Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

(Joyce) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252·SEITE 15


Die Pläne von Saudi Aramco für


denBörsengang werden konkret. In


Riad treffen sich Investoren. Seite 17


Um den Verkehrsfluss in einer


Stadt optimal zu steuern, setzt VW


Quantencomputer ein. Seite 18


Für die Gasversorgung droht eine


Lücke. Anbieter von Flüssiggas


wittern die Gunst der Stunde. Seite 22


Attraktive Investitionen Moderne Stauvermeidung Schwimmende Terminals


V


ielePflegekräfte arbeiten gerne
als Leiharbeitnehmer. Sie haben
sich bewusst und freiwillig dafür ent-
schieden, die Festanstellung in einem
Altenheim oder einer Klinik aufzuge-
ben, verdienen jetzt besser und kön-
nen mehr Einfluss auf ihre Schichten
nehmen. Dass das unter den Stammbe-
schäftigten für Frust sorgt, ist verständ-
lich: Ihre Arbeitsbelastung steigt. Und
auch unter den Pflegeheimbetreibern
und Klinikleitungen ist der Unmut
groß. Sie haben den Eindruck, ihre Per-
sonalnot werde von den Zeitarbeitsun-
ternehmen ausgenutzt. Doch ein Ver-
bot der Leiharbeit in der Pflege, das
Berlins Gesundheitssenatorin auf den
Weg bringen will, ist der falsche Weg –
und könnte die Personalnot sogar
noch verschärfen. Denn wer weiß
schon, ob die Pflegekräfte ihrer Bran-
che dann nicht ganz den Rücken keh-
ren? Einen Überbietungswettbewerb
um höhere Löhne werden die Altenhei-
me und Krankenhäuser in der Regel
nicht gewinnen können. Doch sie ha-
ben andere Möglichkeiten, ihr Perso-
nal langfristig an sich zu binden: durch
eine gute Arbeitsatmosphäre, flexible
Arbeitszeitmodelle und eine verbindli-
che Dienstplanung. Manch eine Ein-
richtung schafft es so, weitgehend
ohne Zeitarbeitskräfte auszukommen.

D


as Thema Digitalisierung werde
über den Wohlstand von morgen
entscheiden, sagte Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU) auf dem zweitä-
gigen „Digitalgipfel“ in Dortmund.
Diese Veranstaltung ist ein jährlich ser-
viertes Stück Digital-Baiser, schau-
mig-leicht. Sogar der Präsident des
Bundesverbands der Deutschen Indus-
trie, Dieter Kempf, nannte es in der
F.A.Z. kürzlich „eher Show“ (weshalb
Merkel ihm nun in Dortmund androh-
te, nicht mehr zum Jahrestag zu kom-
men). Immerhin: Die digitalen Tage
sind der Gipfel der deutschen Digital-
begeisterung. Im Übrigen prägen die
Debatte nicht die Begeisterten, son-
dern die Ängstlichen.
Das hat gerade erst wieder der Be-
richt der von der Bundesregierung ein-
gesetzten „Datenethikkommission“ ge-
zeigt. 16 Persönlichkeiten, darunter
Kempf, sollten der Bundesregierung
Ratschläge erteilen, doch das dicke Pa-
pier will viel mehr: Es soll eine Blau-
pause für die EU-Digital- und -Medien-
politik werden. Neben wenigen sinn-
vollen Passagen ist der Bericht aber
vor allem eines: eine Anleitung zum
Rückständigsein. Der Staat soll nach
Auffassung der Ethiker Algorithmen
nach Gefährlichkeit sortieren und not-
falls verbieten. Alles ist verboten, es
sei denn, es ist im Einzelfall unter güti-
ger Begleitung durch den Staat er-
laubt. So funktioniert das Datenschutz-
recht, so soll es weitergehen: Wer Algo-
rithmen und „Künstliche Intelligenz“
verwenden will, alltägliche Technolo-
gien also, soll sich je nach Gefährlich-
keitsgrad erklären, rechtfertigen oder
beim Staat zertifizieren lassen.
Die verhassten Internetplattformen
(Facebook, Google und andere) seien
„Torwächter“, meinen die Ethiker, der
Staat müsse daher eingreifen, um „Viel-
falt“ und „Ausgewogenheit“ zu gewähr-
leisten und eine „positive Medienord-
nung“ herzustellen. Was der rechtsex-
treme Rand zu einem etwaigen „EU-
Kommissar für positive Medienord-
nung“ sagen könnte, mag man sich
nicht ausmalen.
Raum für Zweifel an den eigenen
Einschätzungen oder eine Abwägung
der geplanten Totalregulierung mit
den Grundfreiheiten findet nicht ein-
mal rhetorisch statt. Das Wort „Mei-
nungsfreiheit“ etwa nennt das Doku-
ment nur ein einziges Mal – nicht, um
staatliche Eingriffe abzuwehren, son-
dern um sie zu rechtfertigen. Digitale
Technologien seien für die Meinungs-
freiheit nämlich „systemrelevant“, stel-
len die Autoren fest, schließlich kön-
nen die Plattformen Gefahren der Ma-
nipulation und Radikalisierung mit
sich bringen.
„Können“, das ist das Zauberwort
des Berichts. So stellte die Sprecherin
der Kommission kürzlich beiläufig die
These in den Raum, soziale Medien
könnten die Debatte um den Brexit ne-
gativ beeinflusst haben. Vielleicht ja
mit Hilfe von „Social Bots“, Robotern
in Sozialen Netzwerken, vor denen die

