Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1
Es gehört zu den seltsameren Traditionen
des britischenUnterhauses, dass zwei Ab-
geordnete den neuen Sprecher, der ja
doch zuvor kandidiert und damit seine Be-
reitschaft für den neuen Job kundgetan
hatte, nach der Wahl regelrecht auf sei-
nen Stuhl am Kopf des Sitzungssaals in
Westminster zerren müssen. Als würde er
sich weigern, die Aufgabe zu übernehmen
und müsse gezwungen werden.
Dabei hatte Lindsay Hoyle, der am Mon-
tagabend aus sieben Bewerbern nach
mehrstündigem, aufwendigem Prozede-
re zum 158. Parlamentssprecher des Verei-
nigten Königreichs gewählt wurde, seine
Kür sorgsam vorbereitet. Er hatte Wahl-
kampf in den Büros und Restaurants des
Parlaments betrieben, hatte seine Unter-
stützer – jeder Bewerber für das hohe
Amt braucht die Unterstützung mehrerer
Abgeordneter –, sorgsam ausgesucht, hat-
te sich in der Bewerbungsrede nicht zu
viel und nicht zu wenig distanziert von sei-
nem Vorgänger, dem so umstrittenen wie
mittlerweile legendären John Bercow.
Und war außerdem, was nicht vernachläs-
sigt werden darf in dieser Aufzählung,
schon seit 2010 Stellvertreter von Bercow
gewesen. Er kannte den Job also und wuss-
te, worauf er sich einließ.
Sir Lindsay war vor der Wahl Favorit ge-
wesen; dass die Kür dann am Montag
trotzdem bis in den Abend dauerte und
mehrere Wahlgänge brauchte, führen
manche Beobachter darauf zurück, dass
sich dieses Parlament, wie auch Premier
Boris Johnson nicht müde wird zu beto-
nen, so ziemlich auf gar nichts einigen
könne. Andererseits ist die Rolle des Parla-
mentssprechers, wie seit dem Brexit-Refe-
rendum 2016 zu besichtigen war, so emi-
nent wichtig für den demokratischen Pro-

zess im Land, dass seine Kollegen wohl zu
Recht allen Bewerbern kritisch zugehört,
die Reden abgewogen und schließlich für
den Mann gestimmt haben, der Wandel
versprach, aber keine Revolution.
Der Abgeordnete des Wahlkreises Chor-
ley, der am Tag seiner Wahl – wie das üb-
lich ist – die Labour-Mitgliedschaft ru-
hend stellte, um seine Unabhängigkeit zu
demonstrieren, betonte dann auch umge-
hend, er wolle einiges ändern. Vor allem
wolle er dafür sorgen, dass das Hohe Haus
wieder in der ganzen Welt respektiert wer-
de, und dass Toleranz und Respekt domi-
nierten. Danach zollte er seiner Familie

Respekt. Seine 28-jährige Tochter Natalie
hatte sich vor einem Jahr das Leben ge-
nommen; Hoyle bekannte unter Tränen,
wie sehr er sie vermisse.
Der Nachfolger von John Bercow tritt ei-
nerseits ein schweres Erbe an, denn der
Streit über den Brexit wird auch im neuen
Parlament weitergehen. Viele Kollegen er-
warten vom neuen Sprecher, dass er die
Ausweitung der Mitspracherechte, die
Bercow zum Missfallen der Regierung ein-
gefordert hatte, nicht kampflos aufgibt.
Andererseits wurde Hoyle gewählt, weil
er zurückhaltender und konzilianter ist –
und verspricht, den Job weniger zu einer
Personality-Show zu machen.
Schon sein Vater war Parlamentsabge-
ordneter gewesen, er selbst hatte vor der
Karriere im Gemeinderat und später im
Unterhaus eine Firma für Siebdrucke be-
trieben. Nun liegt vor dem 62-jährigen Po-
litiker eine komplexe Aufgabe. Der Think
Tank Institute for Government listet auf,
der neue Sprecher müsse als Schiedsrich-
ter zwischen Downing Street und Unter-
haus agieren und ein zunehmend selbst-
bewussteres Parlament einhegen. Zudem
müsse er endlich dem Vorwurf nachge-
hen, in Westminster herrsche ein Klima
von Einschüchterung und Mobbing. Und
dann ist da noch das Großprojekt, den Par-
lamentsumzug und die umfassende Reno-
vierung des historischen Westminster-Pa-
lasts zu betreuen.
Eines aber muss Hoyle in den kommen-
den Wochen nicht tun: Wahlkampf füh-
ren. Es ist dem Wahltermin geschuldet,
dass das Parlament just einen Tag vor sei-
ner Auflösung einen neuen Sprecher wähl-
te, aber immerhin: Die Konkurrenz stellt
gegen den amtierenden Sprecher keinen
Kandidaten auf. cathrin kahlweit

