Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1

Björn oder Bernd


Oliver Welke spricht in der


LMU vor 2000 Menschen


darüber, was Satire kann


 München, Seite R7

Dichte Wolken verdecken die Sonne. Im Ta-
gesverlauf kommt es zu lokalen Regen-
schauern.  Seite R16


München –Knisternde, goldenschim-
mernde Rettungsdecken sind ihr Marken-
zeichen. Eine Rettungsdecke schützt und
wärmt. Sie zeigt, dass da jemand ist, der
hinsieht und hilft und für den anderen da
ist. Auch Geflüchteten wird so eine Decke
um die Schultern gelegt, wenn sie aus dem
Mittelmeer gerettet werden. Glänzend, gol-
den, solidarisch und mutig – das wollen
auch „Die Vielen“ sein. Der inzwischen seit
einem Jahr bestehende deutschlandweite
Verband von Kunst- und Kulturschaffen-
den sieht sich und seine Arbeit in der Ver-
antwortung, sich für ein offenes, toleran-
tes und vielfältiges Miteinander und die
Freiheit der Kunst stark zu machen.
„Kultur fragt immer auch danach, wie
wir trotz unterschiedlicher Werte und An-
sichten zusammenleben können“, sagt An-
drea Gronemeyer, Intendantin der Schau-
bühne und Teil der Vielen in München. Ge-
meinsam mit 15 weiteren Institutionen,
wie dem Residenztheater, Kulturbunt Neu-

perlach oder dem Museum Brandhorst,
werden sie vom 9. bis zum 17. November
die Aktionswoche der Vielen veranstalten,
um „braunen Gedanken bunte Taten entge-
genzusetzen.“ Den Auftakt dazu macht am


  1. November eine Marathonlesung: Immer
    zur vollen Stunde wird in verschiedenen
    Einrichtungen die bayerische Erklärung
    der Vielen mit dem Selbstverständnis und
    der Intention des Bündnisses in verschiede-
    nen Sprachen verlesen werden.
    Das Datum ist nicht zufällig gewählt.
    „Kein Tag hat sich so in die Chronik der
    deutschen Geschichte eingebrannt wie der

  2. November“, sagt Sabine Brantl. Sie ist Ku-
    ratorin im Haus der Kunst. Als im Zuge des
    Novemberpogroms 1938 mehr als die Hälf-
    te aller Synagogen in Deutschland und Ös-
    terreich zerstört wurden, war das „Haus
    der deutschen Kunst“ gerade fertiggestellt
    worden – damals inhaltliches und architek-
    tonisches Vorzeigeprojekt des NS-Re-
    gimes. „Jeder Kulturschaffende in Bayern


trägt eine besondere Verantwortung“,
heißt es in der Bayerischen Erklärung der
Vielen. Sabine Brantl ist sich dieser Verant-
wortung durchaus bewusst: „Die Geschich-
te ist uns eine stete Mahnung, eine Tür, die
nicht verschlossen werden darf.“ Deshalb
wird am 10. November die Film-Matinée

„Josef Urbach – Lost Art“ stattfinden. Fil-
memacher Tilman Urbach widmet sich dar-
in der Geschichte seines Großonkels. Der
rheinische Expressionist wurde zu Zeiten
des Nationalsozialismus als entartet diffa-
miert, seine Bilder aus den Sammlungen
seiner jüdischen Förderer geraubt. Für
Kunstfreiheit einzustehen ist ein wichtiger
Schwerpunkt der Vielen. Denn, so die Er-
klärung: „Kunst schafft einen Raum zur

Veränderung der Welt.“ Das gefällt nicht je-
dem. Ein „Rechtsruck“ in der Gesellschaft
lässt auch die Arbeit der Kulturschaffen-
den nicht unberührt. Viele von ihnen
beklagen zunehmend Anfeindungen und
die versuchte Einflussnahme auf Kultur-
programme durch rechtspopulistische
Gruppierungen.
Für die Aktionswoche der Vielen hat die
Theaterakademie August Everding eng
mit der Israelitischen Kultusgemeinde zu-
sammengearbeitet. Am 14. November wird
der jüdische Autor und Regisseur Tobias
Ginsburg im Opernstudio aus seinem
Buch „Die Reise ins Reich“ lesen. Ginsburg
studierte Dramaturgie an der Everding-
Akademie und hat acht Monate lang under-
cover unter Reichsbürgern gelebt.
Diversität und Vielfalt bedeuten aber
nicht nur das Zusammenleben von Men-
schen unterschiedlicher Herkunft. „Per-
spektive Inklusive“ nennt sich ein Projekt
des Kulturreferats, das im Rahmen der Ak-

