Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

2./3. NOVEMBER 2019 7


I


mHerbstvorachtJahrenhatsiedieKa-
meraweggestellt.Endgültigundgelas-
sen:Menschen,Jahre,Leben.HelgaPa-
rissagt,siehabe„allesgesehen,allesfo-
tografiertundregistriert“.Siewill,siekann
nichtswiederholen.„DieErregungistweg“,
erklärtsie,„inmiristesstillundfriedlich,ich
habegesagt,wasichzusagenhatte.“
Jetzt,im Herbst2019,begegnetdieGrande
Dameder Fotografieimlängstverschwunde-
nen Land DDR sich selbst.Sachte,zögerlich
fast geht die nach wievorzartund anmutig
wirkende81-JährigeaufallihreBilderzu,die
fürdie große Schau ab dem8.November an
denWändenderAusstellungssäleinderAka-
demiederKünsteamPariserPlatzaufgereiht
sind nachThemen undSerien. Alle 275Auf-
nahmen, konsequent in Schwarz-Weiß, mit
Kontrasten,mitSchatten,mitpoetischenNe-
belfeldern,indiedieKonturenderStädteund
des Alltags einzusickernscheinen.Diese Bil-
der,erschieneninderZeitschrift Magazinund
anderen, erzählen Geschichten, fröhliche,
traurige ,herbe,harte ,witzige,diewiederauf-
leuchtenbeimBetrachten.EinSchwarz-Weiß
inallenFarbendieserWelt,desAlltagslebens
in Städten und Dörfern, das Helga Parisbe-
obachtete–undbannte.
Sieschautzuerstwortlosaufdas12-teilige
Tableau ihrerSelbstbefragungvon1981 bis
zumMauerfall: Siefotografiertesichprüfend
selber während der Götterdämmerung des
Realen Sozialismus.Ihrestrengen, ernsten
„Selfies“ vondamalsgebeneinSeismogramm
der Stimmungslagen wieder,der Erschöp-
fung, derErmüdung, derZweifel, derHoff-
nung, des immer wiederZusammenraffens
derKräfte.Weiter,weiter.Irgendwie.Istdasin
diesem zarten, fastzerbrechlichemGesicht
zulesen?DasssieeinealleinerziehendeMut-
terist?KünstlerinimMauerland,imMangel-
land, die den Alltags-Marathon, auchwegen
dernormalstenDinge,läuft?
„TrotzdemhabeichmichinmeinerArbeit
freigefühlt“,sagtsieheute,„habefotografiert,
wasichsah,mitdemAnspruchderWahrhaf-
tigkeit.“ Es waren kleine Leute undPromi-
nente aus derWelt der Kunst, des Theaters,
der Literatur wieSarahKirsch und Christa
Wolf.DieFotografinstehtdavor,erinnertsich
andiese Momente.Danngehtsiezudengera-
dezu zärtlichenPorträts derNachbarnvon
damals,imWinsviertel,PrenzlauerBerg ,seit
denSiebzigern.ZudenAufnahmenderspie-
lendenundvorderKameraposierendenKin-
der aus demKiez,darunter ihreeigenen,
JennyundRobert. BeidesindKünstlergewor-
den, dieTochter macht inBerlin begehrten
Schmuck,derSohnlebtinIndienundwurde
einbekannterFotograf.
LiebevollblicktHelgaParisaufdiezutrau-
lichen, schüchternen bis selbstbewussten
BildnissederjungenundaltenArbeiterinnen
ausdemVEBTreffmodellePrenzlauerBerg ,in
ihren geblümtenKittelschürzen. Sielächelt
denporträtiertenMüllkutschernzu,den Koh-
lemännern, dem Bäcker und demMetzger
aus ihrerStraße.Auch die Leute in denEck-
kneipen, damals dieKiez-Wohnzimmer.Sie
hatallekunstwürdiggemacht.Auchdienied-
lichen,verträumtenPunks,zud enenihr ebei-
den Kinder,immer wieder ihreliebsten Mo-
delle,alsTeenagergehörten.
NachfotografischenVorbildernbefragt,er-
widertsie,seit denSiebzigernhätten die
FilmederitalienischenNeorealisten,desRus-
sen Sergej Eisenstein und das französische
Nachkriegskino–sie sah dieFilme vordem
Mauerbau1961inWest-Berlin–großenEin-
druckaufsiegemacht.HinzukamdasThea-
ter,DT, Berliner Ensemble,Gorki. Anders als
namhafteundbewunderteostdeutscheFoto-
grafenkollegen–ArnoFischer,Sibylle Berg e-
mannoderEvelynRichter–orientierte Helga
ParissichnichtanKlassikerndesMetierswie
Cartier-B resson, RobertFrank oderBrassaï.
Inspirier thaben sie eher existenzielleGe-
mälde,von Beckmann undMunch.„Ebenso
beeindruckten mich die Amateurfotos aus