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von daniel bössler

Ü


ber den Zustand der deutschen Au-
ßenpolitik ist schon ziemlich viel
gesagt, wenn ihr zunächst der Vor-
sitzende des Auswärtigen Ausschusses ei-
nen Totalausfall attestiert und wenig spä-
ter auch der Außenminister feststellt, sie
sei beschädigt. Zu klären bleibt da nur
noch die Schuldfrage. Während der Vor-
sitzende des Auswärtigen Ausschusses
und CDU-Politiker Norbert Röttgen in
der Weltpresse mit dem Finger auf den
Außenminister und die Kanzlerin zeigt,
tadelt Außenminister Heiko Maas von
der SPD die Verteidigungsministerin und
nebenberufliche CDU-Vorsitzende Anne-
gret Kramp-Karrenbauer für ihre einsa-
me Syrien-Initiative. Die große Koalition
hat offenkundig ein Stadium der Zerrüt-
tung erreicht, in dem sie sich vor der Welt
nicht mehr geniert.
Wäre es nur dies, so handelte es sich
um ein ärgerliches, aber vergleichsweise
leicht zu behebendes Problem. Mit einer
neuen Koalition, einer neuen Regierung
und vor allem neuem Personal könnte es
verschwinden. Die scharfe Kritik an Hei-
ko Maas zuletzt nicht mehr nur aus der
Opposition, sondern auch aus der Union,
soll nun den Schluss nahelegen, dass mit
einem anderen Außenminister schon viel
gewonnen wäre. Dahinter steckt neben
parteipolitischem Kalkül auch die Sehn-
sucht nach einem Genscher, einem Fi-
scher oder zur Not einem Gabriel. Maas
wird ungenügende Initiative, fehlende
Präsenz und mangelnder Mut unter-
stellt.
Richtig ist, dass Maas mitunter getrie-
ben wirkt. So hat er sich erst dann nach
Ankara auf den Weg gemacht, nachdem
ihn Kramp-Karrenbauer mit ihrer Solo-
Initiative für eine UN-Schutzzone in
Nordostsyrien in eine unmögliche Lage
gebracht hatte. Dass er den innenpoliti-
schen Streit dann auch noch in der Türkei

austrug, war ein schwerer Patzer. Unge-
recht aber wäre es, dem Außenminister
Untätigkeit vorzuwerfen. An den letztlich
vergeblichen Rettungsarbeiten für den
Atomdeal mit Iran hat er sich ausgiebig
beteiligt. In die Bemühungen der Kanzle-
rin, den Friedensprozess für die Ukraine
wieder in Gang zu bringen, ist er einge-
bunden. Seine Initiative für eine Allianz
der Multilateralisten nimmt zumindest
Gestalt an. Es ist legitim, deutlich mehr
zu erwarten, aber gleichzeitig müsste
dann auch gesagt werden, worin diese Er-
wartung besteht. Soll der deutsche Au-
ßenminister gegen Trump und Mullahs
den Atomdeal retten? Soll er Russen und
Türken in Syrien die Stirn bieten?