Kommission selbstverständlich auch
warnt. Der Social Bot ist der Yeti der
Digitalpolitk, ein altes Problem, aber
bisher unbewiesen, geschweige denn
eine Gefahr. Es reicht, dass er existie-
ren könnte, und gefühlt tut er es ja
auch. Für jede noch so substanzlos be-
hauptete Gefährlichkeit des digitalen
Raums findet die Kommission eine
Antwort, immer dieselbe: mehr Staat.
Die Politik steigert im Raum der Fak-
tenfreiheit ihre Digitalangst zur Digi-
talhypochondrie. Dass der Staat Bele-
ge beibringen sollte, wenn er mit bei-
den Händen in den Grundfreiheiten
der Bürger herumwühlt, kommt der
Kommission vor lauter Ethiktrunken-

heit nicht in den Sinn. Wer in Deutsch-
land den mahnenden Zeigefinger er-
hebt, braucht Widerspruch nicht zu
fürchten – und wenn doch jemand
zweifelt, reicht ein diffuser Wink Rich-
tung China, auch wenn der dortige Um-
gang mit Daten und persönlicher Frei-
heit rechtlich unmöglich wäre. Sind
das Vertrags-, Datenschutz-, Wettbe-
werbs-, Kartell- und Antidiskriminie-
rungsrecht etwa wirkungslos?
Digitalisierung steht in Deutschland
traditionell unter dem Vorzeichen der
Angst, nicht der Chancen. Warum ei-
gentlich? Spricht man mit jenen, die
die Digitalisierung nicht nur von den
Podien aus erleben, jenen also, die Risi-
ken eingehen und Konzerne unter un-
geheurer Kraftanstrengung technisch
wie kulturell auf einen digitalen Kurs
lenken müssen, hört man ratlose Erklä-
rungsversuche. Vielleicht sei es in klei-
neren Ländern wie Estland, Israel
oder Schweden ja leichter, weil diese
aus ökonomischen und politischen
Gründen offen sein müssten, heißt es.
Vielleicht fürchte die Politik die Erosi-
on der eigenen Medienhoheit und dä-
monisiere die Plattformen deshalb, lau-
tet eine andere These. Die Deutschen
hätten mit Stasi und Gestapo einige
Überwachungstraumata hinter sich,
vermuten die meisten, ebenso, dass
das europäische Vorsorgeprinzip im
dynamischen Umfeld der Digitalisie-
rung nicht schnell genug reagiere.
Um in der Sprache des Ethikbe-
richts zu enden: Die Langzeitfolgen
dieser Angst „könnten“ furchtbar sein.
Wenn Deutschland oder gar Europa
unter einem Stapel Formulare nicht
mehr in der Lage ist, neue Leistungen
und Produkte zu bieten, die in anderen
Ländern selbstverständlich sind, führt
das in den digitalen Analphabetismus.
Träume von eigenen Plattformen blei-
ben eine an datenbürokratischen Reali-
täten zerschellende Phantasie. Dage-
gen hilft dann auch kein jährliches Di-
gital-Baiser.