tionswoche vor allem die Themen Kunst
von und für Menschen mit und ohne Behin-
derung in den Fokus nimmt. Am 12. Novem-
ber findet beispielsweise der Workshop
„Professionalisiert euch!“ im Theater
Hoch X statt, in dem es darum gehen soll,
wie ein künstlerisches Studium konzipiert
sein müsste, damit Menschen mit Behinde-
rung der Zugang nicht verwehrt bleibt. Am
gleichen Tag gibt es dort eine Diskussions-
runde zur Frage, welchen Mehrwert Diver-
sität hat und wie München mit einer weni-
ger bunten Kulturszene aussähe.
Die Vielen haben ihre Antwort darauf
schon gefunden. Denn für sie steht fest:
„Die wahren Fremden sind nicht diejeni-
gen mit Migrationshintergrund, sondern
die mit verstaubten, alten Ansichten und
der Forderung nach einer Leitkultur.“
bernadette rauscher

Die Woche der Vielen: Sa., 9.Nov. bis So., 17. Nov.,
Pogramm unter dievielenbayern.webflow.io

von dominik hutter

München– AlsWalter Zöller erstmals in
den Münchner Stadtrat kam, liefen gerade
die letzten Vorbereitungen für ein echtes
Großereignis: die Olympischen Spiele. Bei
der Kommunalwahl im Juni 1972 hatte die
SPD die absolute Mehrheit errungen, Ge-
org Kronawitter trat die Nachfolge von
Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel an.
Der Neuling Zöller hingegen war Mitglied
der CSU, Jurist, 32 Jahre alt. Und er sollte
später ordentlich Furore machen, in den
Achtzigerjahren, als Kronawitter mitten in
der Amtsperiode seine Mehrheit verlor
und Zöller als „Schwarzer Riese“ die soge-
nannte Gestaltungsmehrheit anführte. Of-
fiziell war er damals Fraktionsvorsitzen-
der der CSU, inoffiziell eine Art Regierungs-
chef. Zöller spricht heute noch gerne über
diese Zeit. Im Stadtrat ist er immer noch,
2014 wurde er zum achten Mal wiederge-
wählt. Und zum letzten Mal, denn im März
2020 tritt er nicht mehr an.
Wenn jemand wie Walter Zöller den
Stadtrat verlässt, kann man getrost vom
Ende einer Ära sprechen. Von einer Zäsur.
Und Zöller ist nicht der einzige, die CSU
und auch andere Parteien verlieren mit
der anstehenden Kommunalwahl einige
ihrer seit Jahrzehnten prägenden Köpfe.

Hans Podiuk zum Beispiel, der in den ver-
gangenen Jahren zum gefragten Frakti-
ons-Weisen aufgestiegen ist. Der Trude-
ringer sitzt seit 1978 für die CSU im Stadt-
rat, also auch schon 41 Jahre. Er gilt als ei-
ner, der immer da ist, wenn ihn seine Par-
tei braucht. 2002 sprang er ein, als der

CSU plötzlich der OB-Kandidat abhanden
kam – obwohl der Posten als Rathaus-
Chef eigentlich nie auf seinem politischen
Wunschzettel stand. Fraktionsvorsitzen-
der war er gleich zwei Mal – vor und nach
Josef Schmid. Mit Podiuk gehen auch der
liberale Strippenzieher Richard Quaas,
der einst Geschäftsführer der Münchner

CSU war, und Reinhold Babor, der CSU-
Fraktionsälteste.
Aber nicht nur die CSU wird sich verän-
dern. Der gesamte Stadtrat, das lässt sich
schon jetzt unabhängig vom Wahlergeb-
nis sagen, wird völlig anders aussehen als
in den vergangenen Jahren. Die SPD ver-
liert ihre Bürgermeisterin Christine
Strobl, die am Marienplatz zu den renom-
miertesten Bildungs- und Sozialpolitike-
rinnen gehört. Die 58-Jährige hört aus pri-
vaten Gründen auf, sie war eigentlich als
Listenplatz zwei nach Dieter Reiter einge-
plant. Ebenfalls nicht mehr auf der Kandi-
datenliste vertreten ist wohl Helmut
Schmid, der seit 1984 im Stadtrat sitzt und
zehn Jahre lang, von 1998 bis 2008, Frakti-
onschef der SPD war. Die SPD hat ihre Lis-
te noch nicht final erstellt. Schmid ist aber
bei den Vorreihungen nicht mehr angetre-
ten – obwohl ihm innerparteilich nachge-
sagt wird, sich mit dem Abschied sehr
schwer zu tun. Auch der Gewerkschaftler
Horst Lischka, der gerne im Hintergrund
die Fäden zieht und dem viel Einfluss
nachgesagt hat, hört auf. Viel Expertenwis-
sen geht mit den bisherigen Mandatsträ-
gern Ulrike Boesser (Kommunalaus-
schuss), Hans Dieter Kaplan (Finanzen),
Bettina Messinger (Arbeit und Planung) so-
wie Heide Rieke (Planung) verloren.

