Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

2./3. NOVEMBER 2019 9


RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN


Äpfel vernichten für die


Freiheit


die Einführung desMeldewesens.Die Welt
wirdmit Regeln wie dem Leinenzwang für
Hundebeglückt.


  1. November 1917


Balfour-Deklaration:DerbritischeAußenmi-
nister LordBalfour schreibt demVertreter
der zionistischenBewe gung, Walter Roth-
schild, 2.BaronRothschild:„DieRegierung
Seiner Majestät betrachtet mitWohlwollen
die Errichtung einer nationalenHeimstätte
für das jüdischeVolk in Palästina und wird
ihr Bestes tun, dieErreichung diesesZieles
zuerleichtern,mitderMaßgabe,dassnichts
geschehensoll,wasdiebürgerlichenundre-
ligiösenRechtederbestehendennichtjüdi-
schenGemeinschafteninPalästinaoderdie
RechteunddenpolitischenStatusder Juden
inanderenLänderninfragestellenkönnte.“
DieBalfour-Deklaration steht 1920 imFrie-
densvertrag der Alliierten mit der Türkei.
1922wir dsieauchindasVölkerbundsman-
datfür Palästinaaufgenommen.

Joseph II. in einem Stich des 19.
Jahrhunderts. IMAGO

Arthur James Balfour zu Beginn
seiner Karriere. IMAGO/UAI


  1. November 1919


Minderheiten:In Bautzen wirddie Lausitzer
Volkspartei als politischeInteressenvertre-
tungdessorbischenVolkesgegründet.1924–
1933heißtsie„WendischeVolkspartei“.

Und am 2. November 1989 in der
Berliner Zeitung

Freie Marktwirtschaft?:DieEuropäischen
Gemeinschaftenwerden in den nächsten
Monaten626000TonnenÄpfelderdiesjähri-
genErnteaufkaufen,umsieanSchweinezu
verfuttern,zuIndustrie-Alkoholzuverarbei-
ten oder auf den Müll zu kippen.Gestrigen
Presseberichtenzufolgewirddiese„Verwer-
tungvonErnteüberschüssen“rund150 Mil-
lionenMark kostenundelfProz entderEG-
Apfelerntebetreffen.Jahrfür Jahrgebendie
EGetwa900MillionenMarkfürdie Beseiti-
gungvonÄpfeln,Birnen,Zitronen,Orangen,
Tomaten undBlumenkohl aus,umÜ ber-
schüsse,ausdem Marktzun ehmen.


  1. November 1782


Toleranz:KaiserJosephII.erlässtinWiendas
ToleranzpatentfürdieJuden,dasihnenbes-
serewirtschaftlicheBetätigungeröffnetund
Beschränkungen in derReligionsausübung
aufhebt.EsistTeileinesals„Josephinismus“
indie GeschichtsbüchereingegangenenRe-
formprogramms derJahre1781–1790.Des-
sen Leitsatz ist: „Alles für dasVolk; nichts
durch dasVolk“. DasEnde der Leibeigen-
schaft wirdeingeleitet und die zivileTodes-
strafe abgeschafft.DasstaatlicheKontroll-
systemwirdausgebaut,dieGesellschaftder
Bürokratieunterworfen.ZumBeispieldurch


D


er196 0imn iederrheinischenOr-
soy(heute Rheinberg) geborene
Berthold Seliger –der gleichna-
mige Raketenkonstrukteur ist
seinVater –ist Gründer undBetreiber einer
Konzertagentur.Außerdem hat er einen er-
folgreichenBlog und schreibt Bücher:„Das
Geschäft mit derMusik: EinInsiderbericht“
(EditionTiamat),„Klassikkampf:Ernste Mu-
sik, Bildung undKultur für alle“ (Matthes &
Seitz),„I HaveaStream:FürdieAbschaffung
des gebührenfinanziertenStaatsfernsehens“
und zuletzt „Vom Imperiengeschäft: Wie
Großkonzerne die kulturelleVielfalt zerstö-
ren“ (EditionTiamat). Berthold Seliger kam
zumInterviewindieRäumederBerlinerZei-
tung.