D


er Herr hat’s gegeben, der Herr
hat’s genommen. Beispiel Bau-
kindergeld. Schwarz-Rot hat die Hilfe
für Familien, die in die eigenen vier
Wände investieren, vergangenes Jahr
eingeführt. Mit zwei Kindern kommen
sie über zehn Jahre auf 24 000 Euro.
Doch das reicht in vielen Fällen gera-
de, um die Grunderwerbsteuer zu be-
gleichen, wie der Bund der Steuerzah-
ler zutreffend moniert. Doch so etwas
kann die neue Staatsgläubigkeit nicht
erschüttern, die nach der Finanzkrise
vor einem Jahrzehnt allseits zu beob-
achten ist – genauso wenig wie die im
Schwarzbuch aufgeführten Fälle von
Steuergeldverschwendung. Jeder, der
selbst einmal gebaut hat, weiß, dass
bei größeren Projekten nicht immer al-
les glatt läuft, dass viel schiefgehen
kann. Was der Steuerzahlerbund auf-
listet, ist manchmal komisch und im-
mer ärgerlich, aber oft kein Beleg für
Staatsversagen. Aber was ist von Fäl-
len zu halten, in denen Kommunen Im-
mobilien überteuert kaufen? Keine
einzige neue Wohnung ist damit ge-
baut. Man nimmt den Bürgern ihr
Geld und schafft nichts. Das ist Geld-
verschwendung und Staatsversagen.
Wohngeld für diejenigen, die Hilfe in
einem heißgelaufenen Markt benöti-
gen, ist zielgenauer und sozialer.

joja./loe. DORTMUND/BERLIN, 29. Ok-
tober. Angela Merkel sorgt sich darum,
dass sich deutsche Unternehmen zu we-
nig dafür interessieren, welche Wert-
schöpfung sie aus Daten ziehen könnten.
„Wir müssen darum bitten, dass es eine
Offenheit dafür gibt“, sagte die Bundes-
kanzlerin auf dem Digitalgipfel am Diens-
tag in Dortmund. „Wenn wir uns das aus
der Hand nehmen lassen, wird es für den
Wirtschaftsstandort Deutschland ein bö-
ses Erwachen geben“, sagte Merkel.
So dürfe etwa die Automobilindustrie
das autonome Fahren nicht den Chinesen
oder Amerikanern überlassen, auch für
den Maschinenbau und die chemische In-
dustrie müsse es den Anspruch geben, bei
solchen Entwicklungen dabei zu sein.
Freilich arbeiten Ingenieure und Ent-
wickler in den Autokonzernen längst dar-
an, was Merkel fordert. Volkswagen,
BMW und Daimler verkündeten aller-
dings zuletzt auch fast gleichzeitig große
Partnerschaften mit amerikanischen
Technologieunternehmen wie Microsoft.
Ohne direkt darauf Bezug zu nehmen,
warnte die Bundeskanzlerin davor, dass
Deutschland digital in Abhängigkeiten ge-
raten könne. „Am meisten besorgt mich,
dass die Verwaltung von Wirtschafts- und
Konsumentendaten in ganz wesentlichen
Bereichen bei amerikanischen Wettbe-
werbern liegen“, sagte Merkel.
Auch deshalb stand im Zentrum des Di-
gitalgipfels der Bundesregierung das Pro-
jekt „Gaia-X“, der Aufbau einer europäi-
schen Datencloud. Bislang greifen euro-
päische Unternehmen zum Speichern
und Analysieren großer Datenmengen
meist auf amerikanische oder chinesische
Anbieter wie Amazon Web Services, Mi-
crosoft, Google oder Alibaba zurück. Die-
se Abhängigkeit will Bundeswirtschafts-
minister Peter Altmaier (CDU) zusam-
men mit seinem französischen Amtskolle-
gen Bruno Le Maire verringern und die
vielen kleineren Anbieter in Europa zu ei-
nem Netzwerk zusammenschließen.


