Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

(Joyce) #1

SEITE 10·MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Auch für eine Pariserin ist der Fahrstil ex-
trem: „Immer und überall zu spät, fuhr sie
manchmal über den Bürgersteig, wenn es
nicht voranging – eine bewährte Methode,
Staus zu umgehen. Mit der Zigarette in der
linken Hand beschimpfte sie die Gaffer.
Aus dem Weg! Wir haben es eilig!“ Wenn
Ordnungshüter einschreiten, müssen die
zwei Töchter schwere Krankheit vortäu-
schen. Größere Wirkung entfaltet aller-
dings die „Charmenummer“ der Mutter, ei-
ner ehemaligen Balletttänzerin, die Poli-
zisten mühelos um den Finger wickelt.
Was nach den nonchalanten Manieren ei-
ner Pariser Großbürgerin klingt, sind in
Wahrheit Züge einer Manisch-Depressi-
ven oder, um die Liste komplett aufzuzäh-
len, einer Frau, die an folgenden Krank-
heitsbildern leidet: „Schizophrenie, My-
thomanie, Kleptomanie, Alkoholismus,
abwechselnd Depression und Hysterie.“
Die Person, um die es geht, ist Cathe-
rine Cremnitz, 1947 geboren: Ihre Toch-
ter Violaine Huisman, Jahrgang 1979,
Lektorin und Übersetzerin, die seit 1998
in New York lebt, hat ihr „Die Entflohe-
ne“ gewidmet. Es handelt sich um einen
Roman, der nur insofern einer ist, als die
literarische Gestaltung eine wichtige
Rolle spielt; die Schilderungen sind wohl
faktenbasiert. Im Französischen würde
man von einem „récit de filiation“, einer
Abstammungsgeschichte, sprechen. Je-
denfalls ist Catherines Leben an sich
schon romanesk: die von schwerer Krank-
heit geprägte Kindheit, das Balletttanzen
trotz eines verkürzten Beins, der übergrif-
fige leibliche Vater, eine erste Ehe und
ein Leben als Tanzlehrerin in Marseille,
eine zweite Existenz in Paris als Gattin
eines großbürgerlichen Kulturschaffen-
den („der leibhaftige Salonbolschewist“),
die Mutterschaft und eine Geliebte, das
Ferienhaus in der Corrèze, die dritte Ehe
mit einem Betrüger, eine späte Randexis-
tenz in Westafrika, schließlich der Suizid.
Huisman erzählt in drei Teilen: Der ers-
te berichtet aus der Ich-Perspektive der
Tochter, ausgehend von den Ereignissen
des Jahres 1989, als die Mutter der Zehn-
jährigen eingewiesen wird. Der zweite er-
zählt Catherines Geschichte bis 1989,
und zwar chronologisch und aus der Au-
ßensicht; durch die dritte Person wirkt er
unpersönlicher. Der dritte und kürzeste
Teil berichtet von Tod und Seebestattung
der Mutter 2009, folgt dem Erleben der
dreißigjährigen Violaine.
Die Teile dienen dem Versuch, durch
wechselnde Blickwinkel einem mensch-
lichen Phänomen näherzukommen, das
sich durch stete Grenzverletzung aus-
zeichnet und droht unfassbar zu werden.
Catherine ist eine Frau des Exzesses, ver-
schlingt Alkohol, Zigaretten, Medikamen-
te, Sexpartner, bis hin zum Metzger – „ein
fetter Widerling“ –, mit dem sie es auf
dem Hackblock treibt. Ihre Umgebung
wird Teil des Versuchs, die als Kind erlitte-
ne Vernachlässigung – während eines jah-
relangen Krankenhausaufenthalts hat
ihre Mutter sie nicht besucht – mittels ei-
nes permanenten Ausnahmezustandes er-
träglich zu machen: „Mamans Haushalt
war eine Feuerstelle, sie heizte gut ein, da-
mit dort das Feuer der Gefühle loderte,
die leidenschaftliche Wärme ihres Ver-
trauens in die menschliche Seele.“ Wo die
Wärme nicht reicht, fängt sie neu an, da-
her eine Vielzahl von Identitäten und
Ehen, Abbrüchen – teils im wörtlichen
Sinne: Eine Tanzschule fackelt Catherine
ab – und Neuanfängen jeder Art.