So groß das Einsatzgebiet des Außen-
ministers ist, so klein ist sein Handlungs-
spielraum. Er könnte größer werden,
aber nicht durch breitbeiniges Auftreten,
sondern nur durch mehr Gewicht
Deutschlands in der weltpolitischen
Waagschale. Hier, nicht im Hickhack ei-
ner untergehenden Koalition, liegt die ei-
gentliche Krise der deutschen Außenpoli-
tik begründet. 30 Jahre nach dem Fall der
Mauer befindet sie sich in einem Schwe-
bezustand. Sie hat zwar zur Kenntnis ge-
nommen, dass die Welt sich anders entwi-
ckelt hat als damals erträumt, erweist
sich aber bislang als unfähig, daraus Kon-
sequenzen zu ziehen. Dabei müsste spä-
testens aus dem Entsetzen über den
Rückzug der USA aus internationaler
Verantwortung die Bereitschaft folgen,
zusammen mit anderen Europäern, vor
allem den Franzosen, beherzt zumindest
einen Teil der Lücke füllen. Für einen
deutschen Außenminister gäbe es dann
in der Tat viel zu tun.

von christina kunkel

D


er Kunde springe noch nicht, be-
schrieb der Chef eines Elektrofahr-
zeugherstellers diesen Sommer
die Lage am deutschen Elektroauto-
markt. Strom predigen und Diesel tanken,
so verfahren ist das, was deutsche Auto-
käufer immer noch tun. Die Bundesregie-
rung versucht fast verzweifelt, auf immer
neuen Autogipfeln mit immer neuen Mas-
terplänen die Autofahrer weg von der
Zapf- und hin zur Ladesäule zu bewegen.
Jetzt kommt der nächste Versuch: Mehr
Ladepunkte und höhere Prämien sollen
helfen. Auch dies wird nicht fruchten.
Denn vielen Menschen erschließt sich
nicht, warum sie ihren Verbrenner gegen
ein Elektroauto tauschen sollten. Man
kann ihnen diese Skepsis nicht verübeln.
Natürlich ist es wichtig, dass man sei-
nen Wagen laden kann. Aber das könnten
heute schon viele Menschen in ihrer Gara-
ge. Mehr als 16 Millionen Einfamilienhäu-
ser gibt es in Deutschland – all diese Be-
wohner müssten sich wenig kümmern
um öffentliche Ladesäulen. Außer viel-
leicht, wenn sie zweimal im Jahr in Urlaub
fahren. Aber an den Schnellstraßen ist das
Ladenetz schon jetzt ziemlich dicht.
Doch es kommt nicht nur auf die Zahl
der Ladepunkte an. Das Stromtanken
muss so einfach sein wie das Benzintan-
ken. Es muss funktionieren, mit einer ein-
zigen App oder Ladekarte, einem transpa-
renten Preissystem – und wenn die Säule
kaputt ist, muss sie schnell repariert wer-
den. Was banal klingt, ist derzeit für die ge-
ringe Zahl der E-Autofahrer oft das größte
Ärgernis. Warum soll man sich das also oh-
ne Not antun?
Dabei ist der Ansatz richtig, die Auto-
hersteller beim Aufbau der Ladeinfra-
struktur in die Pflicht zu nehmen. Tesla
macht mit funktionierenden Ladesäulen
und klaren Strompreisen vor, wie es geht.
Doch damit das Ziel von zehn Millionen

E-Autos im Jahr 2030 mehr als Wunsch-
denken ist, fehlt weiter ein entscheiden-
der Anreiz: Die Bundesregierung müsste
ein Enddatum für Verbrennungsmotoren
beschließen. So lange Politiker immer
noch von Technologie-Offenheit und
Wunderkraftstoffen schwadronieren,
gleichzeitig der Benzinpreis zunächst nur
marginal steigt und Diesel weiter subven-
tioniert wird, denken sich viele Autofah-
rer: Weiter so! Auch deshalb, weil sie im
Abgasskandal erfahren mussten, dass auf
Aussagen von Politikern und Auto-Bossen
wenig Verlass ist.

