Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

10 2./3. NOVEMBER 2019


Gutsch


Leo


Dear Mr.


President


I


nder Zeitung las ich, dass der„Polizei-
präsidentvonBerlin“ abgeschafft wird.
Also:NichtdasAmt,sonderndieBezeich-
nung, die aus demJahre1809 stammt.
Künftigheißtesnurnoch:„PolizeiBerlin“.
GeschlechtsneutralsolldieneueBezeich-
nung sein, und man hätte nun „Polizei-
präsidierendevonBerlin“ oder „Polizei-
präsident*InnenvonBerlin“wählenkön-
nen, wovonman aber absah.Sprachäs-
thetischistdieBerlinerPolizeivielbesser
alsihrRuf.
Trotzdem wirdmir der Polizeipräsident
einbisschenfehlen.SeiticheinAutofahr e,
bekam ichregelmäßigPost vom„Präsi“.
Mankönnte sagen:Wirpflegten eine fast
30-jährigeBrieffreundschaft.Wobei nur er
schrieb ,undichihmanschließendGeldauf
sein Konto überwies.Die Briefe desPräsi
waren nie freundlich und begannen stets
mit:„Ihnenwirdvorgeworfen...“.
Indenverg angenenJahrenkamendann
immer mehrBriefe.Ich wohne inPrenz-


lauer Berg ,einer Gegend, in der es üblich
ist, dass nach einerStraßenbaumaßnahme
viele Parkplätzewie vonGeisterhandver-
schwinden.ImSinneder„Verkehrswende“.
Verkehrspolitischgiltesalsprogressiv,Park-
plätzeabzubauen,auchwennimmermehr
Menschen ein Auto besitzen. Zuwe ilen
musste ich nun kreativeParkentschei-
dungen treffen.Daraufhin schrieb mir der
Präsisofor twiederBriefe.
Ichwillehrlichsein:EsgabMomente,da
habe ich denPräsi aufrichtig und aus gan-
zemHerzengehasst.
Meine Parkplatzsuche wurde immer
großflächiger.Manchmal parkte ich im
Wedding, verg aß dann aber,dass ich im
Wedding geparkt hatte.Oder sonst ir-
gendwo geparkt hatte.Esi st nicht schön,
ein Mann zu sein, der nichtweiß, wo sein
Autosteht.EinParkplatzvergesser.
„Dumusst dochwenigstens ungefähr
wissen,woderWagensteht“,sagtemeine
Frauundschautemichanwieeinenfrüh-

verg reisten Trottel. Deshalb begann ich
Fotos zu machen.Parkplatzfotos.Heute
ist mein ganzesHandy voll davon.Sterbe
ich plötzlich eines unnatürlichenTodes
und diePolizei untersucht meinHandy,
dann werden die Beamten denken:Viel-
leicht mochte er seineFrau. Sein größte
Liebeaber–daswarseinparkendesAuto.
DieParkplatzfotos halfen leider auch
nicht immer,weil die Berliner Straßenzüge
oftsehrähnlichaussehen.MeinFrausagte:
Aber du hast doch einFoto! Ichsagte: Ja,
aber ich erkenne die verdammteStraße
nicht! Dann hielt sie mich für einen noch
größerenTrottel.
VoreinigenWochenwollteichaufsLand
fahren. IchnahmdieKatzemit.Ichwusste:
MeinAutostehtgleichvordemHaus.Dort
stand es dann aber gar nicht.Ichging nun
mit derKatze, sie im Katzenkorb liegend,
suchend durch die Straßen. DieKatze
maunztekläglich.Passantenschautenmich
an wie einen Tierquäler .Ich schwitzte,

VonJochen-Martin Gutsch

fluchte,irrteumher.DieKatzemaunzte.Ich
warerschöpft,vondunklerSchwermutum-
weht. DieKatzemaunzte weiter.Wir liefen
RichtungWedding.OderRichtungEndeder
Welt?
Plötzlich spürte ich eine tiefe,alles um-
fassendeSehnsucht aufsteigen: nach einer
Garage.
Ichfinde,der Satz: „Ich habe eineGa-
rage“ passt eher nachZehlendorfoder
Brandenburg.ZudemistmeinAutozwanzig
Jahrealtundsiehtauchsoaus.
Aber dann traf ichvorein paarTagen
einen freundlichenMann, der mir einen
Schlüssel in dieHand drückte: für meine
Garage.Aml iebsten hätte ich denMann,
der dieGestalt einesEngels hatte,um-
armt. VorGlückundErleichterung.
Da es auf demGelände vieleGaragen
gibt,habeich–zurOrientierungundalsAb-
schiedsgesteanmeinenaltenBrieffreund–
natürlicherstmaleinFotogemacht.
DerPräsiisttot.LanglebederPräsi!

