Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

6 2./3. NOVEMBER 2019


D


ieseGeschichtebeginntmitei-
ner Enthauptung. Eine junge
FrauausdemRoncal-Talinden
spanischen Pyrenäen soll dem
Kalifen Abderraman in einer Schlacht den
Kopf abgeschlagen haben.Dasist mehr als
tausendJahreher,aber die Frauenfigur aus
Pappmaschee mit derroten Schürze,die so
harmlos wirkend in denSouvenirlädenvon
Pamplona steht, erinnertnoch an sie.Ihre
Schürze ist rotvon Blut, denn sie hat darin
denKopfweggetragen,hinunterinsTal,zum
Bewe isfürdenToddesFeindes.Dasisteine
Legende,aber wahr ist, dass KönigSancho
Garcíaim Jahr882denEinwohnerndesRon-
cal-Tals zumDank für ihreTapferkeit im
Kampf gegen dieMauren dasRecht verlieh,
ihreSchafherden imWinter,wenn in den
Berg en Schnee liegt, auf dieWeiden in den
Bardenas Reales zu treiben, diesevonder
Unesco zum Biosphärenreservaterklärte
HalbwüsteimSüdenderProvinzNavarramit
ihren bizarrenFelsformationen, die schon
alsKulissefür„GameofThrones“dienteund
fürden Bond-Film„DieWeltistnichtgenug“.
Dieses Recht hat bis heuteBestand und
damitdiearchaischeTraditionderTranshu-
manz, die die Schäfer zu halbenNomaden
macht,dieihreLebenzwischenWinter-und
Sommerweiden teilen. DieTranshumanz
gibtesimgesamtenAlpenraumundanderen
Gegenden.VergangenesJahr hat Österreich
zusammenmitItalienundGriechenlandbei
der Unesco beantragt, sie als immaterielles
Kulturerbeanzuerkennen.NochdiesenMo-
natsolldieEntscheidungfallen.
Diepyrenäischen Schäfer leben in den
warmenMonatenindenBerg en,im Winter,
wenn der Schnee dortmeterhoch liegt, in
den Bardenas Reales.Noch ist das so,denn
dies ist dieGeschichte einerverschwinden-
denTradition.Vor20J ahrengabes30Schäfer
imTal,heutesindes15.FernandoOtalistei-
nervonihnen.
WirtreffenihnaufdemParkplatzindem
DorfGarde .Erist 39, trägt eineverspiegelte
SonnenbrilleundimlinkenOhreinenRing.
120EinwohnerhatdasDorfimS ommer,50
im Winter.Den Pyrenäen geht es nicht an-
dersalsderUckermar k–demLandstrichge-
hen die Menschen aus.3000 lebtenvor30
Jahren imRoncal-Tal, jetzt sind es noch
1000,dieHälftevonihnensindRentner.Im-
merhingibtesnocheinenLadeninGarde, er
öffnetzweiStundenamTag.
WennFernandoOtalundseineFreundin
Lust hätten, in ein chinesischesRestaurant


zu gehen, müssten sie in das 90Kilometer
entferntePamplonafahren.Aberesgibtzwei
Bars,dashieristschließlichSpanien.Undin
Isaba,dreiDörferweiter,betreibensiesogar
nochdasrund100 JahrealteKino.Einmalim
Monat wir ddortsamstags einFilm ge zeigt,
erzählter.
DieStraßehinaufzudenWeidenistunbe-
festigt, nur mit dem Allrad-Jeep befahrbar.
Manwirddurchgeschüttelt, in denKurven
darfman nicht nach unten sehen. Für die
zwölf Kilometer braucht man eineStunde.
DerSchäfermachtdieseanstrengendeTour
zweimalamTag,dennermages,dieMittags-
pauseimDorfzuv erbringen.„MeinVaterist
zehnTageam Stückobengeblieben“,erzählt
er.DermusstedenWegzud enWeidenaber
auch zuFußmit dem mitVorräten belade-
nenEselmachen.
DieLandschaft hat schonHerbstfarben,
dasGrasist voneinemmattenGrün,manch-
malmeintmaneinSchafzuentdecken,aber
dannistesdochnureinhellerFelsbrocken.
Wirhalten unter einer Hütte ausFeldstein.
Diehatvoreinpaar Jahrendie Regierungden
Schäferngebaut.„WegenderBären“,erklärt
FernandoOtal.DerBraunbärwarindenPy-
renäen fast ausgerottet–zur Freude der
Schäfer –, dann wurden einigeExemplare
ausOsteuropaimportiert,damitderBestand
sich imNamen desNaturschutzes erhole.
1996kamdieersteBärin,sienanntensieCla-
velita. Es ist ein Thema, dasFernando Otal
aufregt.BärenreißenSchafe,abervorallem
macht ihreNähe dieTierenervös ,esg ibt
Fehlgeburten,Abstürze.Sinddie Tiereunru-
hig,bleibtFernandoOtalüber Nacht,füralle
Fälle.Ind enverg angenenTagenistesruhig
gewesen.
Jetzt sieht der Schäfer nicht zuerst nach
seinenSchafen,erwendetseinenBlickzum
Himmel,suchtihnnachGänsegeiernab.Das
sindAasfresser,Totengräber.StirbteinSchaf,
sind sie schnell zuhauf zurStelle.Jetzt krei-
sennurdreiExemplarehochübereinemFel-
sen.FernandoOtalwinktab.Siesindvielzu
weit weg, als dass sie ein bösesOmen dar-
stellenwürden.
Reißt ein Bär ein Schaf, zahlt dieRegie-
rung eineEntschädigung.Aber erst, nach-
dem einGutachter denKadaver untersucht
hat und dieTodesursache bescheinigt. Es
kannTagedauern,biserkommt.DesSchä-
fers zweiter Hütehund, einMastín del Pire-
neo,großundmassig,verteidigtdenKadaver
danngegendieGeier,dieeine Flügelspann-
weitevonbiszu2,80Meterhaben.DerHund