Bei den Grünen verabschiedet sich eine
frühere OB-Kandidatin: Sabine Nallinger,
die große Hoffnungsträgerin von 2014. Um
sie war es, als die Grünen plötzlich in die Op-
position mussten, sehr schnell sehr still ge-
worden. Auch der städtische Behinderten-
beaufragte, Oswald Utz, tritt nicht mehr an,
ebenso wie der hartnäckige Planungs-
Nachhaker Herbert Danner, die anerkann-
te Sozialpolitikerin Jutta Koller sowie die
Umwelt-Fachfrau Sabine Krieger. Rechnet
man mit ein, dass schon nach der Landtags-
wahl 2018 so erfahrene Politiker wie Ex-
Bürgermeister Hep Monatzeder und die frü-
here Fraktionsvorsitzende Gülseren Demi-
rel ausgeschieden sind, präsentieren sich
die Grünen nach dem März 2020 als ziem-
lich runderneuerte Truppe. Obendrein
dürfte nach allen Prognosen die neue Frak-
tion deutlich größer sein als die bisherige.
Wer kontroverse Stadtratsdebatten
mag, wird bald Michael Mattar vermissen.
Der FDP-Frontmann, der es geschafft hat,
nach der Wahl 2014 aus seinen Liberalen,
den Piraten und der Wählergruppe Hut ei-
ne Fraktion zu schmieden, ist zwar noch
auf Listenplatz 11 seiner Partei vertreten. Er
selbst rechnet aber nicht mehr mit einem
Einzug ins Rathaus und zeigt auch keiner-
lei Bedauern darüber. Der Unternehmens-
berater Mattar ist seit Jahren immer für Po-

sitionen abseits der Mehrheitsmeinung gut


  • wohl begründet und daher meist auch bei
    der Konkurrenz anerkannt. Mattar, und
    das trifft vermutlich nur auf wenige Münch-
    ner Kommunalpolitiker zu, hat auch schon
    im Stadtrat einer anderen Stadt gewirkt, in
    Mainz nämlich. Von 1979 bis 1984.
    Als kleine Opposition, das hat schon vie-
    le Stadträte frustriert, kann man im Rat-
    haus zumeist nur wenig bewirken. Çetin
    Oraner, Mitglied der zweiköpfigen Gruppe
    der Linken, hat trotzdem unfreiwillig eine
    wesentliche Richtungsentscheidung beein-
    flusst, die sechs Jahre Stadtratsarbeit ge-
    prägt hat. Als nämlich nach der Wahl 2014
    herauskam, dass Oraner Mitglied der DKP
    ist und auf einem offenen Platz der Linken-
    Liste kandidiert hatte, kam für den damals
    frisch gewählten OB Reiter eine Koalition
    aus SPD, Grünen und Linken nicht mehr in
    Frage. Gut möglich, dass dies heute anders
    entschieden würde – der damals im Rat-
    haus noch unbekannte Oraner entpuppte
    sich dann doch nicht als radikaler Ideolo-
    ge, sondern eher als freundlicher und
    durchaus konstruktiv agierender Kollege.
    Auf dem Spitzenplatz ihrer Liste für 2020
    wollten ihn die Linken aber trotzdem nicht
    sehen. Der gescheiterte Bewerber zog dar-
    aufhin seine Kandidatur für eine weitere
    Die Sanierung der Olympia-Regattaanlage Stadtratsperiode zurück.
    wirderheblich teurer als geplant. Laut ei-
    ner Beschlussvorlage, über die der Stadt-
    rat an diesem Mittwoch abstimmt, beläuft
    sich die Summe alleine für den ersten von
    zwei Bauabschnitten auf gut 61 Millionen
    Euro, ein Drittel mehr als ursprünglich ge-
    dacht. Ende 2018 wurde die Anlage unter
    Denkmalschutz gestellt, die Kosten stie-
    gen.sewi  Sport in der Region


