Die Welt Kompakt - 06.11.2019

(Brent) #1

KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,6.NOVEMBER2019 SEITE 20


E


s gibt Dinge, über die
man mit Martin Scor-
sese nicht sprechen
kann. Zum Beispiel
„Avengers: Endgame“, der es im
Sommer geschafft hat, zum kas-
senstärksten Film aller Zeiten zu
werden. Er hat „Endgame“ nicht
gesehen, so wenig wie die ande-
ren Marvel-Filme. „Ich habe ver-
sucht, sie anzuschauen. Aber das
ist nicht Kino“, sagte er dem Ma-
gazin „Empire“. „Ehrlich gesagt,
so gut sie gemacht sind und so
gggut sich die Schauspieler unterut sich die Schauspieler unter
den gegebenen Umständen da-
rin schlagen mögen – diese Fil-
me erinnern mich am ehesten an
Themenparks.“

VON HANNS-GEORG RODEK

Nun hat Scorsese in einem
Meinungsartikel für die „New
YYYork Times“ nachgelegt. Man-ork Times“ nachgelegt. Man-
che Leute hätten diese Äußerung
als Beleidigung oder Marvel-
Hass ausgelegt: „Wenn jemand
die Absicht hat, meine Worte in
diesem Licht zu interpretieren,
kann ich nichts dagegen tun ...
Die Tatsache, dass diese Filme
mich nicht interessieren, ist eine
Sache des persönlichen Ge-
schmacks.“
WWWäre er mit Filmen aus eineräre er mit Filmen aus einer
späteren Zeit aufgewachsen, hät-
ten sie ihn vielleicht gereizt.
„Aber ich habe ein Sensorium
fffür Filme entwickelt, das so weitür Filme entwickelt, das so weit
von dem Marvel-Universum ent-
fffernt liegt wie die Erde von Al-ernt liegt wie die Erde von Al-
pha Centauri... Für mich und
meine Freunde, die zur gleichen
Zeit Filme zu machen begannen,
handelte Kino von Offenbarung


  • ästhetischen, emotionalen und
    spirituellen Offenbarungen. Es
    handelte von Persönlichkeiten –
    der Komplexität von Menschen
    und ihren zuweilen wider-
    sprüchlichen Naturen, wie sie
    sich lieben und verletzen und
    plötzlich mit sich selbst kon-
    fffrontiert werden. Es ging darum,rontiert werden. Es ging darum,
    mit dem Unerwarteten auf der
    Leinwand und im Leben kon-
    fffrontiert zu werden und dierontiert zu werden und die
    Grenzen der Kunstform Film zu


erweitern.“ Dies sei der Schlüs-
sel für ihn und seine Mitstreiter
gewesen: Kino als Kunstform.
Eine Kunstform mit einem brei-
ten Dach: Fuller und Bergman,
Donen und Anger, Godard und
Hitchcock hätten alle darunter
Platz gehabt, so verschieden sie
seien. Man könne gewisse Hitch-
cocks wegen ihres Spektakels
auch als Themenparks begreifen,
der Höhepunkt von „Der Frem-
de im Zug“ finde sogar auf einem
RRRummelplatz statt. Aber warumummelplatz statt. Aber warum
bestaune man Filme wie „Der
unsichtbare Dritte“ heute noch
wie vor über 60 Jahren (Scorsese
benutzt den Ausdruck „to mar-
vel at“!)? Nicht weil Cary Grant
an dem Abgrund von Mount
RRRushmore hänge, sondern we-ushmore hänge, sondern we-
gen der absoluten Verlorenheit
seiner Seele.
„Viele der Elemente, die mein
Kino definieren, finden sich
auch in Marvel-Filmen“, konzi-
diert Scorsese. „Was darin fehlt,
ist Offenbarung, Geheimnis
und eine wahre Gefahr der Ge-
fühle: Es geht eigentlich um
nichts. Diese Filme... sind Varia-
tionen einer begrenzten Zahl
von Themen.“
Scorsese beschreibt sodann
die Natur moderner Lizenzpro-
duktion: Die Filme seien „mark-
terforscht, publikumsgetestet,
sicherheitsüberprüft, modifi-
ziert, erneut überprüft, erneut
modifiziert – bis sie als konsu-
mierbar gelten“. Kurzum, sie
seien alles, „was die Filme von
Paul Thomas Anderson oder

Claire Denis oder Spike Lee
oder Wes Anderson nichtsind“.
Wenn er einen Film dieser Re-
gisseure sehe, könne er sich da-
rauf verlassen, „dass ich etwas
absolut Neues sehe und uner-
wartete, vielleicht sogar nicht
in Worte zu fassende Erfahrun-
gen mache“.
Scorsese steht mit dieser Mei-
nung in der Filmgemeinde bei
WWWeitem nicht allein. Ethan Haw-eitem nicht allein. Ethan Haw-
ke ließ sich in dem Onlinemaga-
zin „Film Stage“ zu offenen Sät-
zen über „Logan: The Wolveri-
ne“ hinreißen. „Da gibt es das
Problem, dass man uns sagt, ‚Lo-
gan‘ sei ein großartiger Film“,
begann Hawke. „Nun, es ist ein
großartiger Superheldenfilm,
aaaber es ist ein Film mit Leuten inber es ist ein Film mit Leuten in
Strumpfhosen, aus deren Hän-
den Metallspitzen herauskom-
men. Es ist nicht Bresson. Es ist
nicht Bergman. Aber es wird so
darüber geredet, als sei es das.
Es ist nicht das Gleiche, aber Big
Business glaubt, dass es das Glei-
che sei. Big Business möchte,
dass du glaubst, dies seien groß-
artige Filme, weil sie damit Geld
machen wollen.“
Kaum ein Star äußert sich so
unverblümt, denn jeder weiß,
dass in diesen Franchises auch
Chancen für sie liegen: die
Chance auf einen fetten Ge-
haltsscheck, die Chance auf Ret-
tung aus dem Karriereknick (wo
wäre Robert Downey Jr., hätte
ihn nicht Iron Man aus seinem
Kreislauf von Drogen, Entzug
und Drogen gerettet?), die