wirftsichaufdastoteSchaf.„Dasmussman
ihmnichtmalbefehlen“,sagtFernandoOtal.
SoalsoberdasindenGenenhätte.
FernandoOtalundseinedreiBrüderbe-
sitzen zusammen5000Schafe.Zus ehenist
andiesemNachmitt agkeineinziges.Sieha-
ben sich in ein Pinienwäldchen in einer
Senke zurückgezogen, sichvorder Sonne
versteckt. Manhörtsie nur .Manche haben
Glockenum.Nötigistdasnichtmehr,man-
chesindmitGPS-Sendernausgerüstet.
AufeinemschmalenPfadmachenwiruns
aufden WegRichtungHerde, andenkurzen
Pflöcken zu beidenSeiten ist er auch als
Wanderwegzue rkennen. DerWeitblick ist
grandios.FernandoOtal nennt dieNamen
derBerge:Escaure,Espelunga,derTafelberg
heißt„Mesadelostresreyes“,Tischderdrei
Könige.Ess inddieKönigevonNavarra,der
Nachbarprovinz Aragonien undFrankreich,
dessenGrenzeganzinderNäheist.
ZurZeitdes SpanischenBürgerkriegsund
während derNazi-Zeit waren die Pfade im
GrenzlandFluchtrouten.Franco-Gegnerflo-
hennachFrankreich,vondenNazisVerfolgte
versuchten, über dieBergezum Hafen von
Liss abonzugelangen.
Während derFranco-Diktatur war der
GebrauchderbaskischenSpracheverboten,
diehierallenurEusker anennen.MitErfolg.
Immer weniger Menschen wagten es,ihre
Sprachezus prechen,vonder kein Mensch
weiß,wiesieentstandenist.AuchFernando
Otals Mutter sprach irgendwann nur noch
Castel lano.„Meine Brüder undich ha ben
Eusker aniegelernt“,sagtFernandoOtal.Er
bedauertdas.DieRenaissance,diedie Spra-
chenach FrancosTodimJ ahr 1975 erlebte,
indemesinderRegionanmanchenSchulen
sogar wieder Unterrichtssprache wurde,
kam für ihn zu spät.Heuteist jedes Orts-
schildindenPyrenäenzweisprachig.
FernandoOtalistnichtimmerSchäferge-
wesen.SeineMutterwardagegen.„Wolltihr
SklavenderTieresein?“,habesieihreSöhne
gefragt. Fernando Otal hat eine kaufmänni-
scheAusbildunggemacht,zehnJahrelangin
einer Papier fabrik gearbeitet.EinBüroj ob.
Erstwu rdeerdepressiv,dannwurdeerSchä-
fer.Weil er sich die Arbeit mit denBrüdern
teilt, kannersogarmanchmalindenUrlaub
fahren. Einmal kam er bis nachHawaii, als
seineFreundindor teinPraktikummachte.
Vonden 15 SchäfernimR oncal-Tal ma-
chenneundieTranshumanz.Dreiladenihre
TiereaufLast wagen,sechsmachenesaufdie
traditionelle Artund gehen zuFußauf den