Eigentlich wollte Altmaier das Projekt,
an dem ein Dutzend Mitarbeiter im Wirt-
schaftsministerium seit Monaten arbei-
ten, in Dortmund ausführlich vorstellen.
Allerdings stürzte Altmaier nach seiner
Auftaktrede am Morgen beim Herunterge-

hen von der Bühne. Der 61 Jahre alte Poli-
tiker erlitt einen Nasenbeinbruch, eine
Platzwunde und diverse Prellungen. Er
wurde zur Behandlung in ein Kranken-
haus gebracht. Es gehe ihm den Umstän-
den entsprechend gut, sagte eine Spreche-

rin des Ministeriums. Falls Altmaier län-
ger ausfallen sollte, würde nach den Re-
geln der Bundesregierung Finanzminister
Olaf Scholz (SPD) ihn vertreten. Scholz
sagte, man sehe sich hoffentlich bald wie-
der am Kabinettstisch.
An Altmaiers Stelle stellte daraufhin
Thomas Jarzombek Gaia-X vor. Der
CDU-Politiker ist im Ministerium seit kur-
zem der Beauftragte für die digitale Wirt-
schaft und Start-ups. Viele Unternehmen
seien zögerlich damit, ihre Daten in die
Cloud zu verlagern, weil sie um ihre Da-
tensouveränität fürchteten oder weil sie
Angst davor hätten, Teil eines Handels-
krieges zu werden.
Wie die F.A.Z. schon am Samstag be-
richtet hatte, soll Gaia-X im Frühjahr
2020 offiziell starten. Erste Anbieter und
Anwendungen soll es Ende kommenden
Jahres geben. Unternehmen wie Bosch,
SAP, Siemens und Telekom haben das
Konzept mit ausgearbeitet. Allerdings
heißt es in dem entsprechenden Strategie-
papier auch: „Die Mitwirkung steht auch
Marktteilnehmern außerhalb Europas of-
fen, die unsere Ziele der Datensouveräni-
tät und Datenverfügbarkeit teilen.“ Die
Cloudanbieter aus dem Ausland werden
also nicht ausgeschlossen.
Gaia-X soll als dezentrales Netzwerk
aufgebaut werden. Das heißt: Je nach
Bedarf werden Rechnerkapazitäten un-
terschiedlicher Anbieter zusammenge-
schaltet. Wirtschaftsminister Altmaier
schwebt langfristig eine Art „Airbus der
Künstlichen Intelligenz“ vor, bei dem sich
Unternehmen gegenseitig große Daten-
mengen zur Verfügung stellen, um daraus
neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Das Bundeswirtschaftsministerium för-
dert die Aufbauphase von Gaia-X mit ei-
nem zweistelligen Millionenbetrag. An-
schließend sollen die Unternehmen die
Plattformen finanzieren und betreiben.
Voraussetzung für solche Pläne, auch
das erwähnte Merkel in ihrer Rede, ist
eine digitale Infrastruktur, und dabei geht
es noch nicht einmal direkt um neue
Funkstandards wie 5G. „Wir werden den
Ansprüchen, was den Festnetzausbau
oder den Mobilfunkausbau betrifft, noch
nicht gerecht“, gab Merkel zu. Am Mitt-
woch würden deshalb Eckpunkte zur Mo-
bilfunkstrategie vorgestellt. „Wir werden
hurtig versuchen, die weißen Flecken so-
weit einzugrenzen, dass es nur noch
kleinste Flecken sind.“ („Ist der Digital-
pakt eine große Verschwendung?“, Seite
17, und „5G-Netze sollen billiger wer-
den“, Seite 21.)

Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag in Dortmund Foto Imago


Der Digitalgipfel trügt.
DieDebatte prägen
nicht die Begeisterten,
sondern die Ängstlichen.

mas.BERLIN, 29. Oktober. Überteuer-
ter Ankauf von sanierungsbedürftigen
Plattenbauten, ein nur an acht Tagen ge-
nutztes Gästehaus der Bundesregierung,
ein Aussichtsturm, der nur wenige Jahre
hält und nun abgerissen werden muss –
drei Fälle aus dem Schwarzbuch
2019/2020 des Bundes der Steuerzahler
zur öffentlichen Verschwendung. Schwer-
punkt sind in diesem Jahr die Maßnah-
men zur sozialen Wohnraumförderung,
speziell der Erwerb von Wohnungen
durch kommunale Gesellschaften.
Unter der Überschrift „Berlin zahlt as-
tronomischen Kaufpreis für das Kosmos-
viertel“ berichtet der Interessenverband
über das vermutlich schlechte Geschäft
für die Hauptstadt. Im Februar 2019 habe
eine landeseigene Wohnungsbaugesell-
schaft 1821 Wohnungen und 22 Gewerbe-
einheiten von einem privaten Investor zu-
rückgekauft. Über den Kaufpreis sei Still-
schweigen vereinbart worden, doch Be-
richten zufolge soll sich der Kaufpreis auf
250 Millionen Euro belaufen haben. Auf
jeden Fall habe sich das Land Berlin mit
einem Zuschuss beteiligt. Der Bund der


Steuerzahler schätzt den Quadratmeter-
preis auf mindestens 2000 Euro, bei ei-
nem hohen Sanierungsbedarf. „Mit 250
Millionen Euro hätte Berlin rund 1000
neue Wohnungen zusätzlich bauen kön-
nen“, gibt der Interessenverband zu be-
denken. „In diesem Sinne warnen wir
nicht nur vor Rückkauf-Aktionen, son-
dern auch vor der Idee, Enteignungen ins
Spiel zu bringen. Abgesehen von der juris-
tischen Einschätzung erkauft man da-
durch weder neuen Wohnraum, noch
wird das Wohnen sozial gestaltet“, meint
Präsident Reiner Holznagel.
Kritisch beurteilt der Steuerzahlerbund
die soziale Wohnraumförderung. Für Zu-
schüsse und Zinssubventionen hätten
Bund und Länder 2018 2,4 Milliarden
Euro ausgegeben, ein Plus von 21 Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Dem stehe eine
geringe Zunahme der dadurch geförder-
ten Wohneinheiten von 1,7 Prozent gegen-
über. Zudem sei diese Politik wenig zielge-
nau. Schätzungen zufolge verfügen nur 46
Prozent der Haushalte, die in Sozialwoh-
nungen leben, über weniger als 60 Prozent
des mittleren Einkommens. Im Umkehr-