So hart das Urteil bei einem Band
klingt, der mehr sein will als „nur“ ein ge-
lungener Roman: Das Resultat ist litera-
risch gesehen gemischt. Gegen Ende fällt
„Die Entflohene“ ab. Teil zwei ist konven-
tionell erzählt, manche Ereignisse wer-
den wiederholt, was nur teilweise eine
neue Sicht eröffnet, besonders das Verhal-
ten von Catherines Mutter betreffend.
Teil drei wiederum, der am direktesten
auf emotionale Momente losgeht, ist
zwar rührend, aber literarisch mau. Wir
folgen darin Violaine und ihrer Schwester
durch die Leichenhalle, sehen sie bei der
Trauerfeier und beim Schmuggeln der
Asche ins Flugzeug, wohnen deren Vertei-
len auf dem Meer vor Dakar bei. Die Er-
zählung spiegelt die Hilflosigkeit der jun-
gen Frauen leider unbedarft wider – eine
Erinnerung an die Einsicht, dass Sprache
paradoxerweise oft am überzeugendsten
wirkt, wenn sie am kunstvollsten vorgeht.
An demselben heiklen und persönlichen
Gegenstand – einem verrückten, verstor-
benen Elternteil – hat das eine andere
Französin, Gwenaëlle Aubry, unlängst
vorgemacht: In „Niemand“ (2009) um-
kreist sie in alphabetisch organisierten
Stichwörtern das Leben ihres Vaters, ein
Kunstgriff, der formalistisch scheinen
mag, tatsächlich jedoch eine packende
Darstellung ermöglicht.
Gegen diese Vorbehalte steht der wun-
derbare erste Teil von „Die Entflohene“:
Er berichtet über die Verwirrung der
zehn Jahre alten Tochter angesichts der
mütterlichen Krankheit. In einem Ton-
fall, der alles andere als weinerlich ist,
zeigt Huisman ein extravagantes Leben,
das verstört, aber vor Intensität glüht wie
die kettengerauchten Kippen. Auch ohne
den Versuch, die kindliche Wahrneh-
mung zu übernehmen, gelingt es Huis-
man, das Erlebte in einer halb chrono-
logischen, halb assoziativen Verkettung,
die ihrer eigenen Logik zu folgen scheint,
glaubwürdig darzustellen. Hier erlaubt
der Roman die Entdeckung eines faszinie-
renden Charakters, der sich aus dem Ar-
beitermilieu und einer schwierigen Fami-
lienkonstellation zu befreien sucht.
Das verrät schon Catherines Sprache,
denn sie schmückte „diesen mondänen
Stil mit Anspielungen auf die Popkultur,
Sprüchen, billigem Argot, sie konnte ein-
fach nicht anders, als ihre Sätze mit
Schimpfwörtern zu spicken, so wie ande-
re grundsätzlich ihr Essen nachsalzen“.
„Die Entflohene“ profitiert von der leb-
haften, phantasievollen, oft deftigen
Sprache der Hauptfigur, und Eva Scha-
renberg überträgt diese über weite Stre-
cken gut. An ein paar Stellen holpert es,
zum Beispiel beim Einsatz der bestimm-
ten Artikel bei französischen Wendun-
gen, die angepasst werden sollten („die
Place“, nicht „der“), sowie bei Regionen,
wo es skurrilerweise „in Corrèze“ heißt
(statt „in der“). Von den genannten Ein-
schränkungen abgesehen, ist „Die Entflo-
hene“ aber ein spannender, berührender
und burlesker Lebensbericht, der die Lek-
türe lohnt. NIKLAS BENDER