LEBEN &STERBEN


Die letzte Klarheit


E


sistmorgensumzweiUhr,undesklingelt
andeinerTür.Dub istnochtotalverschla-
fen.Aberspätestens,wennsichanderGegen-
sprechanlagediePolizeimeldet,bistdusofort
hellwach. Stunden scheinen zu verg ehen,
währenddiebeidenPolizistendieTreppenzu
deinerWohnung hochgelaufen kommen.Je-
den einzelnen Schritt kannst du hören, und
deinen Puls spürst du in jedemTeil deines
Körpers.Die beidenPolizisten reden nicht
miteinander,aberanihrenGesichternkannst
dusehen,dassetwasSchlimmespassiertsein
muss.
SindsiederVatervonxy?IchmussIhnen
eine schlimmeNachricht überbringen. Kön-
nen wir bittereingehen und uns setzen?Du
willst nichtreingehen, schon gar nicht dich
hinsetzen.DeineFrauistjetztauchbeidir.Sie
nimmtdeineHandundihrgehtmitdenPoli-
zistenineuerWohnzimmer.
IhrSohn hatte vordreiStunden einen
schwerenAutoun fallundistnochanderUn-
fallstelleverstorben.
Ruhe.Die beidenPolizisten sagen nichts
mehr.Deine Frau lässt deineHand los und

Wohnzimmer.Sieverstehtsofort,dassetwas
Schlimmes passiertist. DerPolizist signali-
siertdir,dass er bei deinerFrau bleiben
würde ,wenndum itdeiner Tochteralleinere-
den möchtest.Aber ihr habt keineGeheim-
nisse in derFamilie, habt dien ie gehabt.Du
sagstihr ,waspassier tist,undsiefälltzueuch
aufden Boden.
DiebeidenP olizistensagennichtsundlas-
seneuch.EinegefühlteEwigkeitvergeht.Be-
vorsie gehen,werden si eeuchnoch fragen,
obihreinenSeelsorgeroderPfarreraneurer
Seitewollt.Aberihrwar tdochnieinderKir-
che.Wassoll derjetzthelfen?Aberwarte,wo
isteuerSohnjetzt?Könntihrzuihm?
BeiUnfällen werden Menschen imNor-
malfallimmerbeschlagnahmt.Dasheißt, sie
sind in der ObhutderStaatsanwaltschaft.
Meistenssindsiedannin derGerichtsmedi-
zin,diefürdiejeweiligeRegionzuständigist.
Siewerden genau untersuchen, woran dein
Sohn gestorben ist.Hatte er was getrunken
oder Drogen geno mmen? Warerk örperlich
gesund?In dreibisvierTagenaberkönntihr
zuihm.

Heute: EricWrede, Bestatter


Einguter BestatterwirddirunddeinerFa-
milieaberdieMöglichkeitgeben,nochmalzu
ihmzukommen.Wieofthabeichgehört,dass
es genau dieserMoment des noch einmal
Vorbeikommenswar,derfürKlarheitgesorgt
hat.Klarheitdarüber,dasseswirklicherwar
in dem Auto.Wenn er sehr dollverletzt ist,
wirderi hnvi elleichtineinTuchei nschlagen
undzumindestseineHänderausschauenlas-
sen. Diese Hände würdest du immer erken-
nen. Zu oft hast du ihm dabei zugeschaut,
wennihrgemeinsambeimAngelnwart.
SchlechteNachrichtenzuüberbringenist
eine der schwierigstenAufgaben überhaupt.
WiediePolizistenesvorg emachthaben,istes
richtig. Kein Herumgerede,sie haben euch
hinsetzenlassen,umdannschnelldieWahr-
heit zu sagen.Ihrwusstet eh, dass etwas
Schlimmespassiertist.Dannsindsiesolange
geblieben,bissiedasGefühlhatten,dasszu-
mindestdudieSituationunterKontrollehast.
SofernmanvonKontrollesprechenkann.