Prämien oder Steuervorteile sind nur
dann ein echter Anreiz, wenn sie das E-Au-
to in der Anschaffung und im Betrieb deut-
lich günstiger machen als einen Ver-
brenner. Dies ist zum Beispiel in Norwe-
gen der Fall. Dort fährt mittlerweile jedes
zweite neu zugelassene Auto elektrisch.
Bei der Umweltprämie in Deutschland
wird zudem außer Acht gelassen, dass
sich Privatleute oft keinen Neuwagen son-
dern ein Gebrauchtfahrzeug kaufen. Dar-
auf gibt es den Staatsbonus nicht mehr –
und schon ist das Batteriefahrzeug wieder
im Nachteil gegenüber einem gut erhalte-
nen Diesel oder Benziner. Darüber hinaus
existiert bislang nur ein sehr kleiner Ge-
brauchtwagenmarkt für E-Autos.
So lange den Regierungsverantwortli-
chen der Mut fehlt, den Verbrenner mit al-
len Konsequenzen zu beerdigen, werden
weiter zu wenig Autokäufer umschalten.
Das zeigen die Zahlen: Obwohl zuletzt
deutlich mehr Menschen in Deutschland
ein E-Auto kauften, ist der durchschnittli-
che CO 2 -Ausstoß der neu zugelassenen
Fahrzeuge 2019 mit 157,5 g/km noch ge-
nauso hoch wie ein halbes Jahr zuvor.

G


roß ist die Prüfung, die der CDU be-
vorsteht, und dabei geht es um
weit mehr als um politische Macht-
fragen. Unter ihren Mitgliedern sehen
manche die AfD als möglichen Partner.
Diese Stimmen sind besonders vernehm-
lich im Osten, wie jetzt in Thüringen. Bei
einigen steckt Naivität dahinter. Sie las-
sen sich von der Fassade blenden, als wäre
ein gut geschnittener Tweedanzug schon
ein Ausweis von Bürgerlichkeit. Bei ande-
ren scheint inhaltliche Nähe zur Rechtsau-
ßen-Partei durch. In jedem Fall ist die Of-
fenheit besorgniserregend, nicht nur für
die CDU, sondern für die Demokratie.
Denn diese Offenheit ignoriert alles,
wofür die AfD steht als eine Partei, die ih-


ren Erfolg auf dem Schüren von Ressenti-
ments aufbaut. Eine Partei, die sich über
ihre erbitterte Ablehnung der offenen Ge-
sellschaft definiert, wie sie gerade die
CDU maßgeblich mitgeprägt hat.
Wer glaubt, die AfD durch Zusammen-
arbeit einbinden zu können, muss ge-
schichtsblind sein: Parteien wie diese wol-
len sich nicht mäßigen. Kräfte mit Maß
und Mitte haben bei ihnen keine Chance.
Ihre Anführer wie der Extremist Björn Hö-
cke wollen gar nicht gestalten. Sie wollen
ein anderes Land und die CDU übrigens
auf dem Weg dorthin ersetzen. „Irre“
nannte deren Generalsekretär jetzt jede
Offenheit zur AfD. Das ist sie, und brand-
gefährlich dazu. jens schneider