F

ür seinen ersten Selbstmordver-
such legt er sich im Backofen
ein Kissen unter den Kopf, reißt
die Küchenfenster auf und ach-
tet darauf, dass Mitbewohner in der
Nähe sind. Der Hang zum Spektakel,
die große Geste, Komfort, Genuss, Unsi-
cherheit und Verzweiflung – die kleine
Szene enthält vieles von dem, was El-
ton Johns Leben in den folgenden Jahr-
zehnten ausmachen wird. Der Musiker
steht 1968 kurz davor, seine Bekannte
Linda zu heiraten. Der Tatsache, dass
er, wenn überhaupt, lieber einen Mann
heiraten sollte, ist er zu diesem Zeit-
punkt schon fast auf der Spur, aller-
dings noch nicht ganz. Bis er und die
Welt, in der er lebt, so weit sind, dauert
es noch. Zeit für mehrere hundert Mil-
lionen verkaufter Platten, Chartrekor-
de, plattbunte Rock-Hits und Meister-
werke des Songschreibens, für Tour-
neen und Musicals, einen selbstgedreh-
ten Dokumentarfilm, ein Kino-Biopic
und einen Ritterschlag.
Zeit aber auch für viel Kokain, un-
glückliche Beziehungen, eine geschei-
terte Ehe mit einer Frau und so manche
Buchseite, auf der die Freude am Büh-
nenauftritt und am Komponieren di-
rekt neben der Verzweiflung im Hotel-
zimmer und dem Wutanfall in der Gar-
derobe steht. Der Versuch, sich das Le-
ben zu nehmen, ist kurz vor dem Durch-
bruch mit dem Album „Elton John“ und
dem ersten Hit „Your Song“ weniger der
Hilfeschrei, als den Elton John ihn im
Nachhinein interpretiert, sondern eher
einer von vielen lebensbedrohlichen
Versuchen, mit denen Elton John im-
mer wieder austestet, ob er sein Leben
fortführenswert findet.
Eigentlich nicht, lautet lange sein Fa-
zit. Bis auf die Musik. Sowie die Sucht.
Und das Sammeln von Kunst, Platten
und falschen Entscheidungen. Alles in
allem also vielleicht doch, obwohl es
manchmal unerträglich ist. Es dauert,
bis der Künstler und Privatmann sich
seine Existenz so eingerichtet hat, dass
er die Frage nach dem Sinn des Lebens
vollauf bejahen kann. Er, Elton John,
1947 als Reginald Dwight in London
zur Welt gekommen, Kind miteinander
unglücklicher Eltern, die niemals hät-
ten heiraten sollen, wie ihr Sohn meint


  • eine letzte, die Möglichkeit der eige-
    nen Existenz negierende Spur seines
    mangelnden Selbstvertrauens.
    Die schwache Eigenidentität wirft er
    der Mutter und dem anderswo statio-
    nierten und daher meist abwesenden
    Soldatenvater vor, die für das Kind au-
    ßer seelischer Kälte, Dauerkritik, Nörge-
    lei und Bestrafungen nur wenig übrig-
    haben. „Ich“ hat Elton John seine Auto-
    biographie genannt, „Me“ im Original.
    Gemeint ist das, jenseits des Marketing-
    gedankens von der Stärke, die in der
    Einfachheit liegt, auch als Bildungsro-
    man: Wie aus Reginald Dwight John El-
    ton wurde, dem es schließlich sogar ge-
    lang, sich mit Reginald Dwight auszu-
    söhnen.
    Dass der Titel siegreich auftrumpft,
    ist wohl auch dem Verfasser klar, der
    Humor besitzt und seinen Schwächen
    zwischen Entziehungskur und Lebens-
    krisen gründlich ins Auge gesehen hat.
    Der Ich-Triumph eines veritablen Meis-
    ters des Es, in Kunst und Leben, geht
    also völlig in Ordnung. Schwule Leser
    denken trotzdem an „Little Me“, die er-
    fundene Autobiographie des ruhmsüch-
    tigen Starlets Belle Poitrine, die der
    amerikanische Schriftsteller Patrick
    Dennis 1961 zusammen mit seiner
    Frau, seinem Geliebten und zahlrei-
    chen Freunden zusammenstellte, um
    über die falsche Bescheidenheit egozen-
    trischer Stars herzuziehen.
    Elton Johns outriertes und von der
    Queen geadeltes Kunst-Ich ist ihm auf
    der langen Flucht vor Reggie Dwight al-
    lerdings sehr viel besser gelungen als
    der geborenen Maybelle Schlumpfert
    ihre nie ganz durch Erfolg beglaubigte
    Existenz als Belle. Auch seine Autobio-
    graphie ist gehaltvoller als die Lebenser-
    innerungen anderer zu Ruhm und Geld
    gekommener Menschen, gelegentlich
    nachdenklich, oft wirklich witzig.
    Trotzdem merkt man auch ihr die Ma-
    nufaktur für Popstar-Memoiren an: Lus-
    tiges, Bußfertiges, sattsam Bekanntes
    und verschwörerisch Enthülltes, dazwi-
    schen genreübliche Füllsel wie die lang-
    jährigen musikalischen Wegbegleiter,
    die in exakt einer Passage längere Wür-
    digung erfahren, und die Fans seit lan-
    gem bekannten Sternstunden, die unbe-
    dingt noch einmal vom Künstler selbst
    beschrieben werden müssen. Am ech-
    testen ist das Buch in seiner ungewöhn-
    lichen, dem Leben und dem Werk Elton
    Johns gleichermaßen eigenen Kombina-
    tion von Massenappeal und Seltsam-
    keit, Geradlinigkeit und Schnörkeln,
    straight und queer.