von julian hans

V


on der Öffentlichkeit weitgehend
unbemerkt ist in der Verwaltung
dieser schönen Stadt seit Monaten
eine Schlammschlacht im Gange, die die-
sen Namen wirklich verdient. Im Juli hat-
ten Abgeordnete der Grünen im Stadtrat
einen Antrag gestellt, die Landeshaupt-
stadt möge künftig bei Neubau und Um-
gestaltung öffentlicher Spielplätze auf
„naturnahe Gestaltung“ achten. „Statt
vieler Spielgeräte werden die Spielberei-
che ganz als Naturspielplatz oder einzel-
ne größere Bereiche naturnah zum Füh-
len, Riechen, Beobachten und Matschen
gestaltet.“
Ein gutes Ansinnen! Doch kann der
Stadtrat diesem Wunsch leider nicht ent-
sprechen, so ist nun nach nur vier Mona-
ten Fühlen, Riechen und Beobachten aus
dem Rathaus zu erfahren. Nicht etwa,
weil im Stadtrat mehrheitlich Fans von
klinisch reinen Edelstahlkarussellen,
Plastikrutschen und Kunststoffkletter-
türmen sitzen, die auch in ihrer freien
Zeit Anzug tragen und sich den Stoff
nicht fleckig machen mögen, wenn sie
den Nachwuchs zum Auslauf ins öffentli-
che Spielgehege begleiten. Nein, ganz im
Gegenteil, die Landeshauptstadt wird
von bekennenden Naturfreunden und
Sauigeln geführt.
Dass sie dem Begehr ihrer Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen nicht statt-
geben können, hat allein formale Grün-
de. Denn der Antrag betrifft eine laufen-
de Angelegenheit, deren Erledigung laut
Geschäftsordnung dem Oberbürgermeis-
ter obliegt, so heißt es in der Antwort des
Baureferats. „Eine beschlussmäßige Be-
handlung der Angelegenheit im Stadtrat
ist daher rechtlich nicht möglich.“ Füh-
len, Riechen, Beobachten und Matschen
ist in München Chefsache.
Das heißt nicht, dass Dieter Reiter mit
dieser verantwortungsvollen Aufgabe
ganz allein gelassen wird. Die öffentli-
chen Kinderspielplätze würden „grund-
sätzlich unter Beteiligung der Kinder und
Jugendlichen“ gestaltet, erklärt das Bau-
referat. Und der jeweils zuständige Be-
zirksausschuss hat auch noch ein Wört-
chen mitzureden. Zwischenzeitlich hat
sich auch die Gleichstellungsstelle für
Frauen eingeschaltet und die Antwort
des Baureferats um den Hinweis ergänzt,
dass bei der Planung der Spielplätze auch
die „Handlungs- und Planungsempfeh-
lungen zu gendergerechter Spielraumge-
staltung Anwendung“ finden. Ob das im
Zweifel mehr oder weniger Matsch bedeu-
tet, konnte bis Redaktionsschluss nicht
in Erfahrung gebracht werden.


10 °/3°


Das Programm


auf denSeiten


R18 und R19


Diese und manche
andere Politiker werden
dem Münchner Stadtrat
nach der Kommunalwahl
im März nächsten Jahres
nicht mehr angehören:
Christine Strobl von der SPD,
Walter Zöller von der CSU,
Çetin Oraner von der
Linken, Michael
Mattar von der FDP und
Sabine Nallinger von
den Grünen (von links oben
im Uhrzeigersinn).
FOTOS: ROBERT HAAS, FLORIAN PELJAK,
STEPHAN RUMPF (2), PRIVAT

Zäsur im Stadtrat


Ganz gleich,wie die Kommunalwahl im März 2020 ausgeht, schon jetzt steht fest: In der Riege der Münchner Politiker werden viele Menschen
nicht mehr vertreten sein, welche die Politik der Stadt in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten geprägt haben

Kostenexplosion bei


Olympia-Regattaanlage


NR. 256,MITTWOCH, 6. NOVEMBER 2019 PGS


Charme und Chuzpe


Gisela Schneeberger und


Gerhard Polt bezaubern


die Gäste beim Filmpreis


 Leute, Seite R8

Ihr Lokalteil auf Tablet und Smart-
phone:sz.de/zeitungsapp

„Kunst schafft einen Raum zur Veränderung der Welt“


„Die Vielen“, ein Bündnis aus Münchner Kulturschaffenden, veranstaltet eine Aktionswoche für Vielfalt und Toleranz – samt Workshops und Marathonlesung


Vielfalt – das bedeutet für die
Veranstalter nicht nur Herkunft,
sondern auch Inklusion

Kino & Theater


MÜNCHNER MOMENTE

Schlammschlacht


um dieSpielplätze


K


O


M


M


U


N


A
LW

AHLEN (^20)
(^20)
FOTOS: SEBASTIAN GABRIEL
Wahrscheinlichkeit und Wahrheit
Im Bayern-Ei-Prozess geht es darum,
ob derTod eines 94-Jährigen mit den
kontaminierten Produkten zu tun hat
 Bayern, Seite R15
DAS WETTER

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