V


öllig zu Recht hat sich der Europäi-
sche Gerichtshofs (EuGH) am
Dienstag hinter die Unabhängigkeit
der polnischen Richter gestellt. Es ist
weder das erste Urteil, noch wird es das
letzte sein, mit dem der EuGH Polens „Jus-
tizreform“ als Gefährdung, ja Beseitigung
des Rechtsstaates anprangert. Allerdings
macht die Regierung in Warschau damit
trotzdem weiter. Kürzlich bekräftigte der
faktische Regierungschef Jarosław
Kaczyński, er wolle die Gerichte als letzte
Bastion der Unabhängigkeit schleifen.
Als erstes zementierte der Chef der
regierenden PiS-Partei nach der von ihm
gewonnenen Parlamentswahl vom Okto-
ber die Parteikontrolle über das ohnehin


nur noch als Attrappe vorhandene Ver-
fassungsgericht. Dorthin werden bald
zwei üble Handlanger Kaczyńskis bei den
Angriffen auf den Rechtsstaat geschickt:
der allen Regimen dienstbare Ex-Staats-
anwalt Stanisław Piotrowicz und die Jura-
dozentin Krystyna Pawłowicz, die die EU-
Fahne als Lumpen bezeichnet hat.
Mit beider Nominierung zeigt die Regie-
rung in Warschau der EU symbolisch den
Mittelfinger und macht klar, wie wenig sie
EuGH-Urteile interessieren. Und solange
die EU nicht die einzig wirksame Waffe
ihres Arsenals nutzt – das Einfrieren oder
Streichen von Fördermilliarden –, wird
Kaczyński damit fortfahren, den Rechts-
staat zu demontieren. florian hassel

E


s war ein diplomatischer Coup, der
den Franzosen im März gelungen
ist. Als Chinas Staats- und Partei-
chef Xi Jinping sich zu seiner Europareise
aufmachte, traf er in Paris plötzlich nicht
nur auf seinen französischen Amtskolle-
gen Emmanuel Macron, sondern auch auf
Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-
Kommissionspräsident Jean-Claude Jun-
cker. Die deutliche Botschaft an Peking:
Europa ist geeint und spricht mit einer
Stimme. Das war ein starkes Signal.
Diesen Ansatz wollte Macron nun wie-
derholen, ein wenig zu eifrig. Bundesbil-
dungsministerin Anja Karliczek und EU-
Landwirtschaftskommissar Phil Hogan
flogen mit ihm in der französischen Präsi-


dentenmaschine nach Shanghai. Doch sie
endeten als Staffage einer Propaganda-
show, Chinas großer Importausstellung
nämlich. Zu sehen ist dort ein Potpourri
wie früher auf der Leipziger Herbstmesse,
mit einem Unterschied: Hersteller und Wa-
ren aus China sucht man in den Messehal-
len vergebens. Es geht einzig und allein
darum, der Welt zu zeigen, dass die USA
im Handelskrieg überziehen. Handels-
bilanzüberschuss? Aber nein, schaut euch
an, was wir alles importieren!
In Berlin hatte man, zu Recht, überlegt,
niemanden aus der ersten Reihe zu schi-
cken, um diese absurde Messe nicht aufzu-
werten. Doch am Ende war das Werben
aus Paris stärker. christoph giesen

W


er einen Umsturz ersehnt
hatte, den haben die Ver-
fassungsrichter am Diens-
tag sicher maßlos ent-
täuscht. Ja, es ist verfas-
sungswidrig, Langzeitarbeitslosen die
staatliche Unterstützung ganz oder zu
sehr großen Teilen zu streichen. Bis zu ei-
ner gewissen Grenze aber bleiben die um-
strittenen Hartz-IV-Sanktionen zulässig.
Damit liegt das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts ziemlich genau in der Mitte
zwischen den Extrempositionen. Die Rich-
ter geben weder denen recht, die eine
sanktionsfreie Grundsicherung wollen,
noch jenen, die drakonische Strafe für den
einzig richtigen Anreiz halten.
Das weit verbreitete Unbehagen gegen-
über drastischen Leistungskürzungen ist
der Faden, aus dem die bald eineinhalb
Jahrzehnte schwelende Hartz-IV-Debatte
gewebt ist. Kaum etwas bringt die Gegner
des Grundsicherungswesens so in Rage
wie die mehr als 900 000 Sanktionen, die
etwa im vergangenen Jahr verhängt wur-
den. Viele haben das Gefühl, es könne
nicht recht sein, denen, die viel verloren ha-
ben, auch noch das Wenige zusammenzu-
streichen, was ihnen geblieben ist. Die Ver-
fassungsrichter haben dem System nun ei-
nen Teil seiner Härte genommen. Im
Grundsatz aber haben sie es bestätigt, das
Fundament nicht ins Wanken gebracht. Ist
das ein Skandal? Nein, mitnichten.


