Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

(Joyce) #1

SEITE 2·MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Isolationwird die AfD noch stärken
„Rzeczpospolita“ (Warschau) kommentiert die Land-
tagswahl in Thüringen:


„Die AfD ist auf dem zweiten Platz gelandet und hat
23,4 Prozent der Stimmen bekommen. Die von der Elite
ständig kritisierte Partei hat mehr oder weniger ein Vier-
tel der Einwohner der früheren DDR hinter sich. Wenn
man das Alter der Wähler betrachtet – die Jungen wäh-
len öfter AfD –, werden ihre Kräfte noch wachsen. Zu-
sätzlich gestärkt wird die AfD noch durch die Isolation
der anderen Parteien, wenn das Einzige, was ihnen ein-
fällt, die Bildung eines Anti-AfD-Blocks ist.“


Bündnis mit den Linken hätte unabsehbare Folgen
Die „Neue Zürcher Zeitung“ befasst sich mit Koali-
tionsoptionen:


„Die Konsequenzen aus einem Bündnis zwischen
Linkspartei und CDU sind letztlich unabsehbar. Es gibt
keine Erfahrungswerte. Sollte sich Mohring über den
Widerstand in seiner Partei hinwegsetzen und das Ge-


spräch mit Ramelow vertiefen, könnte ihm dies durch-
aus Sympathiepunkte bei den Thüringer Wählern eintra-
gen. Der Entscheid wirkte unideologisch und pragma-
tisch. Für die Zukunft seiner Partei in Thüringen müsste
dies nicht der Untergang sein. Die Linkspartei hat die
Wahl primär wegen Ramelow gewonnen, wenn der
63-Jährige dereinst zurücktritt, könnte der Zauber sei-
ner Partei schnell verfliegen. Mit der CDU auf Bundes-
ebene handelte sich Mohring aber zweifellos sehr viel
Ärger ein, so viel ist unter dem Mantel der Eintracht
schon gut erkennbar. Er würde ein Präjudiz schaffen,
das die Beurteilung der gesamten CDU veränderte.“

Der Kampf geht weiter
„Le Monde“ (Paris) schreibt zum Tod des IS-Anfüh-
rers:
„Der Kampf gegen den Dschihadismus endet nicht
mit dem Tod eines Mannes. Er muss sowohl politisch als
auch kulturell und militärisch geführt werden. Dafür be-
darf es eines langen Atems, denn der Kampf kann meh-

rere Generationen lang dauern. Seit der ursprünglichen
Kriegserklärung Usama Bin Ladins hat sich die Ausein-
andersetzung intensiviert. Wenn es auch legitim ist,
Dschihadisten zu töten, ist es nach dem Tod al Bagdadis
geboten, über einen Schlachtplan nachzudenken, um
auch die Wurzeln des Dschihadismus zu bekämpfen.“

Al Bagdadis Tod offenbart drei Trump-Fehler
„Dagens Nyheter“ (Stockholm) meint:
„Bei Donald Trump hörte es sich beinahe so an, als
hätte er Abu Bakr al Bagdadi persönlich aufgespürt und
getötet. Der Präsident sah sich jedenfalls bei seiner Nah-
ost-Politik in allen Punkten bestätigt. Dabei ist es in Wirk-
lichkeit genau umgekehrt. Es gibt keinen Grund, um al
Bagdadi zu trauern. Er stand an der Spitze einer Organi-
sation, die Tausende Menschen ermordet hat. Die drei
Lehren für Trump sollten aber vom Nutzen von Soldaten
vor Ort und von Kompetenzen innerhalb der Geheim-
dienste sowie vom Wert seiner Verbündeten handeln. Un-
glücklicherweise glaubt er an nichts davon.“

