Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1

Berlin –Das Dokumententhält 13 Frage-
zeichen und einen Medizinschrank voller
ungelöster Konflikte. Die Materie ist sensi-
bel, jedenfalls für die Grünen.
„Wie definieren wir den Wissenschafts-
begriff in der Medizin?“
„Wie beurteilen wir positive Effekte auf
den Gesundheitszustand, die durch eine
Behandlung mit Placebo hervorgerufen
werden?“
„Welche Rolle soll künftig die sprechen-
de Medizin einnehmen?“
Nur drei von vielen offenen Fragen sind
das, sie finden sich in einem Kompromiss-
papier zum Thema Homöopathie, auf das
sich Grüne aus Bund und Ländern nun ver-
ständigt haben. Nach wochenlangem
Streit will die Partei demnächst eine Kom-
mission einsetzen, die klärt, wie die grüne
Partei zu homöopathischen Kügelchen
und Behandlungen steht.
Hokuspokus oder sinnvolle Komple-
mentärmedizin? Das Thema ist für die Grü-
nen zum Generationenkonflikt geworden.
Nicht wenige Parteigründer haben der
ganzheitlichen Medizin den Weg gebahnt,
als Alternative zur Schulmedizin. Das Zu-
ckerkügelchen fürs kranke Kind gehört in
grünlichen Familien so selbstverständlich
in die Hausapotheke wie Salz in den Kü-
chenschrank. Unverhofft für die Partei al-
lerdings, und kurz vor dem Bundespartei-
tag Mitte November gab es Krach.
Denn die Grünen pochen gern und
strikt auf wissenschaftliche Erkenntnisse,
etwa in Klimafragen. Bei der Wirkung ho-
möopathischer Substanzen hingegen wird
auf Nachweisbarkeit großzügig verzichtet.
Gerade jüngere Parteimitglieder und Kli-


maaktivisten gehen da nicht mehr mit. Die
Grüne Jugend hat Globuli für Unfug er-
klärt. Die Leipziger Ärztin Paula Piechotta,
die schon beim Grünen-Parteitag 2017 auf-
muckte, warnte auf Twitter vor „Verschwö-
rungstheorien, Esoterik&Wissenschafts-
feindlichkeit“. Es sei nicht einzusehen, fin-
den auch andere, warum solidarisch finan-
zierte gesetzliche Krankenkassen Kosten
für Globuli erstatten sollten, wo Geld zur
Erstattung von Brillen fehle, im Gesund-
heitswesen strukturschwacher Regionen
oder für Patienten, die medizinisch benach-
teiligt sind: Frauen, Alte, Menschen mit Be-
hinderung. Einige Ärzte bei den Grünen
hielten dagegen, forderten „Therapiefrei-
heit“ und Vielfalt von Behandlungen.

Der Streit ist so schnell so garstig gewor-
den, dass der grüne Bundesvorstand einge-
schritten ist. Eine verbale Saalschlacht
beim bevorstehenden Bundesparteitag
sollte vermieden werden. Schließlich wol-
len sich Mitte November die Bundesvorsit-
zenden Annalena Baerbock und Robert Ha-
beck wiederwählen lassen, gern ohne stö-
rende Begleitmusik junger Delegierter.
Man hat also verhandelt – und die Sache
nun vertagt, auf den übernächsten Partei-
tag. Bis dahin soll eine Expertenkommissi-
on viele offene Fragen klären. Ihr Arbeits-
auftrag folgt im Konsenspapier einer ent-
schlossenen Zickzacklinie. „Grüne
Gesundheitspolitik bekennt sich ausdrück-
lich zum Selbstbestimmungsrecht der Pati-
ent*innen“, heißt es. Ziel sei „Therapiefrei-
heit der Behandelnden“. Gleichzeitig stre-
be die Partei ein Gesundheitssystem an,
„das noch stärker als heute seine medizini-
schen, therapeutischen und pflegerischen
Leistungen auf ihre Wirksamkeit, Notwen-
digkeit und Zweckmäßigkeit prüft“.
Wo jeder Kurs fehlt, muss eine Kommis-
sion her, meinen Spötter. Kordula Schulz-
Asche beurteilt das anders. „Ich sehe diese
Kommission als große Chance, grundsätzli-
che ethische Fragen in der Medizin zu
adressieren“, sagte die Gesundheitsexper-
tin der Bundestagsgrünen. Statt sich in ei-
ne hitzige Parteitagsdebatte zu stürzen,
müsse die Partei „profunde Antworten“
finden auf Fragen evidenzbasierter oder
personalisierter Medizin. Zu klären sei
aber auch, ob schon Gespräche heilen
könnten, also Hausärztinnen und -ärzte
besser bezahlt werden sollten, die sich Zeit
für Patienten nehmen. Problem vertagt,
auch Bundesgeschäftsführer Michael Kell-
ner zeigte sich erleichtert. „Der Komplexi-
tät des Themas werden wir nur gerecht,
wenn wir uns die nötige Zeit nehmen“, sag-
te er. constanze von bullion

