Die Welt Kompakt - 06.11.2019

(Brent) #1

A


m 12. April 2019 stand
Mattheos Herz still.
Der Säugling war erst
neun Tage auf der Welt,
als die Ärzte des Berliner Klini-
kums Lichtenberg 35 Minuten
lang versuchten, ihn wiederzube-
leben. 300 Mal hatte sein Herz in
der Minute geschlagen, bevor er
kollabierte, mehr als doppelt so
schnell, wie es darf. Eine angebo-
rene Herzrhythmusstörung. Die
Reanimation glückte nur knapp.

VON KAJA KLAPSA

Wenn das eigene Kind den Tod
streift, sagt Maria Laue, verände-
re sich das Leben um 180 Grad.
Die 34-jährige Mutter und ihr
Freund Stephan Lehmann, Mat-
theos Vater, sitzen an diesem
Dienstagmorgen in ihrem Wohn-
zimmer in Berlin-Marzahn, einer
Plattenbaugegend im Osten der
Stadt. An der Wand hängen Fotos
von drei Kindern, einige Schnapp-
schüsse sind auf große Leinwände
gedruckt. Auf dem Boden liegen
Spielsachen und Kuscheltiere, da-
neben stehen ein Babybett und
ein Tisch mit Filterkaffee und
Lebkuchen.
Laue, eine Frau mit warmem
Lächeln, blickt auf Mattheo, der
neben ihr auf dem Sofa liegt und
schläft. Unter seinem T-Shirt
schauen drei dünne Kabel heraus,
die mit einem danebenliegenden
Monitor verbunden sind. 113 zu 20
steht dort, seine aktuelle Herzfre-
quenz. Ein guter Wert. Ein halbes
Jahr ist es nun her, dass die Ärzte
um sein Überleben kämpften.
Seitdem ist für die Familie vieles
anders geworden.
Täglich kommen in Deutsch-
land schwer und chronisch kranke
Kinder zur Welt. Sie leiden unter
anderem an Diabetes, angebore-
nen Fehlbildungen, Krebs-, Stoff-
wechsel-, Herz- oder Kreislaufer-
krankungen. Eindeutige Zahlen
der Betroffenen gibt es laut der
Robert-Koch-Stiftung nicht. Ge-
mäß einer Studie, die zwischen
2009 und 2012 bundesweit durch-
geführt wurde, haben 16,2 Prozent

der Kinder und Jugendlichen bis
zu 17 Jahre nach Angaben ihrer El-
tern ein lang andauerndes, chro-
nisches Gesundheitsproblem. Je-
des fünfte dieser Kinder ist dabei
krankheitsbedingt eingeschränkt,
die Dinge zu tun, die Gleichaltrige
tun können.
Viele Familien stellt die Zeit
nach der Entlassung aus dem
Krankenhaus vor große Schwie-
rigkeiten. Um Abhilfe zu schaffen,
gibt es die sozialmedizinische
Nachsorge, die seit zehn Jahren
eine Regelleistung der gesetzli-
chen Krankenkassen ist und den
Trägern zufolge von etwa 10.000
Kindern pro Jahr in Anspruch ge-
nommen wird. Krankenschwes-
tern, aber auch gelegentlich The-
rapeuten und Psychologen, be-
treuen die Familien dabei in ers-
ter Linie zu Hause.
Bei den meist wöchentlichen
Besuchen wird die Entwicklung
des Kindes geprüft, Arzttermine
und Medikamente werden organi-
siert, Unterstützungsangebote
vermittelt. Meistens stehen pro
Familie 20 Stunden zur Verfü-
gung. Ziel ist es auch, den statio-
nären Aufenthalt zu verkürzen
und eine unplanmäßige Rückkehr
ins Krankenhaus zu vermeiden.
10 Uhr, bei Familie Laue klin-
gelt es an der Tür, die Nachsorge-
schwester Ramona Graetz betritt

das Wohnzimmer. Herzlich
umarmt die zierliche blonde Frau
die beiden Eltern, streicht dem
schlafenden Mattheo über die
Wange und lässt sich aufs Sofa fal-
len. Nach mehreren Monaten Be-
treuung ist die 39-Jährige heute
zum letzten Mal zu Besuch. „Hat
die Übernahme des Helms ge-
klappt?“, fragt sie die Mutter.
„Puh, ja, komplett, wir haben
Glück gehabt mit der Kasse“, sagt
Laue. Gemeint ist der Helm, den
Mattheo seit drei Monaten Tag
und Nacht trägt, um eine Asym-
metrie seines Kopfes auszuglei-
chen. Die Krankenkasse erstattete
die Kosten.
Schwester Ramona, sagt Laue,
könne bei allem helfen. Sie wisse,
wo der beste Kinderkardiologe in
Marzahn ist, welche Apotheke ein
bestimmtes blutdrucksenkendes
Medikament verkauft, wie viele
Transportkosten beim dritten
Pflegegrad übernommen werden
und wie man sich von der Zuzah-
lung befreit. „Alleine wären wir
mit all dem niemals zurechtge-
kommen.“
Beim ersten Treffen zum Bei-
spiel erklärte Graetz erst mal eine
halbe Stunde lang den Arztbrief.
„Paroxysmale supraventrikuläre
Tachykardie“ lautet Mattheos Di-
agnose. Manchmal erspart die
Schwester auch einen Besuch im
Krankenhaus. Zum Beispiel wenn
die Eltern Panik bekommen, weil
sich Mattheos Brustkorb etwas
schneller hebt als sonst. Dann
macht Laue mit ihrem Handy ein
Video und schickt es Graetz per
WhatsApp. „Alles gut, das ist nor-
mal“, schreibt die Nachsorge-
schwester dann zurück.
Graetz hat früher 16 Jahre auf
der Intensivstation gearbeitet.
„Ich war jeden Tag mit sehr viel
Leid und Tod konfrontiert“, sagt
sie. Vor vier Jahren verließ sie die
Klinik und arbeitet seitdem als Fa-
milien- und Nachsorgeschwester,
bietet Sprechstunden für Eltern
und Erste-Hilfe-Kurse an. Primär
ist sie im Bezirk Marzahn im Ein-
satz, in dem vergleichsweise viele
sozial schwache Familien wohnen.