Russland gefährlicher als IS
„Sme“ (Bratislava) wählt einen völlig anderen Blick-
winkel:
„Dass ähnlich wie damals Bin Ladin auch al Bagdadi,
der sich am Ende selbst in die Luft sprengte, von ameri-
kanischen Spezialeinheiten auf den Weg ins Jenseits ge-
schickt wurde, ist vor allem – ja, vor allem anderen – ein
weiterer Hinweis darauf, wie unersetzlich Amerika für
die Aufrechterhaltung der globalen Sicherheit ist. Wer
sonst könnte so eine Arbeit, also die Ausschaltung des
gesuchtesten Terroristen der Welt, erledigen? Und Tatsa-
che ist auch, dass Europa viel mehr Interesse an der Be-
seitigung al Bagdadis haben musste als Amerika. Den-
noch verdiente die Tötung des ,Kalifen‘ keine solche Me-
dienshow, wie sie Trump inszenierte. Selbst wenn der IS
jährlich sogar ein-, zwei- oder dreitausend Terroropfer
verursachen könnte, wäre das zwar schlimm für Europa,
aber nicht so gefährlich und bedrohlich wie die Hybrid-
kriege, die die östlichen Mächte (Russland und China)
schon heute gegen Europa führen.“

STIMMEN DER ANDEREN


BERLIN,29. Oktober


A

m Dienstag war Jahrestag. Auf
den Tag ein Jahr war es her, dass
Angela Merkel ihrer verdatterten
Partei verkündete, sie werde nicht wieder
für den Vorsitz kandidieren und mit dem
Ende der Legislaturperiode das Dasein
als Kanzlerin aufgeben. Ausgelöst hatte
diesen Schritt das schlechte Abschneiden
der CDU bei der Wahl in Hessen. Dabei
war es gar nicht so schlimm für die CDU
gekommen, die Rolle als großer Partner
einer schwarz-grünen Koalition hatte sie
behaupten können. Doch Merkel spürte
die Unruhe und Unzufriedenheit ihr ge-
genüber und wollte nicht warten, bis ihre
Partei handeln würde.
Pünktlich zum Einjährigen hatte ein
Mann ein „Präsent“ für Merkel vorberei-
tet, der die CDU im Oktober 2018 ähnlich
überraschte wie Merkel: Friedrich Merz,
der sich nach Merkels Rückzugsankündi-
gung sofort um den Parteivorsitz bewarb
und diesen nur um Stimmenbreite verfehl-
te. Merz – man muss es so sagen – koffer-
te am späten Montagabend im ZDF mit
Wucht und Wut gegen Merkel. Die Bot-
schaft lautete: Merkel ist an allem schuld,
am Zustand der CDU, der Koalition, des
Landes. Das Erscheinungsbild der Bun-
desregierung sei „grottenschlecht“. Am
Dienstag fand das breiten Niederschlag in
den Medien. Merz ist nicht allein. Am
Montag hatte der Vorsitzende der Jungen
Union, Tilman Kuban, in der CDU-Vor-
standssitzung eine offene „Führungsfra-
ge“ ausgemacht, der einstige hessische Mi-
nisterpräsident Roland Koch nörgelt in
der Zeitschrift „Cicero“ an Merkel her-
um, wirft ihr „Argumentationsenthal-
tung“ vor. Auch der stellvertretende Vor-
sitzende der Unionsfraktion Carsten Lin-
nemann stimmte im Deutschlandfunk in
den Chor ein und sagte selbstkritisch, sei-
ne Partei – ihn eingeschlossen – habe zu
lange nicht über eigene Fehler nachge-
dacht, habe Unterschiede zu anderen Par-
teien in der Sache nicht herausgestellt.
„Und meine Partei hat jahrelang ein Argu-
ment gehabt, das hieß Angela Merkel.“
Als Merkel vor einem Jahr den bis da-
hin stets abgelehnten Schritt machte,
Kanzlerschaft und Parteivorsitz zu tren-
nen, bezeichnete sie das als „Wagnis“. Sie
fühle sich gleichwohl verpflichtet, dieses
einzugehen, denn sie sei zu der Entschei-
dung gekommen, dass ihre Partei Erneue-
rung brauche. Im Lager Annegret Kramp-
Karrenbauers sieht man sehr deutlich,
dass dieses Wagnis ganz überwiegend die
heutige Vorsitzende zu bestehen hat. Am
Montag, als die Kritiker der Führung, von
denen die einen auf Kramp-Karrenbauer,
die anderen auf Merkel zielen, das
schlechte Abschneiden der CDU bei der
Thüringen-Wahl nutzten, um ihre Salven
abzufeuern, wies sie daher sehr deutlich
darauf hin, dass sie grundsätzlich zum be-
währten CDU-System zurückkehren wol-
le: Parteivorsitz und Kanzleramt liegen in