von ralf wiegand

Bremerhaven– Eswar, sagt Melf Grantz,
„ein lang gehegter Wunsch“ – und das
kann man wirklich gut verstehen: Wer wür-
de sich nicht wünschen, dass mit einem
Schlag alle Schulden verschwinden, gleich-
sam über Nacht, einfach so? Im Falle des
SPD-Politikers Melf Grantz geht dieser
Wunsch tatsächlich bald in Erfüllung,
nicht für ihn persönlich, aber für ihn als
Oberbürgermeister der sehr hoch verschul-
deten Stadt Bremerhaven. Die Nacht der
Nächte wird die kommende Silverster-
nacht sein. Wenn die Korken knallen, wer-
den 1,7 Milliarden Euro aus den Büchern
der Kommune verschwunden sein, über-
nommen vom Land Bremen. Einfach so.
Das kleine Bundesland Bremen im Nord-
westen der Republik ist ein kompliziertes
Gebilde, komplizierter noch als die ande-
ren Stadtstaaten Hamburg und Berlin.
Denn Bremen ist ein Zwei-Städte-Staat, be-
stehend aus dem großen Bremen und, gut
70 Kilometer weserabwärts gelegen, dem
viel kleineren Bremerhaven. Dazwischen
erstreckt sich jede Menge Niedersachsen,
das ist schon ein Teil des Problems. Mehr
als 50 Prozent der Arbeitsplätze in Bremer-
haven sind an Pendler aus dem niedersäch-
sischen Umland vergeben, dort zahlen sie
auch ihre Steuern. In Bremen ist die Lage
ähnlich. Solange das noch anders war und
die Steuern am Arbeitsort gezahlt wurden,
also bis in die 1970er-Jahre, war das heute
so klamme Bremen im Länderfinanzaus-
gleich sogar ein Geberland für ärmere Län-
der wie etwa Bayern. Lange her.


„1,7 Milliarden sind wirklich kein Pap-
penstiel“, sagt Melf Grantz jetzt und fügt
an: „Sie glauben ja gar nicht, wie entschei-
dend das sein wird für die Außenwahrneh-
mung Bremerhavens.“ Tatsächlich ist die
118000-Einwohner-Stadt an der Unterwe-
ser viele Jahre lang ein Synonym gewesen
für darbende Städte. Große Werften sind
untergegangen und mit ihnen gut 8000 in-
dustrielle Arbeitsplätze; der globalisierte
Fischfang hat die Seestadt hart getroffen,
ebenso der Abzug der Amerikaner 1994:
Mehr als 3000 Angehörige der US-Streit-
kräfte waren in „Fishtown“ Bremerhaven