Achthundertdreiundzwanzig ist dieZahl, die
ichmirgemerkthabe.
Soviel Alben wurdenvoneinemTitel ver-
kauft,deraufPlatzEinsderUS-Chartsstand,
undzwarausschließlichalsDownloads.Dazu
kamen allerdings 83Millionen Streams,die
nacheinemsehrkompliziertenSchlüsselmit
hineingerechnet wurden.Wieauch immer,
mansieht:DieChartssindmittlerweilevöllig
irrelevant.


WiemachtmanmitStreamingGeld?
Eher ist doch dieFrage: Wermacht dort
Geld?SpotifyundCo.schreibenhoheMillio-
nenverluste,und die Künstlerverdienen am
Streaming nurCentbeträge,ess ei denn, sie
sind Superstars.Die Plattenfirmen dagegen
verzeichnenplötzlichRiesengewinnewieseit
einemJahrzehntnichtmehr.DieStreaming-
firmen überweisen etwa zweiDrittel ihrer
Einnahmen an dieRechteinhaber–das sind
in aller Regel die Plattenfirmen undVerlage.
UnddierechnenmitdenMusikernnachwie
vornach Vinyl-Steinzeit-Methoden ab.Ein
profitablesGeschäft, nur leider nicht für die
UrheberderMusik.DiemeistenMusikerver-
dienen heuteGeld mit ihrenKonzerten, wie
siedaseigentlichimmergetanhaben.


WelcheRollespieltdabeidasMerchandising?
DiekleinerenBands können mit denGa-
gengeradeihreUnkostendecken,wennüber-


haupt. Gelebt wir ddann vondem, was das
Merchandising einspielt, alsovomSympa-
thiekauf derFans nach denKonzerten.Bei
dengrößerenBandsdagegenistdaseinriesi-
ges Zusatzgeschäft, das sie meistens gegen
hohe Garantiebeträge anKonzerne verk auft
haben.UniversalzumBeispielhateineMer-
chandising-Firma namensBravado ,die ex-
klusivdasMerchandisingbeigroßenFestivals
wie „Rock am Ring“, „Hurricane“ oder „Pa-
rookaville“betreibt,aberauchüberdieMer-
chandise-Rechtevonzig Bands verfügt, von
AC/DC,EltonJohn,KanyeWestoderdenRol-
lingStonesüberHerbertvonKarajanbishin
zuDieÄrzte,JanDelayoder Sido.

KönnenSieZahlennennen?
Weltweit werdenim Musik-Merchandising
jährlich über dreiMilliarden Dollar umge-
setzt.AlleinbeiderUniversal MusicGrouplag
der Umsatz im Bereich„Merchandising und
Sonstiges“ zuletzt bei um die 283Millionen
Euro.BeimSportundbeimFilmsindesaller-
dingsdeutlichmehr.AlleinDisneymachtmit
MerchandiseeinenUmsatzvongut56 Milli-
ardenDollarimJahr.

Siebetonen immer wieder denUnterschied
zwischendenGroßkünstlernunddenkleinen
Bands.
Dieoberen fünfProz ent allerPerformer
generieren 85Prozent der weltweitenKon-
zerteinnahmen. Es ist wie sonst im Leben
und in derGesellschaft auch: die da oben,
wirdaunten.DerCEOvonLiveNation,dem
weltgrößten Konzertkonzern, verdient
mehr als 70Millionen Dollar imJahr,der
GEMA-Chef immerhin noch etwa 800000
Euro.DasdurchschnittlicheJahreseinkom-
men der Musiker und Musikerinnen in
Deutschlandbeträgtdagegengerade14199
Euro,unddie Frauenunddieunter30-Jäh-
rigenhabensogarnochweniger.Das timmt
doch etwas nicht.DieübergroßeMehrheit
hangelt sichvonGig zu Gigund hält sich
häufigmitNebenjobsüberWasser.Dievie-
len kleineren und mittlerenBands aber,all
die jungenMusiker und neuenBands,sor-
genfürdiekulturelleVielfaltunsererGesell-
schaft.Wasistunsdasnochwert?