Wer in Deutschland Hilfe braucht,
muss meist sehr viele Seiten Papier ausfül-
len, Nachweise erbringen und seine per-
sönliche Lebenssituation darlegen. Der
Staat hat viele Fragen. Eine aber spielt kei-
ne Rolle: die Schuldfrage. Es ist egal, war-
um jemand in Not ist – die Solidargemein-
schaft hilft so oder so. In der Grundsiche-
rung wurde dafür jedoch eine Gegenleis-
tung verankert. Wer seinen Lebensunter-
halt nicht selbst bestreiten kann, muss
mithelfen, aus dieser misslichen Lage wie-
der herauszukommen. Dass das nicht zu-
viel verlangt ist, haben nun auch die Ver-
fassungsrichter klargestellt.
Wie dieses Mithelfen auszusehen hat,
ist im Regelwerk der Jobcenter detailreich
festgehalten. Langzeitarbeitslose müssen
zu Terminen erscheinen und bereit sein,
sich weiterzubilden, einen Job oder eine
Arbeitsmarktmaßnahme anzunehmen.
Halten sie diese Regeln nicht ein, müssen
sie mit weniger Geld auskommen.
Es ist gut, dass in Karlsruhe eine klare
Linie gezogen wurde, die der Staat nicht
mehr überschreiten darf. Die Grenzzie-


hung der Richter stellt klar, dass nie-
mand, der „Fördern und Fordern“ sagt,
Überfordern mitmeinen darf. Hinzu
kommt, dass die Sinnhaftigkeit beson-
ders rigider Leistungskürzungen ohnehin
bezweifelt werden darf. Irgendwann näm-
lich sind sie nicht mehr Anreiz, möglichst
schnell wieder auf eigenen Füßen zu ste-
hen, sondern vielmehr die Wegmarke, an
der Betroffene sich endgültig abwenden
und unerreichbar werden für jene, die ih-
nen helfen können und wollen.
Genauso gut aber ist es, dass die Verfas-
sungsrichter nicht den Weg gewiesen ha-
ben in eine bedingungslose Grundsiche-
rung – und damit in ein bedingungsloses
Grundeinkommen. So viele enthusiasti-
sche Befürworter diese Idee auch hat: Sie
ist nicht nur enorm teuer und verlangt de-
nen, die sie finanzieren sollen, ein fragwür-
diges Maß an Solidarität ab, sondern sie
ist letztlich auch eine Bankrotterklärung.
Denn in unserer Gesellschaft hat Arbeit
einen hohen Stellenwert. Arbeit bedeutet,
es für sich und seine Familie selbst zu
schaffen, Neues lernen zu können, Men-
schen um sich haben. Wer Arbeit hat, der
hat etwas, über das er sich am Abendbrot-
tisch herrlich empören und genauso herrli-
che Heldengeschichten erzählen kann.
Manche mögen es grundfalsch finden, der
schnöden Arbeit derart viel Raum zu über-
lassen in einer Gesellschaft. Die meisten
Menschen aber sehen das anders. Die vor-
nehmste Rolle der Politik ist deshalb nicht
die des barmherzigen Versorgers, son-
dern die des entschlossenen Möglichma-
chers. Der enorme Rückgang der Arbeits-
losigkeit in den vergangenen Jahren zeigt,
dass dies mit den Hartz-Reformen – wenn
auch nicht alleine mit ihnen – durchaus in
Teilen gelungen ist.
Natürlich ist trotzdem nicht alles gut.
Kinder etwa haben im Hartz-IV-System
nichts verloren. Jobcenter-Mitarbeiter
müssen nach wie vor zu viel Arbeitszeit
mit Papierkram verbringen. Arbeitslose
sollten leichter als heute eine komplette
Ausbildung machen dürfen, auch wenn
das länger dauert als die Vermittlung in ir-
gendeinen Job. Für Alleinerziehende
müssten Teilzeitausbildungen flächende-
ckend möglich sein. Denkbar wäre auch
ein großzügigerer Umgang mit den Er-
sparnissen derjenigen, die lange gearbei-
tet haben und erst spät im Leben arbeits-
los werden.
Das Urteil der Verfassungsrichter kann
nicht alles richten, was in mehr als 14 Jah-
ren Hartz IV schief zusammengewachsen
ist. Der Richterspruch aber birgt die Chan-
ce, einen eskalierten Konflikt zu befrie-
den und grundlegende Missstände zu hei-
len. Sollte die Regierung sich als unfähig
erweisen, diese Gelegenheit zu ergreifen,
wäre das grob fahrlässig.

