Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

Feuilleton


26 Berliner Zeitung·Nummer 255·2./3. November 2019 ·························································································································································································································································································


die wissen das,die kennen sich da
aus.Ind er Kleinstadt, aus der ich
kam, hatte ich niemanden gehabt,
der mich auf eine solchePrüfung
hättevorbereitenkönnen.Ichhabe
danach jahrelangversucht, einen
anderenWegzug ehen. Ichhabe
Krankenschwester gelernt, eine
Weile an der TUDresden studiert,
dannhabeichesnochmalprobiert.
DerProfessor war immer noch da,
ein sehr guter alter Lehrer,ganz
fein. Ichglaube,erk onnte sich gar
nichtanmicherinnern.

Istdie Motivation solcher Lehrer
nicht oft auch unlauter,missbrau-
chensieihreMachtüberjungeMen-
schen,dienochkeineMöglichkeitha-
ben,demetwasentgegenzusetzen?
InmeinemFallwardasnichtun-
lauter.Ich glaube,dieser Professor
wollte mich wirklichvoreinem un-
glücklichen,sinnlosenLebenalsun-
begabte Schauspielerin schützen,
unddasistauchinOrdnung.Esbe-
werben sichTausende vonLeuten,
und25 werdengenommen.Imgüns-
tigsten Fall bedeutet die Härte,je-
mandem klar zu sagen, dass das
nichtseinWegist,etwasGutes.

Um ein Haar hätte man Sieals
Schauspielerinverloren.
Na ja, hat man aber nicht.Der
Professor imFilm hat seine harten
SätzeübermangelndeBegabungje-
demgesagt.Daswardie Prüfung.Es
war letztendlich LarasPersönlich-
keitsstruktur,die dazu führte,dass
sie sein Urteil nicht als Anspornse-
henkonnte.Esi stnichtseineSchuld.

UnterrichtenSieselbst?
Nein, um Gottes Willen. Dafür
habe ich einen viel zu großenRe-
spektdavor.ZumUnterrichtenfühle
ichmichnichtberufen.Anderema-
chen das grandios.Ich kann es gar
nicht.

Lara scheiterteigentlich auf allen
Ebenen, auch alsMutter.Was ist da
passiert?
DerSohn ist die Liebe ihres Le-
bens,der allerengsteMensch, und
dahatsienahezuetwasMissbräuch-
liches.Siehatesnichtgeschafft,sich
zudistanzieren,damitdasKindsei-
nen Weggehen kann.Diesen Tren-
nungsschmerzauszuhalten, den
schrecklichsten fast,wenn man mit
demKindeng verbundenist,dashat
sie nicht geschafft.Ichglaube,dass
es vorher ein inniges,intimes Ver-
hältnis voller Liebe war,aber sie
konntedenSohnnichtlassen,nicht
gehen lassen. Es gibt eineNovelle
vonThomasMann,„TobiasMinder-
nickel“,übereineneinsamenMann,
einen Dorfidioten, der einenHund
findet und ihn aufzieht.DerHund
wirdkräftigerundwirdzumeigenen
Wesen, er macht nicht mehr ganz,
was derMann will, und das irritiert
ihn, er will wieder denZustand der
Bedürftigkeit,Innigkeit, und so be-

ginnt er ihn zuverletzen, um seine
Hilflosigkeit wiederherzustellen.
Dasist unwahrscheinlich gut beob-
achtet und lässt sich auf menschli-
che Beziehungsgeflechte übertra-
gen. Ichglaube,soe twas Ähnliches
passiertLaraauchmitdemSohn.

„Lara“istaucheinFilmüber extreme
Einsamkeit.Wiehält jemand so viel
Beziehungslosigkeitaus?
Siehat sich daran geübt.Sie
versucht, Schmerzdurch ihreUn-
beweglichkeit, ihrestoischeHal-
tung, irgendwohin zuverbannen.
DassiehtdannauswieStärke ,wie
jemand,derhundertprozentigvon
dem überzeugt ist, was er die
ganzeZeittut. Aberdasistwirklich
nur ein Schutz.DieMauern, die
sie um sich gebaut hat, haben ei-
nenGrund,diesindnichtangebo-
ren.Mankannsichauchfüreinen
anderenWegentscheiden,abersie
konnte es nicht.Siekonnte nicht
spielen,nichtleichtfertigsein.