Da ist einer, dessen Hits auf den briti-
schen Inseln bei Familienfeiern von al-
len Gästen mitgegrölt werden können,
so wie einst die Pub-Songs und Fußball-
gesänge, mit denen das Kind aus der Ar-
beiterklasse aufwuchs. Da ist anderer-
seits der Fachmann für die spielerische
Grenzübertretung in Männlichkeitsan-
gelegenheiten, der früher, offener und
eindeutiger nicht ganz von dieser hete-
rosexuellen Welt war als Freddie Mercu-
ry, David Bowie oder etwas später
George Michael.
Federn, Brillen, Strass, Kostüme:
Was für ein unterhaltsamer, aber muti-
ger Pionier er war, macht ein Blick auf
die Begeisterung klar, die Leon Dame
vor wenigen Wochen in den sozialen
Medien auslöste, als er für John Gallia-
no die Maison-Margiela-Schau in Paris
damit beschloss, als Mann in High
Heels über den Catwalk zu marschie-
ren. Es war für viele offenbar noch im-
mer ein Anlass, etwas willkommen Neu-
artiges zu bejubeln.
Elton John hat das Geschlechterrol-
lenspiel schon gespielt, als es trotz Libe-
race, Lou Reed, Mick Jagger, Glam
Rock und einer allgemeinen Neigung
zum Übertreten von Grenzen auch in
der unterhaltenden Musik noch keines-
wegs gewöhnlich war. Das exzellente
Cover des ansonsten misslungenen Al-
bums „A Single Man“ zeigt ihn in
schwarzem Mantelzweireiher mit Zylin-
der und Gehstock bereits 1978 auf ho-
hen Damenabsätzen. Oben ganz briti-
scher Gentleman, unten dazu Stöckel-
schuhe. Traditionelle Männlichkeit auf
tönernen Füßen, gekonnt ausbalanciert
auf starker Weiblichkeit. Und das alles
auf dem Long Walk vor den Türmen
von Windsor Castle, nahe dem Herzen
der Establishment-Macht, mit der er
später rund um Diana, Prinzessin von
Wales, so viel zu tun hatte.
Leider ist „Ich“ weniger komplex als
das genau durchdachte Albumcover. Da-
hingeplaudert, oft amüsant und anrüh-
rend, die Übersetzung von Satzbau und
Wortschatz des englischen Originals zu
wenig gelöst. Was vorkommen muss,
kommt vor – der Klavierspieler, Kompo-
nist und Entertainer, sein Texter Bernie