DasMusikgeschäfthat,schreibenSie,eine Vor-
reiterrolle.
In der Musikindustriewerden Dinge aus-
probiert,diemanauchinanderenBereichen
derGesellschaftnutzenkann.DenkenSiean
dieIdeologiedesunabhängigenSelbstständi-
gen, der sich ständig optimiertund die all-
gegenwärtigeNarration von„ImKapitalismus
kann es jeder schaffen“ und „Wenn du es
nichtschaffst,warstdunichtgutgenug“vor-
antreibt.Daswarmaldiesogenanntekreative
Klasse.Undaus der wurden dieIch-AGs ,die
wir aus derHartz-IV-Gesetzgebung kennen.
ÄhnlichistesbeimtechnologischenWandel,
der ja längst auch dasZeitungsgeschäft er-
reichthat.

Heute wir dnicht mehr gekauft, sondern ge-
streamt.
Streamenundonlinelesenistvielbilliger,
undüber30MillionenMusikstückesindstän-
dignureinenFingertippentfernt,fürknappe
10 Euro im Monat. Undauch im Zeitungs-
undMagazingeschäftkommtesnachmeiner
Einschätzungdaraufan,wiemanInhalteauf
einfachemWeganp otenzielleInteressenten
vertreiben kann.Bezahlschranken oderAd-
blockersindausgemachterBlödsinn.DieMu-
sikindustriehatdasnacheinigenwirrenJah-
renkapiert: MandarfdieInteressiertennicht
bestrafen, sondernsollte ihnenGelegenheit
geben,Inhalteunkompliziertundgünstigzu
erwerben.

EinBeispiel?
DerenglischeGuardian –das ind alle In-
halte kostenlos imNetz. Aber es haben sich
über eineMillion Nutzer entschieden, diese
Inhalte freiwillig mit einem festenBetrag zu
supporten,ichübrigensauch.DieMenschen
wollen doch für eine gute Leistung auch be-
zahlen.Aberdas Modellmussstimmen.

StreamenSieauch?
Natürlich. Es ist ein anderes Hören:Bei
SpotifycheckeicheherneueMusikaus ,höre
viel HipHop ,aber auch neueAufnahmen
klassischer Musik oder Singer-Songwriter.
Aber wenn ich mich intensiv mit einerAuf-
nahmebeschäftigenmöchte,odermireinAl-

bumbesondersgutgefällt,dannkaufeichmir
weiterdieCDoderLPundhöresieaufmeiner
Anlage.Oldschoolme.Ichleseauchlieberin
Büchernalszum BeispielaufdemKindle(der
andererseits natürlich sehr praktisch ist,
wennmanvielaufReisenist). WiemachenSie
dasmit IhrenBüchern?

Ichkaufemichimmernocharm.Aberichlese
lieberaufdemKindle.IchkanndamehrNoti-
zenmachen.
Dasallesistjanurgeliehen,wirhabenden
vollen Preis bezahlt, aber diePlattformkann
unsdasE-Bookjederzeitwiederwegnehmen.
UndkeinMenschweiß,wielangeesdasMe-
dium überhaupt noch geben wird.Mandarf
außerdemnieverg essen:MitjedemGriff,den
ich nach einem digitalen Angebot mache,
greift etwas nach mir.Amazon weiß besser
überSieBescheidalsirgendjemandsonst.Wir
habeneinmalgegendenÜberwachungsstaat
gekämpft.HeuteladenwirunsdenÜberwa-
chungskapitalismus begeistertein in unser
Haus,inu nsereKöpfe.