alten Driften,denCañadas,dieein Wegenetz
bilden, das längstvonAutos traßen durch-
kreuzt wird, das man aber auchrespektiert
und erhält, indem man für dieTiereUnter-
führungen baut oderBrücken. Sechsder
Schäfer bleiben oben in denBergen, stellen
ihreSchafei nden Stall, bezahlen das teure
Futter.FernandoOtal kann sich das nicht
leisten.WederdieLastwagennochdasWin-
terfutter .Von de nSchafen lebenkönne er
„gerade so“.Er verkauft dasFleisch für den
vonder EU vorg eschriebenenPreis von
sech sbissiebenEuro proKilo.Dazugibtes
Subventionen. „Auf die könnte ichverzich-
ten,wennichbesse rePreisebe käme.“
Zehn Tage langwerden Fernando Otal
unddie Hundeunterwegssein,bissiemitih-
renSchafen dieBardenas Realeserreichtha-
ben.180KilometerlangistihrWeg.Schlafen
werden die Hirten in einemTransporter.
Eine mühseligeReise? „Wenn ich erst mal
losgegangenbin,könnteichbisnachAnda-
lusien marschieren“, sagt er.„Dasmusst du
hierdrinhaben.“Erk lopftsichandieBrust.
Dahin,wodasHerzist.
SeiteinpaarJahrenspendiertdieörtliche
VerwaltungindenBardenasRealesRotwein
und Migas für alle,wenn die erstenHerden
ankommen.MigassindinOlivenölgeröstete
BrotkrumenmitSchinken,eintraditionelles
Essen der Schäfer. FernandoOtalist nicht
dabe i.VielleichthundertZuschauersindan
diese mMorgengekommen,diemeistenaus
denumliegendenDörfern.„Dasistdochnur
fürdie Touristen “, sagt er .Ohnehin wirder
sicherstspäterimJahraufdenWegmachen.
An der Wegkreuzung nichtweit vonCar-
castillo liegtSpannung in derLuft.Jemand
gibt einen Schuss aus einemGewehr ab,
dann drängen die erstenTiereheran. Man
hört Glockenklang, dieHerdeein einziges
wogendesMeer.ZweiFernsehteamssindge-
kommen.SiebefrageneinenälterenSchäfer.
Esseiseine43.Transhumanz.„Esmalavida“,
sagt er .Ein schlechtes Leben.Eines, dasser
seinenSöhnenersparenwolle.Ind enregio-
nalenAbendnachrichtenwerdendie Journa-
list en über die sterbendeKultur be richten.
Aber vorher wird in Carcastillo dieSanmi-
guela da gefeiertandiesem Sonntag ,sowie
jedesJahr.

Der SchäferFernando Otal

VonSusanne Lenz

Der


Zug


der


Schafe


VondenPyrenäenhinunter


indieBardenasReales


führtderWegder


HerdenundihrerHüter.


DieTranshumanzisteine


alteTradition,dieesnicht


mehrlangegebenwird


Susanne Lenz
mag den Roncal-Käse. Er wird aus
Schafsmilch hergestellt.

MEIN PLATZ


Yvonne Büchner


hilft beim Upcyling


von Kleiderspenden


Beruf: Innenarchitektin; Alter:38; geboren in: Cottbus; lebt in: Prenzlauer Berg; Zeit am Platz: mehrmals wöchentlich

I


neinerHalleinderStorko werStraßeliegt
seit demSommer der „Textilhafen“ der
BerlinerStadtmission,icharbeitehierehren-
amtlich mit.Wirsortieren Altkleider,die in
ganz Berlin gesammelt wurden, und ent-
scheiden,waswirdirektandieKleiderkam-
mernund Notübernachtungen derStadt-
mission geben können.EinGroßteil eignet
sichfürderenzumeistmännlicheGästeaber
gar nicht, das leiten wir an unsereSecond-

hand-Lädenweiter,wir bieten sie in unse-
remeigenenVerkaufsraumanodergebensie
als Rohstoff anDesigner.InWorkshops ar-
beiten wir außerdem Altkleider zu neuen,
nützlichenProduktenum.
DerTextilhafen soll ein Ortsein, der sei-
nen BesuchernIdeen undTechniken zur
Aufwertungvonscheinbarverschlissenen
Materialienzeigt. AusT-Shirts werden bei-
spielsweiseUnterhosen.

Diesoziale Nachhaltigkeit ist das erste
großeThemaderStadtmission,nunkommt
dieökologischehinzu.DiesesKonzepthatte
mich sofortangesprochen.Gerade das Up-
cycling finde ich spannend.DieWorkshops
bereiteichmitvorundleitesieauchan.Zu-
letzthabenwirsehrvielmitJersey-Gar nge-
arbeitet, das wir ebenfalls aus T-Shirts
schneidenunddannzumWebenoderKnüp-
fennutzen.OderwirfertigenausalterBett-

VonJörg Niendorf (Text)
und Benjamin Pritzkuleit (Fotos)


wäscheSäcke,diewirunserenBesuchernfür
denTransportihrernächstenKleiderspende
mitgeben.Viele Textilien bekommen so ein
neues nützliches Leben, das im bestenFall
auchnochhilft,Müllzuvermeiden.
Ideen,wiesieimTextilhafenerprobtwer-
den,beschäftigenmichschonlang.Sotrage
ichüberwiegendKleidungauszweiterHand,
reparier eundänderesieauchseit20Jahren,
damitsiebesserzumirpasst.

Sie haben einen langenWeghinter sich: Die erste Schafherde zieht in die Bardenas Reales ein. BERLINER ZEITUNG/SUSANNE LENZ (2)

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