Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 255·2./3. November 2019 27 *·························································································································································································································································································

unterschiedliche Berufsgruppen
vonMenschen, denen einModera-
torFragenstellt.Fragen,dienichtdie
politischeIdentität berühren, son-
derndein alltägliches Leben, dein
Menschseinbetreffen.ZumBeispiel:
Werwar früher Klassenclown?Und
dann strömen aus diesenGruppen
wieder Menschen zusammen, die
sich finden. Für mich sind solche
Fragen einwenig die Leitlinie,wie
man Gespräche führen kann.Ich
redezum Beispielsehrvielmitdem
einzigenReichsbürger bei uns im
Dorf. Dasist jemand, der unglaub-
lichhilfsbereitist,unddasnichtaus
Kalkül. Ichkenne ihn schon, seit er
ein Kind war .Ich kann mit diesem
MenschenalsMenschgutumgehen,
ich mag ihn.Ichkann gut nachvoll-
ziehen,warumersogewordenist.

VersuchenSie, diesen jungenMann
politischzubeeinflussen?
Ichführediese Gespräche.Man
muss es tun.Wirkönnen es uns
nichtleisten,nichtmiteinanderzu
sprechen. Ausschließen ist eine
ganz blödeHaltung. Herablassung
auch.Wassind wir denn hochmü-
tig, was sind wir denn selber,wir
linksliberalenMenschen, die wir
unsständigeinbilden,wirwüssten
allesbesser?Dasistabsolutanma-
ßend.IchkanndenLeutenimDorf
nichterzählen,wiedasLebengeht.
Ichmuss erst mal zuhören.Wenn
eine Feekäme und sagte „du hast
dreiWünsche offen“, hätte ich mir
früher sonst was gewünscht.Aber
jetztwünscheichmirzutiefst,eine
Sprache zu lernen, die dieseMau-
erndurchdringt,dasistunsereAuf-
gabe.Zweitens würde ich mir das-
selbewünschenunddrittensauch.
Es geht auch um unsereHilflosig-
keit. Darum, dass wir keine Fähig-
keit haben, das auszuhebeln.Dass
wirnichteinmalrichtigerforschen
wollen, woran dieseEntwicklung
eigentlichliegt.

SindSieakzeptier timD orf?
Ichhabezusammenmitanderen
einen Verein gegründet, um mit ei-
nemaltenSaaleinenOrtzus chaffen,
in dem das Dorfzusammenkommt,
dasistderWunsch.MeinTraumwäre
es,dortLeutezufinden,dieProjekte
miteinander machen, und dann
kommt das nächste.Ich liebe den
Kontakt mit denNachbarn, wirre-
den über alles Mögliche,übers Ko-
chen, Backen, denGarten, man er-
lebttausendwunderbareDinge.Ich
habeim SommereingroßesDorffest
mitveranstaltet, da sindMenschen
gekommen, die waren in ihrem Le-
bennochnieinBerlin.Esgibtjabei
Städterneine Angstvordiesem Un-
geheuer Landbevölkerung. Sicher,
weilmanihrenStolzspürt,ihreUn-
abhängigkeit.Siehabenihr eFreude
daran,dasssieallesselberschaffen,
scheinbarselberschaffen.

DasGesprächführteChristinaBylow.

SONNTAGSKRIMI


VonFrank Junghänel

D


as ist der 35.Fall aus Münster.
Dasheißt 35Malanderthalb
StundenKalauerundSparwitz e.Erst
musste man die beidenPappnasen
gut finden, um sozial akzeptiertzu
werden, dann durfte man sie aus
ebendiesemGrundenichtmehrgut
finden,undnunistesehwurscht.
Diesmalallerdingsfällteinemdas
Gutfindenso leichtwieschonlange
nichtmehr.DerLakritz-Mordbietet
besten Münsteraner Slapstick,der
sichumeineMeucheleiherument-
faltet –oder ist es doch eher eine
Mauschelei?AlsMordwaffedientmit
Zyankali versetzte Lakritze, die dem
Wochenmarktmeisterder Stadt ein,
tja,bitteresEndebereitet.
Thielriechtnichts,wasBoernezu
einer kleinen Besserwisserei ani-
miert:DieHälftederMenschheitsei
olfaktorischnichtinderLage,Bitter-
mandelgeruch wahrzunehmen.
Obacht also.Der Verdacht fällt auf
die ehrwürdige Lakritz-Manufaktur
derFamilieMaltritz,mitdersichder
Professor auf sentimentaleWeise
verbundenfühlt. Vorvierzig Jahren
hatte er als damals schon immens
hochbegabter und gleichermaßen
verdrucksterMusterschülerdersehr
miniberockten Monika Nachhilfe in
Mathe geben sollen. Siewiederum
gabihmNachhilfeindenwichtigen
Dingen des Lebens,was bei Boerne
imEndeffektzueinertraumatischen
Begegnungmit frisch zubereiteter
Lakritzeführte.
Unddas kommt nun alles wieder
hoch,wiemansagenkann.DerWitz
dieserGeschichtevonThorstenWett-
cke(Buch)undRandaChahoud(Re-
gie) besteht neben dem pointierten
Boerne-Thiel-Pingpongim Spiel mit
den Zeitebenen.Beim Schnuppern
anderLakritzeerlebtderProfessorei-
nenFlashindieVergangenheit.Alser
noch Karl-Friedrich war,ein kom-
plexbehaftetesPummelchen,dessen
Genialität sich schon mehr als nur
andeutete,wurde er mit einem To-
desfall konfrontiert, der in ihm den
Wunschweckte,sichspäterberuflich
mitLeichenzubefassen.
In der Jetztzeit trifft erMonika
(AnnikaKuhl)wieder,fürbeideeine
Begegnung,diewiesooftinsolchen
FällenvonvielSchamhaftigkeitund
einemStichMelancholiegeprägtist.