Hatdie Härte und Kälte, die man in
diesemFilmetwaineinerSzenezwi-
schenLaraundihrerMuttersieht,et-
wasExemplarischesfürdeutscheFa-
milien?
EsisteinsehrdeutschesDiktat,
dass die harte körperliche Arbeit,
das frühe Aufstehen morgens,
überallemanderensteht.Allesan-
dereist nachgeordnet aus der
Sichtderhartkörperlicharbeiten-
denLeute.Ind eren Augenistjede
künstlerische Arbeit Quatsch.
DeshalbsprichtLarasMutterauch
vonGeklimper,wennjemandKla-
vierspielt.DieTochterhatsichaus
dem Nest und dessen einfachen
Strukturen entfernt.Siehatte die
komischeIdee,Pianistinwerden
zu wollen.Aufihrem eigenenWeg
hatte sie keineUnterstützung.In
der bürgerlichenMitte hätte man
vielleicht anerkannt, dass man
Klavierspielt.Aberdassdasdeine
Nahrungist,deinLeben,dasdann
auchnicht.Daheißtes:Machmal
lieber was Anständiges,das si-
chertdir deine Existenz. Dass
Kunst deine Existenz ist, wird
nicht verstanden. Es geht immer
um Sicherheit, ich habe nicht das
Gefühl,dassdasandersgeworden
ist. Es ist auf allenEbenen so:Die
Kunst ist dasKompott, wenn wir
unsdasleistenkönnen,dannma-
chenwirdasnatürlich.Esistdoch
ganzhübsch,nacheinemKonzert
beieinanderzusitzen,schönessen
zu gehen, mit einem gutenWein.
Aber dass Kunst eineNahrung ist,
das Gefühl habe ichringsum ge-
radenirgendwo.

Siemeinen, auch Klassik wirdaus-
schließlichkonsumiert?
Dasistganzoftso,ja.Icharbeite
viel mit der japanischen Pianistin
HideyoHaradaundihremMannOs-
car Friedt zusammen, und dasGe-
sprächmitdiesenbeidenMenschen

D


erKontrastzwischender
anonymen Atmosphäre
einesHotelzimmersund
dem freundlichenEmp-
fang durch Corinna Harfouch
könnte kaum größer sein.Weil die
klobigenSessel denkbar ungünstig
stehen für einGespräch, bietet sie
denPlatznebenihraufdemSofaan.
Unmöglich, der Schauspielerin die
Begeisterung über „Lara“ nicht so-
fortzug estehen.Sieträgtdenzwei-
ten Film des Regisseurs Jan-Ole
Gerster(„O hBoy“)fastallein.Esgibt
kaum eineEinstellung ohne sie.In
der Erzählzeit eines einzigenTages
spielt Corinna Harfouch eineFrau,
die ihren sechzigstenGeburtstag in
größter innerer Einsamkeit ver-
bringt. IhrSohn, gespieltvonTom
Schilling,gibtandiesemTagalsPia-
nist undKomponist ein entschei-
dendesKonzer tinB erlin.SeineMut-
ter,die lange seine wichtigsteMen-
torin war,hat er nicht eingeladen.
Wiedieser Tagunaufhaltsam auf
eineEruptionunterdrückterGefühle

zuläuft, wie sich dasGeflecht einer
destruktivenFamilie entfaltet, das
alleserzählt„Lara“instarkenBildern
und mit der großenKunst seiner
Hauptdarstellerin.

Frau Harfouch, Lara ist eineFigur,
die sich selbstverfehlt hat.Eine Pia-
nistin,dienichtspielt.
Corinna Harfouch: Sieist keine
Pianistin.Mankann keine Pianis-
tin sein,wenn man nicht spielt.
Wasdie Musikerin in ihr getötet
hat, ist das extreme Anspruchs-
denken.Sieglaubte mit solchem
Ernst an dieWelt der klassischen
Musik, dass für sie damit kein
Spielmöglichwar.Esg abnurent-
weder oder.Einmal sagt sie: „Ich
hätteesnieganzbisnachobenge-
schafft“, und damit ist nicht die
Karrier egemeint, sonderndie
Möglichkeit des künstlerischen
Ausdrucks .Siehatsichnichtzuge-
traut,demgerechtzuwerden,was
sie sichvorgestellt hat.Siehätte
ein bisschen mehrUnterstützung

gebraucht.DemUrteil einesPro-
fessors,der für sie eineInstanz
war,hatsiesichdanngebeugt.Ich
habe mich ihr genähert, wie man
sich einemGeheimnis nähert.Ich
habe versucht, mir ihreBiografie
vorzustellen, aberletztendlich ist
das Geheimnis dieser Frau für
michnichtrestlosgelöst.

