Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

Die totale Erinnerung


Im Spätherbstwerden vonden Filmmusik-
Labels die dickenPakete geschnürt: üppige
Wiederveröffentlichungen beliebter Scores,
ausladende Box-Sets ,bis Weihnachten
kommtdawiedereinigesaufdieKäuferschaft
zu.NichtalleshatdieseDeluxe-Ausgabenver-
dient,aberimStreaming-Zeitalterfreuensich
Filmmusik-Liebhaber nur noch mehr über
jede CD .ImR ahmen der inoffiziellenJohn-
Williams-Retrospektive–ind en letztenMo-
natenerschienenbereitsneueFassungenvon
„Dracula“und„SavingPrivate Ryan“–legtLa-
La LandRecords nun eineNeuausgabevon
„MinorityReport“ vor. ZumFilmstartgab es
2002schoneineschöneVeröffentlichungmit
74 Minuten Musik, die LLL-Version enthält
nuneinehalbeStundemehrvomScoreund
18Minuten„zusätzlicheMusik“ausundzum
Film.DasWiederhörenisteinegroßeFreude:
Manspürt,mitwelchemElanWilliamsKlänge
und Motivefür den düsteren Sci-Fi-Tripvon
Steven Spielberggefundenhat.Düsternbro-
delt der Score, unterbrochenvonwarmen
Streichernund einfallsreichen Percussion-
Elementen;immer noch wunderbargruselig
das„S pyders“-Thema für die mechanischen
Jagd-Roboter,die TomCruise verfolgen. Ein
Komponist auf der Höhe seines Schaffens:
„MinorityReport“ ist quasi das düstereGe-
genstück zu Wil-
liams’„HarryPot-
ter“-Musikenausje-
ner Zeit –und ge-
nausotoll.

JohnWilliams:
Minority Report(2CD)
La-La Land Records

„Frauen sind Blumen“


Grenzphänomene:Hände,dieimSchlafauf
dieandereSeitedes Seesschwimmen,Wol-
ken,dienichtweinen,wennsiesichanden
„Bergworten“auflösen,Menschen,dievon
der Politik in Schubladen wieFremde oder
Zugehörigeeingeordnetwerden.Miteinem
ausgeprägtenGespür fürBildsprachever-
misstMatthiasButhinseinemneuenBand
„Weiß/ist das Leopardenfell/desHimmels“
sämtliche Übergangszonen unseres Da-
seins,waseine weiteAuffächerungvonThe-
menerlaubt:MalzeigensichdieMiniaturen
streiterisch,ganzamNervderZeit,malum-
schweifen sie einfacheMomente des All-
tags.Nichtwenigesdaruntermutetbeliebig
oderfarblosan.Dennochtrifftmanimmer
wiederaufpoetischeLeuchttürme,diemit-
hin ein neues,bisweilen fast blendendes
Licht auf unsereGegenwartwerfen. So
nimmt Buth in demGedicht „Avenidas“
eine Ehrenrettung des gleichnamigenTex-
tesEugenGomringersvor, deraufgrunddes
vonStudentinnen als frauenverachtend
empfundenenInhalts vonder Fassade der
Alice-Salomon-Hochschule entfernt wurde.
WeitauseindeutigeralsdieVorlagegiltnun:
„FrauensindBlumen“unddamitzu-
gleich„WunderdesSchönen“.
Istdas nun Diskriminie-
rung oder eineHommage?
Dasmag der/die Leser/in
selbstentscheiden.


Matthias Buth:
Weiß/ist das Leopardenfell/
des Himmels.
PalmArtPress, Berlin 2019.
162 S.,22Euro

8 2./3. NOVEMBER 2019


FILMMUSIK


EinsamsinddieTapferen


Wennmanalleserreichthat,jedeAuszeich-
nung,jedenErfolghatte,kannmansichauf
demRuhmunddemKontostandausruhen.
OdermanistBruceSpringsteen.Nachder
Veröffentlichung seines letzten Studio-Al-
bums „WesternStars“ imJuni drehte er zu-
sammen mit seinem Kreativ-Partner Thom
Zimny einenFilm mit dem gleichenTitel. In
einer100JahrealtenScheunespielterdasAl-
bum neu ein, auch mitUnterstützung eines
30-köpfigenOrchesters.DochnichtumPomp
undSiegerposegehtes,eherum Melancholie
undRückblick.EinB-Movie-Stuntman,derin
der kalifornischen Wüste auf sein Leben
schaut–der„Boss“findetsichindieserFigur
durchauswieder.Dasist reizvoll,dieÜberar-
beitung der „WesternStars“-Songs sind es
auch.WasaufdemAlbumCountryundetwas
Blues-Rock ist, verwandelt sich in der Film-
VersionzueinemfaszinierendenStil-Mix.Na-
türlichumwehtallesdieSchwermutdesalten
Cowboys (das Titelstückfunkelt auch hier),
aberzusätzlicheStreichergeben„TheWester-
ner“ eine fast urbane Note,das todtraurige
„Sundown“ gewinntbeachtlichenSchwung,
„Stones“ wirdzuklagendemPop. Trotz aller
Unterstützungbleibt„WesternStars“auchin
dieserFormeinebemerkenswerteOne-Man-
Show:Bruce Springsteen macht, was er will,
als Rausschmeißer
gibt es ein „Rhine-
stone Cowboy“-Co-
ver.