Tatort–LakritzSo,20.15 Uhr, ARD

Boernes


süßes


Trauma


Thiel (Axel Prahl, l) und Boerne (Jan Josef
Liefers) beim Lakritz-Test WDR/WILLI WEBER

TOP 10


Donnerstag,31. Oktober

1Der Irland-Krimi ARD 4,94 17 %
2Tagesschau ARD 4,79 17 %
3heute ZDF 3,92 17 %
4SokoStuttgart ZDF 3,64 18 %
5heute journal ZDF 3,47 13 %
6Wer weiß denn ...? ARD 3,45 18 %
7RTL aktuell RTL 3,42 15 %
8Notruf Hafenkante ZDF 3,30 13 %
9TeamAlpin ZDF 2,99 10 %
10 Rosenheim-Cops ZDF 2,68 22 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %

ZUR PERSON

Corinna Harfouchwurde am 16. Oktober 1954 in Suhlgeboren,
aufgewachsen ist sie im sächsischen Großenhain. Nach dem Abitur
machte sie eineAusbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin,
1976 begann sie an derTU Dresden ein Studium zurTextilingenieurin.
Von1978 bis 1981 studierte Corinna Harfouch an der Staatlichen
SchauspielschuleBerlin und war danachMeisterschülerinbei Vera
Oelschlegel imTheaterim Palast (TiP). In den 80er-Jahrenübernahm
sie Hauptrollenam Berliner Ensemble,nachder Wende spieltesie
zunächstam DeutschenTheaterin Berlin und wechseltedannzur
Volksbühne,wo sie eine der wichtigstenProtagonistinnendes
IntendantenFrankCastorfwurde.

Ihre erstenFilmrollenspielteCorinnaHarfouchbei der Defa, 1988
wurdesie für die dieTitelrollein „Die Schauspielerin“beimFestival in
KarlovyVarymit dem Darstellerpreisausgezeichnet.Dortwurde sie in
diesemJahr auchfür die Titelrollein Jan-OleGersters„Lara“geehrt.
Der Film kommt am Donnerstagin die Kinos.

Corinna Harfouch bei der Berliner „Lara“-Premiere am vergangenen Dienstag im Kino „Delphi“ GETTY IMAGES


öffnetmirdieWeltder Musik.Sieha-
ben ein unglaublichesWissen, eine
LeidenschaftundeineFähigkeit,das
auszudrücken, was sie in derMusik
empfinden, ich bin wahnsinnig
gernemitihnenzusammen,dassind
meine großen Lehrer in derMusik.
Sieproben in einem winzigenZim-
mer,ind em zweiFlügel nebenein-
anderstehen.ImSommerhabenwir
„Don Giovanni“ aufgeführt, aber
nicht so ,dass einer liest und dann
wieder Klavier gespielt wird. An so
etwas Kulinarischem will ich nicht
teilhaben, das mag ich überhaupt
nicht. Damit tut man nur denen ei-
nen Gefallen, diePoesie undMusik
verk onsumierenunddanachschnell
zurTagesordnungübergehen.

WelcheMusikhörenSieselbst?
Ichliebe Liszt, und ich liebe alle
Klaviersonaten und Klavierkonzerte
vonMozart,ichliebeBach,ichhabe
kein tollesVerhältnis zu Debussy,
den verstehe ich nicht, aberwenn
ich mich mitHideyoauf ein Ge-
sprächdarübereinlasse,einesTages,
dannändertsichdas.

DieDirigentinKristiina Poska hat
mir in einemIntervie weinmal ge-
sagt: „DieEntwicklung einesMusi-
kersistimmerdieEntwicklungeines
Menschen.“GiltdasfürSchauspieler
genauso?
Ja,sonst ist es vielleicht Artistik.
EsgibtjasovieleMöglichkeiten.Du
kannst an deiner Artistik arbeiten
oder weiter ins Menschenfachvor-
dringen.EsgibtPhasen,indenendu
vorallem etwas für deinHandwerk
tun möchtest, und plötzlich fällt dir
auf, dass du zu viel kannst, dass die
Unschuld, nach der du dich sehnst,
nichtmehrdaist.Esgehtimmerum
dieFragevonTechnikundAusdruck.
Wenn man die körperlicheHeraus-
forderung möchte,ist das Theater
einsehrguterOrtdafür.

Wasganzanderes:Siesindindiesem
Sommer zum erstenMalseit 1989
wieder auf eineDemonstration ge-
gangen.InDresden,unterdemMotto
„unteilbar“ gegen den Rechtsruck
und dieSpaltung derGesellschaft.
Wiekamdas?
Ichkanneskaumfassen,wasder-
zeitpassiert,wieleichtfertigwichtige
Dingeverspieltwerden.Ichhabevor
Jahren dieEntscheidung getroffen,
inBrandenburgzul eben,undfinde
es herrlich dort.Dasist etwas ganz
anderes ,als sich ständig nur unter
seinesgleichen aufzuhalten.Da hat
manseinebürgerlichenAbendemit-
einander,man isst, man unterhält
sich immer über dasselbe.Der eine
argumentiertein bisschen besser,
der andereschwächer,aber man
bleibt immer in derselbenSoße.Ich
lebeaufdemLande,undichhabees
mitdenLeutendortzut un.Neulich
hatmireineKollegineinVideoüber
ein soziologisches Experiment in
Dänemarkgeschickt.Da sieht man
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