Chance auf wirklich gute Rollen
in wirklich guten Filmen, die von
dem Superheldengeld praktisch
subventioniert werden.
Es gibt auch die These, dass
Superheldenfilme das Kino prak-
tisch am Leben erhielten, weil
die Jungen nur so noch von ih-
ren Endgeräten wegzulocken
seien. „Sie könnten also fragen:
WWWas ist Ihr Problem? Warumas ist Ihr Problem? Warum
nicht einfach Superhelden- und
anderen Franchisefilmen ihren
Lauf lassen?“
Martin Scorsese liefert die«
Antwort allerdings auch gleich
selbst: „Überall auf der Welt be-
herrschen Franchisefilme die
Leinwände ... Es gibt weniger
unabhängige Kinos als jemals
zuvor. Streaming ist das wich-
tigste Medium geworden, um
Filme zum Betrachter zu brin-
gen. Und trotzdem: Ich kenne
keinen einzigen Regisseur, der
seine Filme nicht für die große
Leinwand entwerfen möchte.“
Das schließe ihn ein – ihn, der
gerade seinen neuesten Film
„„„The Irishman“ für 140 Millio-The Irishman“ für 140 Millio-
nen Dollar für Netflix gedreht
hat (der ab nächste Woche zu-
erst im Kino läuft). „Nur Netflix
hat es uns ermöglicht, diesen
Film so zu machen, wie er ge-
macht werden musste, und ich
werde dafür immer dankbar
sein. Der Film wird im Kino ge-
zeigt werden, das ist großartig.
WWWürde ich mich freuen, wenn erürde ich mich freuen, wenn er
auf mehr Leinwänden und län-
ger gezeigt werden würde? Na-
türlich! Aber die Tatsache bleibt,
dass die Leinwände in den meis-
ten Multiplexen mit Fran-
chisefilmen verstopft sind.“
Scorsese lässt auch das Argu-
ment nicht gelten, man gebe den
Leuten doch nur, was sie woll-
ten: „Wenn man Menschen end-
los nur die eine einzige Sache
anbietet, werden sie natürlich
mehr davon wollen.“ Man habe
es momentan mit einer Spaltung
zu tun: „Es gibt die weltweite au-
diovisuelle Unterhaltung – und
es gibt das Kino. Sie überlappen
sich noch hin und wieder, aber
das ist immer seltener der Fall.“

„Avengers: Endgame“: so weit von Scorseses Kunstauffassung entfernt „wie die Erde von Alpha Centauri“

PICTURE ALLIANCE/ EVERETT COLLECTION

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„Marvel ist


nicht Kino“


Der Regisseur Martin Scorsese


erklärt, warum Superhelden keine


Rettung bringen: „Um was geht es da?


Eigentlich um nichts“


AUKTIONEN

Keith Haring könnte
Millionen einbringen

Ein Wandgemälde des ame-
rikanischen Künstlers Keith
Haring (1958–1990) könnte
bei einer Auktion in New
York bis zu fünf Millionen
Dollar (etwa 4,5 Millionen
Euro) einbringen. Es handele
sich um das erste Wandge-
mälde des Künstlers, der für
seine Comic-ähnlichen
Männchen berühmt ist, das
jemals bei einer Versteige-
rung angeboten werde, teilte
das Auktionshaus Bonhams
mit. Das Werk besteht aus 13
verschiedenen Figuren.

ARCHÄOLOGIE

Drei antike Schiffe
vor Kasos entdeckt

Vor der griechischen Ägäis-
insel Kasos sind drei Schiffs-
wracks aus antiker und mit-
telalterlicher Zeit entdeckt
worden. Auf dem Meeres-
grund seien zudem große
Teile ihrer Ladung ausge-
macht worden, teilte das
Kulturministerium in Athen
mit.

KOMPAKT


I


rgendetwas scheint mit die-
sen vortrefflichen Elektro-
autos nicht zu stimmen, je-
denfalls müssen sich Regie-
rung und Hersteller ständig
neue Methoden ausdenken,
um dem Verbraucher die ver-
dächtige Ware doch noch auf-
zuschwatzen. Wer sich zurzeit
ein E-Auto kauft, bekommt ei-
ne fette Prämie, wird für zehn
Jahre von der Kfz-Steuer be-
freit, darf auf Busspuren fah-
ren, kostenlos parken und
kriegt zwölf Monate lang gra-
tis die „Zeit“ ins Haus gelie-
fert. Die Kanzlerin will außer-
dem das Land mit einer Milli-
on Ladesäulen überziehen.
Die Elektroautobesitzer kön-
nen bald an jeder Straßenecke
ihr Auto aufladen und Stun-
den später wieder dreihundert
Kilometer weiterfahren. Vo-
rausgesetzt, die Kinder im
Kongo schaffen es, genügend
Kobalt für die Batterieherstel-
lung ranzuschaffen, und es
bleibt bei der Lithiumgewin-
nung noch etwas Grundwas-
ser für die Landwirtschaft in
Chile übrig. Falls aber, entge-
gen allen Prognosen, auch im
nächsten Jahr das Elektroau-
tofieber nicht so richtig aus-
brechen will, bekommt jeder
Käufer eines VW ID.3 noch ei-
nen Golf Diesel dazu.

Zippert


zappt

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