Taupin, sein Liebhaber und Manager
John Reid. Vieles wird abgehakt, ande-
res über Gebühr ausgewalzt. Vor allem
dem Porträt der Mutter, das viel andern-
orts Vorgebrachtes wiederholt, ist anzu-
merken, dass „Ich“ nach Dexter Flet-
chers in diesem Frühjahr uraufgeführ-
tem Film „Rocketman“ schon der zweite
Teil eines Versuchs ist, nun endgültig
eine vom Künstler selbst kontrollierte
kanonische Version seines Lebens zu
lancieren. Das Evangelium, vom Herrn
selbst erzählt. Mit Wundergeschichten
wie dem frühen Erfolg in den Vereinig-
ten Staaten und Passionsberichten rund
um Drogen und Selbstmordversuche,
die er viel zu wenig mit den Anstrengun-
gen in Verbindung bringt, die es ihn ge-
kostet haben muss, ein Leben aus Aus-
rasten und Durchhalten, Innovation und
Normalität gleichermaßen zu formen.
Gelegentlich steht er selbst verwundert
und staunend davor, Ehemann eines
Mannes, Vater zweier Kinder. Zwei Din-
ge, die er sich noch vor wenigen Jahren
nicht hätte vorstellen können.
Warum er an Diana und Gianni Ver-
sace, einem besonders engen Freund,
auch ihre Neigung zu Klatsch und
Tratsch liebte, machen die Anekdoten
klar, die er selbst mit großer Freude ein-
streut. Katharine Hepburn kommt vor-
bei, um in seinem Pool zu schwimmen,
findet einen toten Frosch im Wasser
und wirft ihn mit beiden Händen hin-
aus. Wie sie das geschafft habe, fragt El-
ton John sie angeekelt: „Charakter, jun-
ger Mann.“
Ein weiteres Erlebnis findet hoffent-
lich noch Eingang in die Drehbücher
der vierten Staffel von „The Crown“,
die derzeit gedreht wird. Die Königin
bittet ihren Neffen Viscount Linley auf
einer Party, nach seiner Schwester Lady
Sarah zu sehen, die sich auf ihr Zimmer
zurückgezogen hat. Als er nicht will,
tätschelt sie ihm zwischen ihren
Worten immer wieder nachdrücklich
die Wange: „Leg dich nicht mit mir an,
ich bin die Königin.“ Elton John hält
fest: „Als sie sich von ihm abwandte,
sah sie, wie ich sie anstarrte, zwinkerte
mir zu und ging davon.“ Majestäten un-
ter sich. FLORIAN BALKE

Wie viel Animalisches trägt der Mensch in
sich? Ist er nicht Schlange, wenn er wü-
tend zischt? Skorpion, wenn er hinter-
rücks sticht? Elefant, wenn er Gefahren
dickhäutig an sich abprallen lässt? Pferd,
wenn er Hals über Kopf flieht? Dem Tier
in sich, dem Tier im Gedicht geht die Lyri-
kerin Anna Griva nach: „Die Tiere / halten
mich / gebunden / an ihren Instinkt“, kon-

statiert sie, um die Überlagerung von Tieri-
schem und Menschlichem in drei unter-
schiedlichen Figurationen auszuarbeiten.
Zum einen entwerfen ihre Texte mit
dem Bild des Animalischen im Menschli-
chen wagemutige Psychologien und Innen-
welten. Wenn etwa eine Spinne in einem
haust, ist es dann nicht folgerichtig, dass
das eigene Innere aus einem filigranen Fa-
den- und Sprachgewebe besteht, das sei-
nerseits als Resonanzkörper für die Außen-
welt fungiert: „Schön sprechen die Fäden /
sie zeichnen dich nach / in ihrer leeren Mit-
te / wie das Gleichmaß des Gewebes.“
Zum anderen verwendet Griva die Überla-
gerung von Tier und Mensch als Brücken-
schlag zur griechischen Antike. Wusste
diese doch nicht nur um den graduellen
Übergang zwischen Tier und Mensch, son-
dern auch um den zwischen der unbeleb-
ten Natur und dem Göttlichen.
Tatsächlich lässt Anna Griva, 1985 in
Athen geboren, Althistorikerin und Über-