30 PANORAMA DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,6.NOVEMBER2019


ÖSTERREICH


Herzinfarkt wegen


einer Spielzeugpistole


Ein 69 Jahre alter Mann ist bei
einem Streit mit zwei Jungen
im österreichischen Rankweil
tot zusammengebrochen. Wie
die Polizei mitteilte, starb er
an Herzversagen. Bei dem
Streit hatten die beiden Ju-
gendlichen im Alter von zwölf
und 13 Jahren den Mann auf
einem Sportplatz mit einer
Spielzeugpistole bedroht. Der
Mann schleuderte daraufhin
einen Stein und zwei Holz-
stöcke auf die beiden, diese
warfen die Geschosse zurück –
verletzt wurde dabei niemand.
Nach der Obduktion kamen
Experten zu dem Schluss, dass
die Aufregung für den Mann zu
viel war. Er starb noch an Ort
und Stelle.


DEUTSCHLAND


Steine begraben


Gabelstaplerfahrer


Ein Gabelstaplerfahrer ist in
einem Stuttgarter Baumarkt
von Betonsteinen begraben
und tödlich verletzt worden.
Ein anderer Arbeiter entdeckte
den 49-Jährigen unter dem
Steinhaufen und befreite den
Verletzten gemeinsam mit
Kollegen. Der 49-Jährige starb
später allerdings im Kranken-
haus. Der genaue Unfallher-
gang war zunächst unklar.


MEXIKO


Drogenkartell tötet


Kinder und Frauen


Ein Drogenkartell hat im Nor-
den Mexikos mutmaßlich aus
Versehen drei Frauen und
sechs Kinder getötet. Mögli-


cherweise hätten die Angreifer
die schwarzen SUVs der in
Mexiko lebenden US-Bürger
für Fahrzeuge eines rivalisie-
renden Kartells gehalten, hieß
es. Fünf Kinder wurden mit
Verletzungen in ein Kranken-
haus in Phoenix im US-Staat
Arizona gebracht. Ein Kind galt
als vermisst. US-Präsident
Donald Trump sicherte dem
Nachbarland seine Unterstüt-
zung zu. „Es ist Zeit für Me-
xiko, mithilfe der Vereinigten
Staaten, Krieg gegen die Dro-
genkartelle zu führen und sie
vom Angesicht der Erde zu
tilgen“, schrieb er auf Twitter.
Verwandten zufolge lebten die
US-Bürger in der religiösen
Gemeinschaft La Mora im
mexikanischen Staat Sonora.

INTERNET

5 4 Prozent der
Menschen sind online

Weltweit sind 4,1 Milliarden
Menschen online, fast 54 Pro-
zent der Weltbevölkerung. Die
Zahl steige jedes Jahr und habe
sich seit 2005 fast vervierfacht,
berichtete die Internationale
Fernmeldeunion (ITU) am
Dienstag in Genf. Die UN-
Organisation befasst sich mit
allen Fragen der Telekom-
munkation. Weltweit waren in
diesem Jahr gut 48 Prozent der
Frauen und gut 58 Prozent der
Männer online. Je entwickelter
die Region, desto höher ist der
Anteil der Internetnutzer. In
den ärmsten Länder der Welt
seien im Durchschnitt nur
zwei von zehn Einwohnern
online. Zum Vergleich: In In-
dustrieländern sind es fast 88
Prozent, und damit sei die
Sättigung praktisch erreicht, so
die ITU. Daten zu einzelnen
Ländern veröffentlichte die
ITU nicht.

KOMPAKT


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„300 Mal schlug sein


Herz in der Minute“


Wenn schwer


kranke Kinder aus


der Klinik kommen,


sind viele Eltern


überfordert.


Bei der Betreuung


zu Hause sollen


Krankenschwestern


helfen. Die Kassen


übernehmen die


Kosten aber nicht


immer ganz


Durch Mattheos Krankheit hat sich das Leben der Familie von Maria Laue (l.) grundsätzlich gewandelt

STEFFEN ROTH
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