schluss seien also 54 Prozent der Haushal-
te, die in einer Sozialwohnung lebten,
nicht armutsgefährdet. Rund 8 Prozent
verfügten über ein Einkommen, das über
dem mittleren Einkommen liege.
Im aktuellen Schwarzbuch stößt man
auch auf das Gästehaus der Bundesregie-
rung, das idyllisch in Brandenburg gelege-
ne Schloss Meseberg. „Es kostet den Steu-
erzahler rund 5 Millionen Euro – Jahr für
Jahr.“ Dabei brauche die Bundesregie-
rung das Anwesen so gut wie gar nicht:
„An durchschnittlich nur acht Tagen pro
Jahr wurde das Gästehaus in den Jahren
2015 bis 2018 genutzt.“
Auch über die Turmbauten zu Jesberg
ist der Verband nicht begeistert: „Ein Aus-
sichtsturm auf dem nordhessischen Wüs-
tegarten war schon nach wenigen Jahren
baufällig und soll wieder abgerissen wer-
den.“ Folgende Rechnung zu dem 2004 er-
richteten Objekt macht er auf: „Mit den
insgesamt mindestens 400 000 Euro für
Bau und Abriss des Kellerwaldturms so-
wie die Kosten des Rechtsstreits hätte
man 567 Kilometer Wanderwege wie den
Kellerwaldsteig entwickeln können.“

Unter dem Anreißer „Abgefahren: Be-
quem, aber teuer“ spießt das Schwarz-
buch die Unterbringung der jüngst ge-
gründeten bundeseigenen Autobahn
GmbH, die künftig das Fernstraßennetz
betreuen soll, an einer besonders edlen
Adresse in Berlin auf. „Nach der Erweite-
rung der Büroflächen im Sommer 2019 er-
geben sich monatliche Kosten je Quadrat-
meter von durchschnittlich 123 Euro, je
potentiellem Arbeitsplatz von 1044
Euro.“ Wenn nächstes Jahr wie geplant
290 weitere Mitarbeiter hinzukämen, wür-
den neue Mietflächen nötig.
Natürlich fehlt auch das Fiasko mit der
Pkw-Maut nicht. Der selbstgeschaffene
Druck der Politik, nicht den Urteils-
spruch des Europäischen Gerichtshofes
abzuwarten, habe sich als Fehlentschei-
dung zu Lasten der Steuerzahler ent-
puppt, urteilt deren Interessenverband.
So ständen Schadensersatzforderungen
der gekündigten Auftragnehmer von meh-
reren 100 Millionen Euro im Raum. Die
Kosten aus den Vorbereitungsarbeiten be-
ziffert der Steuerzahlerbund auf rund 83
Millionen Euro.

bee. FRANKFURT, 29. Oktober. Ein
ständiger Wechsel aus Früh- und Spät-
schichten, Wochenenddienste, Überstun-
den: Die Arbeitsbedingungen in der Pfle-
ge gelten als hart. In den vergangenen
Jahren haben sich daher immer mehr
Pflegekräfte für einen Wechsel in die
Zeitarbeit entschieden. Dort verdienen
sie dank überdurchschnittlicher Löhne
deutlich besser und können noch dazu
selbst entscheiden, welche Dienste sie
übernehmen wollen. Beim Stammperso-
nal, den Betreibern der Pflegeheime so-
wie Klinikleitern sorgt das allerdings für
viel Unmut – schon länger brodelt es un-
ter der Oberfläche. Nun hat auch die Poli-
tik das Thema für sich entdeckt.
So kündigte Berlins Gesundheitssena-
torin Dilek Kalayci (SPD) am Dienstag
an, dass das Land Berlin Anfang kommen-
den Jahres eine Bundesratsinitiative für
ein Verbot von Leiharbeit in der Pflege


