeigt sich somit einmal mehr,dass
esriesigeUnterschiedeimLebenäl-
terer Menschen gibt“, erklärtDenis
Gerstorf, Sprecher derBerliner Al-
tersstudieIIundKo-AutorderAna-
lysezurSexualität.
Um diese individuellen Unter-
schiedezubeleuchten,untersuchten
die Wissenschaftler unter anderem
diezwischenmenschlichenFaktoren,
dieim ZusammenhangmitSexualle-
benstehen.Erwartungsgemäßwaren
Menschen, die einen festenPartner
haben,häufigersexuellaktivunder-
lebten mehrIntimität alsMenschen
ohne Beziehungen. Männer,die als
Status Single angegeben hatten, be- BLZ/GALANTY; QUELLE: STDUDIE BASE 2

Funktionsstörungen
Umfrage unter 750 Menschen im durchschnittlichen Alter von 68 Jahren

mangelndes
Interesse
am Sex

ca. 55%


ca. 40%


ca. 30%
mangelnde
Lubrication

mangelndes
Interesse
am Sex

ca. 55%


ca. 33%


ca. 25%


Erektions-
störungen

vorzeitiger
Orgasmus

bei Frauen bei Männern

Unfähigkeit,
zum Höhe-
punkt zu
kommen

richtetenvonmehrsexuellerAktivität
alsFrauenohnePartner.
Menschen, die länger inBezie-
hungenstanden,hattendabeiweni-
ger Sexund sexuelleGedanken, er-
lebten aber gleichzeitig nichtweni-
ger Intimität. „Dieses Ergebnis
könntedaraufhinweisen,dassesbei
SexualitätimAltereheraufdieQua-
litätalsaufdieQuantitätankommt“,
sagtStudienautorinKarolinaKolod-
ziejczak, wissenschaftliche Mitar-
beiterin amInstitut fürPsychologie
derHumboldt-UniversitätzuBerlin.
DieBeziehungsdauer der Pro-
banden lag dabei zwischen einem
und 63 Jahren, derDurchschnitt lag
bei35 Jahren. Einweiteres Ergebnis:
DieTeilnehmer,die sich im Alltag
einsamer fühlten, berichtetenvon
weniger sexueller Aktivität undInti-
mität,abernichtvonwenigersexuel-

len Gedanken. „DieBedeutungvon
psychischen und zwischenmensch-
lichen Faktoren für ein erfülltesSe-
xualleben im hohen Alter wurde
lange unterschätzt. Dabei können
diese entscheidend sein, solange
körperlicheEinschränkungen nicht
imWegestehen“,sagtKolodziejczak.

Rund¤yåå0eilneh”er
Fürdie VeröffentlichungvonBASEII
nutztendieAutoren Datenvonrund
1500 Erwachsenen im Alter von
60bis 82Jahren und einerKontroll-
stichprobevonjüngerenErwachse-
nen. An derStudie ware nunter an-
derem Wissen schaftler derHum-
boldt-Universität, der Charité und
des Max-Planck-Instituts für Bil-
dungsforschungbeteiligt(mec.)

Mehr Infos:www.base2.mpg.de/de

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2 11
33 BLZ/GALANTY

DER PERFEKTE RUHESTAND


Teil 1: Kassensturz kurz vor der Rente●Teil 2:Wasbleibt imPortemonnaie●Teil 3:Wohnen im Alter●Teil 4:Fitbleiben●Teil 5: Jede MengeFreizeit●Teil 6: Alter und Liebe

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