Bruce Springsteen:
WesternStars–
Songsfrom the Film
SonyMusic

VonThomasKlein

EinMannisteinMannundkein Tor


HansWollerkorrigiertdasBildvonGerdMülleralseindimensionalemFußballerundMenschen


N


ochimmerhaftetGerdMüllerdas
Etikettdes Abstaubersanundsei-
nen Torender Ruch des
Schmucklosen und Ordinären.
DerlegendäreBayern-Stürmerhabezwarei-
neneinmaligenRiechergehabtundmeistam
richtigenOrtgestanden–einsonderlichguter
Fußballer aber sei er nicht gewesen, so geht
dieErzählung.
Dabei braucht man sich nur eines seiner
berühmtestenTore anzuschauen, um sich
vomGegenteil zu überzeugen. Es stammt
vomMai1974,esistdie56.SpielminuteimFi-
naledes EuropapokalsderLandesmeisterge-
gen Atlético Madrid, alsJupp Kapellmann
vomlinken Flügel eineweite Flanke in den
Strafraum schlägt.Gerd Müller muss einen
Sprint hinlegen, um denBall zu erwischen,
schafftdies,kurzbevordieserinsTorausfliegt,
titscht ihn dabei kurzanu nd schießt ihn in
scheinbar gerader Linievonder Grundlinie
unterdenQuerbalken.Esistdas2:0,amEnde
gewinntderFCBayerndasSpielmit4:0und
istvondaaneineFußball-Supermacht.
DerHistorikerHansWoller beginnt seine
Biografie über den größten deutschenStür-
mer allerZeiten, der dieserTage in einem
MünchnerPflegeheiminsein75.Lebensjahr
geht, nicht umsonst mit diesemKunstwerk.
DennerhatsichmitdemProjektdervorneh-
menAufgabeverschrieben,dasgängigeMül-
ler-Bild des eindimensionalen Abstaubers
undMenschenzukorrigieren.Viele,schreibt
Woller,beschrieben ihn „als weltfremden
Tropf,dermitunendlichemGlückzahlreiche
Abstaubertoreerzielthabe ,imL ebenabseits
desPlatzesabernichtzurechtgekommensei“.
Einfrüherer Mitspieler habe dieIdee einer
Müller-Biografie sogar als „hirnrissig“ be-
zeichnet:Fürdas,wasüberihnzusagensei,
reichtenfünfSätze.
Es ist genau dieseHerablassung, die der
Junge aus Nördlingen in der schwäbischen
Provinzimmerzuspürenbekamunddiedie-
semmenschlichwiefußballerischvollerFein-

gefühlsteckendenSportsmannzusetzte,seit-
dem er Mitte der 60er-Jahreauf der großen
Fußballbühne erschien. Angefangen damit,
dassihndieÖffentlichkeit„Bomber“nannte,
was etwasSpöttisches hatte und mehr auf
seine Stämmigkeit abzielte,als dass„seinem
Fußballstiletwasanhaftete,wasdiesesEtikett
gerechtfertigthätte“.
Aber auch im sich just zu MüllersZeiten
zum Entertainment wandelndenFußballbe-
trieb gab man ihm bis zuletzt denEindruck,
nicht gesellschaftsfähig zu sein.Noch 1974,
alsMüllervordemWM-EndspielinMünchen
(daserspäterentschied)denRaseninspizie-
renwollte,schnaubte ihn ein DFB-Funktio-
näran:„Verschwindehier!DustörstdasPro-
gramm.“UndFranzBeckenbauer,dankMül-
lers TorenWelt- undEuropameister,schrieb
nochspäter,in„Einerwieich“,erhabeandie
NanasvonNikide SaintPhallegedacht,alser