ZumBeispielauchmithilfederTicketing-Fir-
men?
Diehaben alleKonzertdaten.Siewissen
nichtnur,welcheBandwievielPublikumhat.
SiewissenauchdankderNFC-Chips,dieals
einzigeBezahlmöglichkeitaufdenFestival-
bändchenvorhanden sind, was aufFesti-
vals zu welchen Songs und zuwelchem
Zeitpunkt konsumiertwird. DieTicketing-
und Konzertfirmen haben ein komplettes
Bewe gungs- undKonsumprofil allerFesti-
valbesucher,die sind längst gläserneFans.
Werhatuns verraten? Metadaten!Mitihnen
lässt sich sehr vielGeld verdienen. Und
wenn Siesich dieGeschäftsberichtevon
LiveNation und CTSEventim ansehen,
dannstellenSiefest:BrandingundSponso-
ring haben die höchsten Bruttogewinn-
Margen, über fünfzigProz ent, gefolgtvom
Ticketing.Beiden Konzerten selbst kom-
men sie bestenfalls auf etwa vierProz ent
odermachensogarhoheMillionenverluste.
Vermutlichwirdbeiden Großeventsirgend-
wann nur noch dieMusik gespielt, die für
dieSponsoreninteressantist.

Dieöffentlich-rechtlichenRundfunkanstalten
sindkeineAlternative?
Ganzundgarnicht.Ichglaube,esg ibtim-
mer weniger Gründe für dieExistenzbe-
rechtigung der Öffentlich-Rechtlichen,
insbesonderedes Fernsehens.Die Infor-
mationsversorgung leistet das Internet
heute deutlich besser,als irgendwelche
Anstalten das können.Undmit der Mei-
nungsvielfaltistesbeidenÖffisleiderauch
nichtsoweither .Undihremgesetzlichver-
ankerten kulturellenAuftrag kommen sie
sowiesokaumnach.WasdieUnterhaltung
angeht, so imitiertdas öffentlich-rechtli-
che System weitgehend dasPrivatfernse-
hen. Undwarum muss derSportbei den
Öffentlich-Rechtlichenstattfinden?Gibtes
ein Grundrecht auf das Anschauen der
Fußballweltmeisterschaften?

WaswollenSie?
ZumBeispieleineArtöffentlich-rechtli-
chesInternet. EinenBruchteilderetwa9,1
MilliardenEuro –das ist nachWikipedia
dasjährlicheBudgetderöffentlich-rechtli-
chenAnstalten–dafüreinsetzen,einever-
nünftigeNachrichtensendungauszustrah-
len, die nicht die ganzeWelt täglich in 15
Minuten presst, sondernsich auchZeit
nimmt,Dinge ausführlicher zu erklären,
wenn es nötig ist.Oder Feuilletons,die
auch vonZeitungsredaktionen odervom
Perlentaucher betriebenwerden könnten,
dieaberendlichauchdiekulturelleVielfalt
unsererGesellschaft abbilden, also auch
HipHop ,PopkulturoderKlassikzeigenund
nicht nurVolksmusik, Schlager und noch
malVolksmusikundSchlager.DieOrches-
ter undEnsembles sollte esweiter geben.
Mankäme vermutlich mit etwa2Milliar-
den aus .Und es gäbe ganz sicher keinen
kulturellen oder politischenVerlust dabei.
Im Gegenteil. Damit könnten wir morgen
anfangen.Seit 2013 muss jederHaushalt
zahlen.Dawurdeklar,dassniemandmehr
die Rundfunkgeräte braucht, dieTechno-
logieistlängstweitergegangen.Wirsollten
diesenganzenZauberabblasenundinet-
was Vernünftiges,Zeitgemäßes transfor-
mieren.

„Was ist uns Musik heute nochwert?“, fragt Berthold Seliger,Buchautor undKonzertagent. BNEW/MIKE FRÖHLING


Wermachtdenn


heutenochsowas?


PlattenbringenkeinGeld,Konzertekostennur.Womit


verdientmanheuteinderMusikindustrieGeld?KonzertagentBerthold


Seligerzeigt:DieRettungsindSuperstarsundMerchandising


Interview:ArnoWidmann

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