Digitalisierung ist überall.
Im Bundeskanzleramt gibt
es dafür eine eigene Staatsmi-
nisterin, die Bundesregie-
rung hat eine „Digitalstrate-
gie“, es gibt einen „Digitalrat“. Dabei ist
nicht immer ganz klar, was außer dem
(sehr ausbaufähigen) Breitbandausbau ei-
gentlich noch gemeint ist. Künstliche In-
telligenz, Big Data, digitale Verwaltung?
Irgendwas mit Computer eben. Fast alles
soll irgendwann mit Computern steuer-
und machbar sein. Damit das klappt, hat
die Bundesregierung als ein großes Ziel
die Stärkung der Digitalkompetenz der
Bürger ausgegeben. Klar, wer den
Umgang mit digitalem Gerät nicht be-
herrscht, gerät in einer digitalen Gesell-
schaft ins Hintertreffen. Zumindest bei
deutschen Schülerinnen und Schülern
scheint die Digitalkompetenz halbwegs in
Ordnung zu sein, wie eine internationale
Vergleichsstudie zeigt. Dabei liegen die
deutschen Achtklässler auf Rang vier, vor
Frankreich und Italien, hinter Dänemark.
Um die im Durchschnitt 518 Punkte zu er-
reichen und damit auf Kompetenzlevel
zwei zu landen, mussten die 13- bis 14-Jäh-
rigen unter anderem wissen, dass unter-
schiedliche Zeichenarten die Passwortsi-
cherheit erhöhen, und den Unterschied
zwischen Werbung und Suchergebnissen
bei Suchmaschinen erkennen. Ob die El-
tern ähnlich gut abgeschnitten hätten,
wurde leider nicht geprüft. mxm

4 HF2 (^) MEINUNG Mittwoch,6. November 2019, Nr. 256 DEFGH
FOTO: REUTERS
AUSWÄRTIGE POLITIK


Schwebezustand


ELEKTROAUTOS

Alles beim Alten


AFD

Gefährliche Naivität


POLEN

Rechtsstaat in Trümmern


CHINA

Große Propagandashow


Subventionierter Energieschub sz-zeichnung: pepsch gottscheber

HARTZ IV


Faire Hilfe


von henrike roßbach


AKTUELLES LEXIKON


Digitalkompetenz


PROFIL


Lindsay


Hoyle


Neuer Sprecher
im britischen
Unterhaus

30 Jahre nach dem Fall der
Mauer haben die Deutschen
ihre Rolle noch nicht gefunden

Mehr Ladepunkte und Prämien
reichen nicht, solange die
Verbrenner eine Zukunft haben

Die Verfassungsrichter mildern


zu Recht die Sanktionen ab,


ohne sie ganz aufzuheben

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