Die Leute nannten ihn „Bomber“, dabeiwarerein Kunstschütze: Gerd Müller mitTrainer Zlatko„Tschik“ Cajkovski im Jahr 1966. IMAGO/WEREK

VonChristian Seidl


HansWoller:Gerd Müller oder
Wie das große Geld in den Fußball kam
Biografie. C.H. Beck, München 2019. 352S.,22,95 Euro

Müller das ersteMalsah. „Dervermeintlich
kulturelleAbstand zuGerd Müller,den Be-
ckenbauer gespürthaben mochte,musste
vonihmnoch1975möglichstverletzendmar-
kiertwerden“,meintWoller.
MüllerwiederumblicktevollerVerachtung
auf das parvenühafteGetue Beckenbauers.
ZwargenossaucherdensozialenAufstieg,er
fuhr eleganteAutos und speiste imTantris,
und er profitierte dabeivonden infamen
Do-ut-des-Geschäften,diederFCBayernmit
derbayerischenStaatsregierungausheckte.
Doch die nicht zuletzt hierfürverlangten
Selbstrepräsentationenwareneinem,derden
FußballnochindörflichenVereinsstrukturen
kennengelernt hatte,woKameradschaft,
SportsgeistunddasgemeinsameBierzählten,
zutiefstfremd:Inszenierungen,obalspelzbe-
mantelter Opernliebhaber (Beckenbauer),
Mao-lesenderNonkonformist(Breitner)oder
alerter Businessman(Hoeneß),schreibtWol-
ler,„wareninMüllersAugenhohlundüberzo-
gen“.MüllerwarkeinarmerTor.InseinerVer-
weigerungshaltung gegenüber jeder Artvon
falscher Pose und kommerziellerVereinnah-
mungstecktemehrRebellionalsinjederAfro-
locke Paul Breitners.Seine Tragik bestand
darin,dassersichparallelzuseinemAufstieg
sukzessivevomFußballentfremdete–damit
aberauchvonderWelt,dieer verstand.Schon
zu seiner aktivenZeit begann er zu trinken.
MitMitte40warereinAlkoholwrack.
Woller,der unter anderem mit Müllers
EhefrauUschi langeGespräche führte,hat
abernocheinHappyEndparat:die25Jahre
zwischendemEntzugundseinerAlzheimer-
erkrankung–als der FCBayern seiner ge-
dachte und ihm einen kleinenTrainerjob
beimAmateurteamgab.„HierwareinNach-
hall des altenFußballs NördlingerPrägung
spürbar“, schreibtWoller,„frei vonder Last
seines Ruhmes,der ihm immer mehr abver-
langthatte,alsertragenkonnteundwollte.“
Es müssen die schönsten 25Jahreseines
Lebensgewesensein.

OL


LYRIK


Science-Fiction-Poesie


„WiehastdudiesesGedichtgefunden?/Was
hatdichhierhergeführt?/Wiehastdues,le-
bend,gefunden/inderrotenWüste?“Die
Frageistdurchausberechtigt.DenndieWelt
in Daniel Falbs aus vier Langgedichten be-
stehendemBand„OrchideeundTechnofos-
sil“ ist eine nicht leicht zu identifizierende.
WirbefindenunsineinerkrudenZukunft,in
der die industrielle Landwirtschaft eine in
ihren Folgen kaum abzuschätzendeRepro-
duktionsmaschinerieentwickelthat.Umfür
diepoetischeScience-Fictioneineadäquate
Formzufinden,bedientsichder1977inKas-
selgeboreneAutoreinesgrotesk-satirischen
GemischsausNeologismen,fach-undwirt-
schaftssprachlichenBegriffen.„BonnerCrop
Trust“trifftauf„agriculturalimaginary“und
„ExoQuarts“. Daniel Falbs sezierender
Sprachwitz führtvor Augen, wie der Fort-
schrittdasLebenineingigantischesDesign-
produkt verwandelt, wo das Grauen längst
vomschönenScheinverstecktwird.ObTat-
toos oder die Netzhaut, Monitoreoder Rea-
genzgläser–dieTextetreibenstetseinSpiel
mit einer gruseligenOberflächenästhetik.
Werden Anthropozän-Diskurs in der Lyrik
verfolgt,weiß:DanielFalb,einGenie,
das dem Theoriestand weit
vorausist,gehörtzudenlu-
zidestenVordenkern. Sein
neuester Band ist For-
schung,Dystopieundpoe-
tischeAvantgardeineinem.


DanielFalb:
OrchideeundTechnofossil.
kookbooks, Berlin2019.
80 S.,19,90 Euro

VonBjörnHayer
Free download pdf