DerKlavierprofessorhatdenNimbus
einerüberalleserhabenenAutorität.
Haben Sieals Schauspielstudentin
solcheLehrererlebt?
BeiderAufnahmeprüfungfürdie
SchauspielschuleBerlin –soh ieß
die Ernst-Busch-Hochschule da-
mals –gab es einenProfessor,der
mir ganz klar sagte,ich hätte keine
Leidenschaft für diesenBeruf. Es
hättekeinenSinn,nocheinmalwie-
derzukommen, es wäreein Irrtum
gewesen, mich zurAufnahmeprü-
fungeingeladenzuhaben.Ichsolle
michnichtunglücklichmachen.Er
warfürmichaucheineInstanz,der
ich gefolgt bin.Ichwar mir sicher,

„Plötzlichfälltdirauf,


dassduzuvielkannst“


DieSchauspielerinCorinnaHarfouchüberdasHandwerklicheinderKunst,ihrLebenineinem


brandenburgischenDorfunddieTitelrolleindempreisgekröntenFilm„Lara“


Esgibt


Probleme,


aberegal


Stingspielteinder
ArenaamOstbahnhof

VonJohannes vonWeizsäcker

V


iele ältereMenschen, aber auch
einige ihrer Kinder undEnkel
hatten die bestuhlte Arena amOst-
bahnhof ausverkauft, als hier am
DonnerstagabendSting auftrat und
imRahmenseinesaktuellenAlbums
„MySongs“ Neuinterpretationen
seiner schönsten Erfolge darbot.
Und:EswareinsehrgutesKonzert!
DennobwohlStingalsproblema-
tischanzusehenist–dieseselbstge-
rechte Weltverbesserungsgestik!
Diese Welt-Jazz-Pop-Arrangements
mit demBrandford-Marsalis-Gedu-
del! Überhaupt derGroßteil seiner
Musik! DieseTee-und-Spazierstock-
Klischees in „Englishman inNew
York“! −muss ich sagen:Ichbin
Sting-Fan!Denn es gibt eben auch
dievornehmlichmitThePoliceent-
standenen Stücke wie „Wrapped
AroundYour Finger“ oder „Every
Breath YouTake“ −über Parallelen
zwischen obsessiver Liebe und ei-
nem zum Überwachungsstaat ten-
dierendenSystem–,dieinZeitenso-
zialerMediendurchausaktuellsind.
Andererseits erholsam, dass
Stings Konzer tauf die im heutigen
Arena-PopüblichenVideoschnittge-
witter verzichtete und darin be-
stand, dassMusiker spielten, wäh-
rendSting,derseinenArmaufgrund
einer Schulterverletzung in der
Schlingetrug,dastandundsang.
Übel nehmen würde ich ihm,
dass er zwecksNeuinterpretierung
die schöneStrophen-Melodie aus
„Wrapped AroundYour Finger“ zu-
gunsten einer langweilig bluesigen
Skalawegließ,dassermehrfachun-
passende Bob-Marley-Zitate ein-
flochtoderdasserimmernochdiese
Hotelbar-Version von„Roxanne“
spielt.
Aber ansonsten war es ein toller
Abend!Sowurde„KingofPain“zuei-
nem slickenHybrid ausFunk und
Depression.Tutmir leid, aberSting
isteingroßerKünstler.


Lara (Corinna Harfouch) mit ihrem SohnViktor (Tom Schilling) STUDIOCANAL

kultur pur

telefonische Anzeigenannahme: 030 2327-50

S h a l o m B


erlin


JÜDISCHE


KULTURTAGE


BERLIN


07 –17


NOVEMBER


2019


http://www.juedische-kulturtage.org

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