fängt an zu schreien.Du aber,duk annst
nichtssagen.DieStimmeistweg.Keinklarer
Gedanke.Allesrauscht.DirkommenBilderin
den Kopf. Du mit deinemSohn, als ihr sein
Zimmer ausgeräumt habt, bevor er sich auf
denWegzumStudiumgemachthat.
DuhastihmdochdasAutofahrengezeigt.
AmFerienhaus ander Ostsee .EinAutoso llte
erhabe n.DamitermöglichstoftnachHause
kommenkann.WiesagtihresseinerSchwes-
ter? Weckt ihr sie jetzt?Aber wa rte, sind die
sichwirklichsicher,erwardochsoeinguter
Autofahrer.Vielleich thaterjaseinAutoverlie-
hen?DassinddieerstenWorte,dieduwieder
findest.Aberdusiehstschnell,dasssiesichsi-
cher sind.Manhat se inen Ausweis und den
Führerscheingefunden.
DeineFrauschreitimmerlauterundlässt
sichaufdenBodenfallen.Dugehstzuihrauf
denBodenundversuchst,sieindenArmzu
nehmen,abersiewehrtsich.
ObmaneinenArztrufensoll,fragendich
diePolizisten,duschüttelstnurmitdemKopf.
Vondem Lärm istj etzt auch deineTochter
wachgewordenundstehtvölligverpenntim

NächsteWocheschreibt an dieser Stelle die
Hebamme Sabine Kroh.

Meisterin


der


poetischen


Tristesse


HelgaParisistdie


GrandeDamederFotografiedes


deutschenOstens.IhresubtilenMotive


prägendasBildgedächtniseines


verschwundenenLandes.


JetztwidmetihrdieAkademieder


KünsteeineRetrospektive


VonIngeborg Ruthe

ichmichaus.“DieserBlickholtdenEinzelnen
heraus aus derMasse und gibt ihmPersön-
lichkeit.
Ernst,aberoffenschauteinMädchenin
ihreKamera.„Ramona“ steht mit dem Rü-
cken zu einer maroden, bekritzeltenFas-
sade in derKollwitzstraße: fusseligesHaar,
karierterGlockenrock, schlabberigeStrick-
jacke.DieseAufnahmevon1982istdasex-
emplarischeBeispiel für eine fotografische
Kunst, die nicht nach demAusnahmemo-
ment, nach demEffekt und dem schönen
Schein jagt. „Sohabe ich als jungesDing
auchausgesehen“,meintdiealsAutodidak-
tinzurFotografiegekommeneeinstigeMo-
degestalterinHelgaParis.Beiihr,beton tsie,
gäbe es keine „geschossenen“Motive.Sie
redetezuerstmitdenLeuten,diesiefürein
Fotogewinnenwollte.Warensieeinverstan-
den, verloren sie dasMisstrauen. Dann
konntedieKameraforschenindenGesich-
tern,denGesten.
Undnie musste beiHelga Parisjemand
optimistisch„indieZukunft“s trahlen.

Ingeborg Ruthe
ist fasziniertvon dieser Naheinstel-
lung,die zurWeltsicht führt.

HelgaParis: „Selbst im Spiegel“, 1971,
die Fotografin hinten, vornauf Bildchen ihre beiden damals
kleinen Kinder Jennyund Robert, dazu
ein Marilyn-Monroe-Porträt.
IFA /HELGA PARIS