W


erdieletztenJahreimS ommer
durch Kreuzberglief oder an
einemdervielenBadeseender
Stadtlag,denkonntederEin-
druck beschleichen, inzwischen gäbe es
mehrtätowierteMenschenalsuntätowierte.
DenMotiven sind dabei keineGrenzen ge-
setzt,vonjapanischenGeishashinzuHips-
ter-Eulen,vonAnemonenzuZahlenundNa-
meninschwungvollenSchriftarten.
AuchwennTätowierungenscheinbarerst
im letzten Jahrzehnt vollends im Main-
streamangekommensind,gibtessieschon
lange,auch in Deutschland. Als einer der
Pioniereder hiesigenTätowierkunst, gar als
„König der Tätowierer“, gilt ChristianWar-
lich.SeinberühmtesVorlagenalbumistkürz-
lich in Buchformerschienen („Christian
Warlich–TattooFlashBook“,Prestel-Verlag,
38 Euro)und gibt einenEinblick in die far-
benfroheOldschool-OptikseinerMotive,de-
renÄsthetik bis heuteHawaiihemden und
Aufnäherinspiriert.
Warlichwurde1891inHannovergeboren
und starb 1964 inHamburg. In der Hafen-
stadtwarderUrvaterderprofessionellenTä-
towierung dann auchvorallem tätig, inSt.
PaulibetriebereineGaststätte.EinenTeilder
KneipehatteeralsTätowierstubeeingerich-
tet, mit einemVorhang zur Abtrennung. Es
rankensichvieleMythenumseinLeben,fest


Aufimmerund ewig


Mannannteihnden„KönigderTätowierer“:IneinerKneipein


Hamburg-St.PaulistachChristianWarlichseineheutelegendärenMotive


VonSarah Pepin


ChristianWarlich (links) mit potenziellenKunden. SHMH/ERICH ANDRES

Hähne, die auf Schmetterlingen stehen, Matrosen- und Schifffahrtsmotive, Rosen, Engel und politische Bündnisse:Warlich ließ sich für seineKunst von allen Lebensbereichen inspirieren. MUSEUM FÜR HAMBURGISCHE GESCHICHTE/CHRISTOPH IRRGANG (3)

Stilprägend: Japanische Geishas mit übergroßen,runden Fächernund bunten Kimonos. Links dieWelt der Menschen, rechts dieTierwelt mit angriffslustigenTigern,Fischen und Vögeln.


stehtaber,dasserschonalsJugendlichermit
dem Tätowieren begann.Erst arbeitete er
manuell, späterverwendete er alsErster in
Deutschland eine elektrische Tätowierma-
schine.Zus einerZeitgabeskaumBerufstä-
towierer ,gestochenwurdevornehmlichvon
„erwerbslosenArbeiternundHandwerkern,
Zuhältern, KupplernundDirnen“,wieesim
Nachwortheißt.AberWarlichversuchte,das
Geschäft aufzuwerten. „Gebt euren Körper
nichtindieHändevonPfuschern!“,schrieb
erauf Reklame-Handzettel.Undpriesdieei-
gene Kunst an: „Alles,was der männliche
Körperausdrückensoll,stecheichein:Poli-
tik, Erotik, Athletik, Aesthetik, Religion, in
sämtlichenFarben,anallenStellen.“
Schön, sichvorzustellen, wie dieSeefah-
rerund Arbeiter derStadt in dieGaststätte
kamen,einenHumpentrankenunddasAl-
bum, das auf demTresen lag, durchblätter-
ten.EsgibtdreiNachdruckedesikonischen
Buchs,siesindjedochschwerzubekommen
undinAntiquariatensehrteuer.DasOriginal
wurdeindenSammlungendesMuseumsfür
HamburgerGeschichteüberdieJahreaufbe-
wahrt. Warlichs Rosen, Engel und Matrosen
leuchtendortweiter.

Ab 27.N ovembersindChristianWarlichs Motiveim
Museum für Hamburgische Geschichte in derAusstel lung
„Tattoo-Legenden. ChristianWarlich auf St.Pauli“zus ehen.
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