starten werde. Die Details wolle sie dem-
nächst gemeinsam mit Akteuren aus der
Pflegebranche vorstellen, sagte sie dem
Berliner „Tagesspiegel“. Auch Bundesge-
sundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat
schon mehrfach durchblicken lassen,
dass ihn die Entwicklung umtreibt.
Dass das Thema so hohe Wellen
schlägt, ist auch deshalb bemerkenswert,
weil Zeitarbeit in der Pflege trotz steigen-
der Zahlen nach wie vor eine Rander-
scheinung ist. So waren der Bundesagen-
tur für Arbeit zufolge zuletzt rund 12 000
Leiharbeitnehmer in der Altenpflege tä-
tig, ein Anteil von 2 Prozent. Vor fünf Jah-
ren waren es erst 8000 gewesen. In der
Krankenpflege sieht es ähnlich aus. An-
bieter von Altenpflegeeinrichtungen so-
wie Krankenhäuser beklagen jedoch, die
Zeitarbeitsunternehmen würden zum
Teil recht dreist vorgehen, indem sie ih-
nen zunächst Pflegekräfte abwerben wür-

den und ihnen dann Ersatz böten – je-
doch für deutlich mehr Geld. Die Perso-
nalnot würde gezielt ausgenutzt, heißt es.
Sogar von Erpressung ist die Rede.
DanielSchuster, Geschäftsführer der
ProcurandUnternehmensgruppe, die 27
stationäre Altenpflegeeinrichtungen und
ambulante Dienste betreibt, schlägt einen
nüchterneren Ton an. Doch auch aus sei-
ner Sicht hat Zeitarbeit in der Pflege eini-
ge Nachteile. „Leiharbeitnehmer kennen
die Abläufe und die Bewohner nicht, sie
identifizieren sich nicht mit dem Haus,
und sie definieren Wunschdienste“, sagte
er der F.A.Z. „Das sorgt für Frust bei den
übrigen Mitarbeitern.“ Ähnlich argumen-
tiert Berlins Gesundheitssenatorin Kalay-
ci. Die Belastung für festangestellte Pflege-
kräfte steige, sagte sie kürzlich in einem
auf der Internetseite der Senatsverwal-
tung veröffentlichten Interview. Zudem
seien die Patientensicherheit und die Pfle-

gequalität gefährdet, wenn Pflegekräfte
die Strukturen eines Krankenhauses oder
einer Pflegeeinrichtung nicht kennen.
Scharfe Kritik an ihrem Vorstoß kam
am Dienstag aus der Zeitarbeit. Die ge-
plante Bundesratsinitiative sei europa-
und verfassungsrechtlich „mehr als be-
denklich“, sagte Thomas Hetz, Hauptge-
schäftsführer des Bundesarbeitgeberver-
bandes der Personaldienstleister. Mit ei-
nem Verbot der Zeitarbeit in der Pflege
würde der Pflegenotstand zudem nur
noch weiter verschärft. „Denn die Zeitar-
beit sorgt dafür, dass Pflegekräfte in ih-
rem Beruf tätig bleiben.“ Auch der Ge-
schäftsführer der Procurand-Gruppe ist
skeptisch, ob Zeitarbeitskräfte der Pflege
im Fall eines Verbots erhalten blieben.
Dennoch findet Schuster den Vorstoß, die
Zeitarbeit einzudämmen, grundsätzlich
gut. „Das könnte zur Beruhigung der ge-
samten Branche beitragen“, sagte er.

Frust in der Pflege


Von Britta Beeger


Merkel warnt vor bösem Erwachen


Anleitung zum Rückständigsein


Von Hendrik Wieduwilt


Ein Gästehaus für 8 Tage – und 5 Millionen Euro im Jahr


Schloss Meseberg, Autobahn GmbH, Turmbau zu Jesberg: das Schwarzbuch zur öffentlichen Verschwendung


Berlin will Zeitarbeit in der Pflege verbieten


Gesundheitssenatorin kündigt Bundesratsinitiative an /Pflegebranche beklagt Erpressung durch Zeitarbeitsfirmen


Echte Baumängel


Von Manfred Schäfers


Deutsche Unternehmen


stünden vor großen


Abhängigkeiten in


der digitalen Welt.


Helfen soll eine


europäische Cloud.

Free download pdf