denFamilienalben,diesebanalen,unspekta-
kulären Alltagsszenen“, komplettiertsie ihre
Wahlverwandtschaften.
DannstehtsievordenSerien:vomgelieb-
ten Alexanderplatz mit all seinerRuppigkeit,
denabgeranztenEcken.IneinerVitrineliegen
FotosvomLeipziger Hauptbahnhofum1980.
DieMitropa imvernutzten Jugendstil-Ambi-
ente war sozusagen zweiteHeimat derStu-
denten, NVA-Soldaten undDienstreisenden
allerCouleur.Undausgerechnetdenbestaus-
sehenden und lustigstenKellner,bei dem
auchichsamtmeinerthüringischenKommi-
litonenvorderHeimfahrtundöfterbeiZug-
verspätungen denKaffee bestellte und noch
eine Bockwurst orderte,den ha tHelga Paris,
dieseMeisterinderpoetischenTristesse,por-
trätiert.FürdieEwigkeit.
Später reiste sie weiter wegals bloß nach
LeipzigoderHalle,wos ieliebevollLeutevor
denmorbidenFassadenderverfallendenAlt-
bausubstanz porträtierte.Die Halle-Aufnah-
men bekamen postwendend Ausstellungs-
verbot,alsozeigteHelgaParisdieamLackdes
sozialistischenAufbaus kratzendeSeriezu-
nächstprivatbeiFreunden.
Dannkonntesieraus,nachSieben bürgen,
dortfoto grafiertesieRoma-Familien.Undsie
warmitihrerKamerabeiKr iegsveteranentref-
fenMoskauundinNewYorkdabei.

Alle Farben des Lebens


Die Fotokünstlerin HelgaParis,1938 im pom-
merschen Gollnow(Goleniów)geboren, aufge-
wachsen in Zossen bei Berlin, studierte Modege-
staltung an derFachschule für Bekleidung in Ber-
lin, arbeitete beiTreff-Modelle und begann Ende
der 60er-Jahre alsAutodidaktin zu fotografieren.
Sie wurde mitAufnahmen ihrer Nachbarschaft in
Prenzlauer Berg,von Kneipenbesuchern, Müll-
fahrern, Näherinnen, Künstlern, Punks, Kindern
und PassantenvomAlex eine der zentralen Chro-
nistinnen des Berliner Ostens. Ebenso porträ-
tierte sie Menschen im damaligen Ostblock und
auch in den USA. Sie erzählt in stillen, nie effekt-
heischenden Fotos deren Lebensgeschichten.

Ihr unverkennbarer Stilzeigt sich in der beson-
deren Fähigkeit, in ihren Bildernund Serien über
Jahrzehnte hinwegverdichtete Zeitgeschichte im
Wandel erfahrbar zu machen, in zärtlich-würde-
vollen, nuancenreichen Schwarz-Weiß-Modula-
tionenvoller sozialer Empathie. 1996 wurde sie
zum Mitglied der Akademie der Künste berufen.
Ihr Archiv übergab sie der AdK; es wird am 5. De-
zember,19Uhr,imPlenarsaal amPariser Platz
präsentiert.

DieAusstellungvon275 Bildernaus ih rem Le-
benswerk in derA kademie der Künste amPariser
Platz 4, kuratiertvon Inka Schube,e röffnet am


  1. No vember um 19Uhrund läuft biszum 12.Ja-
    nuar 2020, Di–So 11–19Uhr.


Wiekommtman Menschen so nahe wie
möglich,ohneihnenaufdenPelzzurücken?
DieseQuadratur de sKreises hat sie für sich
und ihre Kleinbildkameramit Empathie ge-
löst.„Ich habeVertrauen aufgebaut“,erzählt
sie,„habdenLeute ngesagt :Ihrmüsstnichts
machen, wasIhr nicht wollt!“ Sieergründet
aufdiese geduldige,still e, abwar tende,auch
ermutigende Weise Gesichter ,Haltungen,
Gesten ,auchPosen,ohnezubelästigen.Esist
einebehutsame,immerdienötigenZentime-
ter Distanzw ahrende und mitGeduld ge-
paarte Hartnäck igkeit, die ihreBilder vom
Menschenhervorbringt.Esiststarkeundzu-
gleichsensiblePorträtkun st,diekeinerstilbil-
denden Fotoschule entsprungen ist, keinem
Trend folgt.Fotokunst, die ausMenschen-
liebeentsteht.
BeiHelga Pariszeigen diePorträtierten,
wieihnenzumuteist.DieBildersprechenvon
Erfahrungen undvonGefühlen.Irgendwie
hat alles mit ihrer eigenenBiografie zu tun,
mitihremLebenindergroßen,bisNovember
1989 geteiltenStadt. DenAlltagshintergrund
teiltsiemitdenvonihrpo rträtiertenFrauen,
Männern,Kindern.
IhrKamerablickvermag durchzudringen
durch die alltäglichenVerschüttungen, die
Verwerfungen und Verkrustun gen. Dieser
Blicksagt:„Vondakomm'ichher.Hierkenn'
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