setzerin italienischer Renaissance-Litera-
tur ins Griechische, in ihrer Reihe von Rol-
lengedichten das mythologische Personal
von Kassandra bis zu Priamos wieder auf-
leben. Ihre eindrücklichsten Arbeiten ge-
lingen ihr jedoch, wenn sie – so die dritte
Figuration – die Überlagerung des Anima-
lischen und Menschlichen nutzt, um die
griechische Antike mit der Gegenwart kol-
lidieren zu lassen: „es kamen gorgonen
voller schuppen / und murmelten die melo-
dien der wellen / während sie gelangweilt
warteten / in der schlange vor irgendeiner
behörde“. Gorgonische Schlangenwesen
stehen vor Behörden Schlange. So sieht
also die Wirtschaftskrise in Griechenland
aus. Sofort leuchtet ein, dass diese speziel-
le Form der Ungeduldsübung nur in der
griechischen Kultur möglich sein kann.
Vier Gedichtbände hat Anna Griva bis-
lang verfasst. Jorgos Kartakis und Dirk
Uwe Hansen haben jetzt eine Auswahl ih-
rer Arbeiten ins Deutsche übertragen und
in einem lesenswerten Band versammelt.
Griva ist Teil einer umtriebigen, jungen
Lyrikszene in Griechenland. Schon in der
Anthologie „Kleine Tiere zum Schlachten.
Neue Gedichte aus Griechenland“ (2017)
konnte man davon ein eindrückliches Bild
erhalten. Nun lässt sich in „Traue den Wör-
tern nicht“ verfolgen, wie Griva ihre Welt
mit dunklem Faden umwindet. Um sich in
einem dialektischen Wechselspiel einer-
seits zurückzuziehen in die Poesie, um an-
dererseits mit ihren Versen aus der Koko-
nisierung auszubrechen, um „für die Ge-
fahr zu existieren“. CHRISTIAN METZ

Anna Griva:
„Glaub den Wörtern nicht.
Sieh hin“. Gedichte.
Übersetzt von
Jorgos Kartakis und
Dirk Uwe Hansen.
Verlag Reinecke & Voß,
Leipzig 2019.
92 S., br., 10,– €.

Violaine Huisman:
„Die Entflohene“.
Roman.

Aus dem Französischen
von Eva Scharenberg.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2019.
256 S., geb., 22,– €.

Elton John:
„Ich“.
Die Autobiografie.
Aus dem Englischen von
Harriet Fricke, Stephan
Glietsch und Torsten
Groß. Heyne Verlag,
München 2019.
496 S., Abb., geb., 26,– €.

Schlangestehende Schlangenwesen


Ausgewählte Gedichte der griechischen Lyrikerin Anna Griva


Das Evangelium, vom Herrn selbst erzählt


Wo die Wärme nicht reicht,


macht diese Frau Feuer


Nicht nur das Krankheitsbild ist komplex: Violaine Huisman


schreibt romanhaft vom Leben und Sterben ihrer Mutter


Ein schüchterner Junge: Unter dem
Künstlernamen Elton John hat sich
der 1947 in London geborene
Reginald Dwight als Klavierspieler,
Komponist und Entertainer
zu einem Meister der Selbst-
inszenierung entwickelt. Der
Popmusiker, hier in einer
Aufnahme aus den siebziger
Jahren, ist längst eine Majestät im
internationalen Showbusiness.
Foto Bridgeman

Eigentlich fand er


sein Leben nicht der


Fortführung wert:


Elton John beschreibt


seine Karriere als


Bildungsromanund


sich selbst als Fach-


mann für spielerische


Grenzübertretungen.


Bujumbura liegt in Burundi undnicht in Ru-
anda, wie es in unserer Rezension zu Nora
Bossongs Roman „Schutzzone“ (F.A.Z.
vom 24. Oktober) fälschlicherweise hieß.
Wir bedauern das Versehen. F.A.Z.
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