stationiert. Als sie gingen, verschwanden
allein tausend zivile Arbeitsplätze.
Gestiegen sind dafür jahrelang die Aus-
gaben für Sozialhilfe. Wenn Bremerhaven
mal wieder für einen Moment sogar mehr
Arbeitslose zählte als Gelsenkirchen, muss-
te Grantz das erklären. Und wenn Reporter
auf der Suche nach Armut durchs Land
streiften, steuerten sie ganz sicher Bremer-
haven an, die pro Kopf am höchsten ver-
schuldete Kommune Deutschlands. „Die-
ses Stigma loszuwerden“, hofft Grantz, wer-
de das Lebensgefühl in der Stadt ebenso
verändern wie den Blick auf die Stadt.
Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch
bei elf Prozent, „aber wir kommen von
25 Prozent“, wie der Oberbürgermeister er-
klärt, und der demnächst auf null bereinig-
te Schuldenstand soll die freie Sicht auf
das ermöglichen, was sich am nordwestli-
chen Rand der Republik sonst noch tut. In-
zwischen gibt es dort mehr Arbeitsplätze
in der Wissenschaft als im Schiffsbau, das
Gesundheitswesen der Stadt arbeitet
profitabel, der Tourismus wächst. Drei
neue Schulen sind in Planung, die Hoch-
schule soll auf die doppelte Kapazität wach-
sen, und Bremerhaven, Sitz des weltweit
renommierten Alfred-Wegener-Instituts,
plant in Zeiten des Klimawandels und der
Energiewende großzügige Gewerbeflä-
chen für die „Green Economy“.
Die Übernahme der Schulden durch das
Land entlastet die Kommune spürbar, al-
lein 2020 wären knapp 50 Millionen Euro
für Zins und Tilgung fällig gewesen. Bun-
desweit ächzen die Stadtkämmerer unter
der Last der sogenannten Kassenkredite,
die, wie der Deutsche Städtetag im August
bemerkte, „eine gewaltige Dimension“ an-
genommen hätten. 42 bis 48 Milliarden Eu-
ro, so verschiedene Schätzungen, soll die
Gesamthöhe betragen. Das Kölner Institut
der Deutschen Wirtschaft hat in einem Re-
port vom Juli daher empfohlen: „Eine Alt-
schuldentilgung durch Land und Bund ver-
knüpft mit Vorgaben für die kommunale
Haushaltskonsolidierung könnte für in fi-
nanzielle Schieflage geratene Kommunen
ein Weg sein, verloren gegangenen Hand-
lungsspielraum zurückzugewinnen.“
Genau das passiert nun in Bremen. Na-
türlich würden sich die 1,7 Milliarden Schul-
den „nicht in Luft auflösen“, sagt der Fi-
nanzsenator des Landes, Dietmar Strehl
(Grüne). Sollte der Bund tatsächlich beson-
ders belasteten Kommunen beim Abbau
von Altschulden über einen Finanzierungs-

fonds helfen wollen, wie es Finanzminister
Olaf Scholz (SPD) angeblich plant, könnte
sich das Land Bremen vielleicht einen Teil
der nun zunächst von Bremerhaven über-
nommenen Schulden darüber zurückho-
len. Auch die Stadtgemeinde Bremen soll
vom Bundesland Bremen entschuldet wer-
den, gut neun Milliarden Euro belasten
hier den Stadtkämmerer. Die Entschul-
dung ist auch hier zwischen Stadt und
Land ausverhandelt, anders als im Falle
Bremerhavens aber noch nicht vom Parla-
ment beschlossen.
An der Pro-Kopf-Verschuldung im Bun-
desland Bremen verändert sich durch die
Umbuchung der Schulden von den Kom-
munen auf die Landesregierung freilich
nichts, sie bleibt mit fast 32000 Euro die
höchste im Bundesgebiet. Immerhin läuft
die Schuldenuhr an der Weser derzeit zum
ersten Mal seit 2006 rückwärts, um
91 Cent pro Sekunde. Für das Bundesland
Bremen, das eine Schuldenbremse in der
Landesverfassung verankert hat, wird die
Nacht der Nächte, in der es wie seine Stadt-
gemeinden schuldenfrei sein wird, also
noch eine Weile auf sich warten lassen –
bei einem Schuldenabbau im aktuellen
Tempo etwa 730 Jahre.

Die Grüne Jugend hält Globuli für Unfug,
nunstreitetdie Partei. FOTO: ROBERT HAAS


Kügelchen-Kommission


Die Grünen suchen nach einer Haltung zur Homöopathie


Das sensible Thema soll den
anstehenden Parteitag nicht
stören – und wurde vertagt

Oberwasser an


der Unterweser


Wie die klamme Stadt Bremerhaven an Silvester
auf einen Schlag 1,7 Milliarden Euro Schulden loswird

Die Amerikaner sind weg, die großen Werften untergegangen, und auch der globalisierte Fischfang hat die Seestadt hart
getroffen: Bremerhaven war lange Zeit ein Synonym für darbende Städte. FOTO: IMAGO

Wenn Reporter auf der Suche nach


Armut durchs Land streiften,


steuerten sie stets Bremerhaven an


DEFGH Nr. 256, Mittwoch, 6. November 2019 (^) POLITIK HF2 5
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