einer Hand. Ihre Botschaft war deutlich:
Sie ist nicht bereit, die Knochenarbeit des
Parteivorsitzes zu machen, damit an-
schließend jemand anders die Kanzler-
kandidatur an sich reißt. Wer immer das
auch sei.
Was waren sie in der CDU vor einem
Jahr noch stolz auf ihren ruhigen und ge-
ordneten Führungswechsel. Drei Kandida-
ten, die auf acht Regionalkonferenzen zivi-
lisiert und maßvoll angriffslustig miteinan-
der umgingen. Eine knappe, aber faire
Wahl auf dem Parteitag in Hamburg, eine
Siegerin, die nicht übertrieben triumphier-
te, und zwei faire Verlierer, neben Merz
war es Gesundheitsminister Jens Spahn.
Was schauten die Unionsleute halb hä-
misch, halb sorgenvoll auf die SPD mit ih-
rer langen Erfahrung im Zerlegen der eige-
nen Führung und der nach einem knap-
pen halben Jahr immer noch nicht zum
Ende gebrachten Suche nach einer neuen.
Doch nun scheint sich die CDU mit dem
sozialdemokratischen Erosions-Virus an-
gesteckt zu haben, dessen Symptom der
Kampf jeder gegen jeden ist. Dabei ist
noch nicht ganz klar, wer wohin strebt.
Merz lenkt immer noch manche Sehn-
sucht auf sich. Dass er Angela Merkel an-
greift, ist so überraschend wie die Abfol-
ge von Weihnachten und Silvester. Die
beiden empfinden tiefe Abneigung fürein-
ander, seit sich ihre Wege Anfang des
Jahrtausends erst kreuzten und anschlie-
ßend – nachdem Merkel Merz den Frakti-
onsvorsitz erfolgreich streitig gemacht
hatte – trennten. Dass Merz jetzt derart
heftig auf Merkel losging, hatte jedoch ei-
nen konkreten Grund. Er hatte nach der
Thüringen-Wahl am Sonntag einen Tweet
abgesetzt, in dem er forderte, man könne
das schlechte Abschneiden der CDU
nicht mehr „ignorieren oder einfach aus-
sitzen“. Die „Bild“-Zeitung hatte diese
Forderung unter die Überschrift „Das gro-

ße AKK-Beben“ gestellt. Das wider-
sprach Merz’ Intention, der Kramp-Kar-
renbauer tatsächlich seit ihrer Wahl unter-
stützt und nicht öffentlich angreift. Offen-
bar setzt er darauf, nur mit ihr seine politi-
schen Ziele – die inhaltlichen wie die per-
sonellen – erreichen zu können. Daher
die korrigierende Attacke auf Merkel.
Kramp-Karrenbauer hatte am Montag
ihre Kritiker herausgefordert und gesagt,
wer die Führungsfrage stellen wolle, kön-
ne das ja Ende November auf dem Partei-
tag in Leipzig tun. Machttaktisch war das
ein kluger Schritt. Wer mehr als nörgeln
wollte, müsste auf dem Delegiertentref-
fen eine Entscheidung herbeiführen.
Etwa die über die Kanzlerkandidatur, die
Kramp-Karrenbauer erst im Herbst nächs-
ten Jahres treffen will. Auch wenn man
nicht weiß, was sie und Merkel im Ver-
trauen besprechen, so gibt es doch keinen
Hinweis, dass sie die Kanzlerin zum frühe-
ren Rückzug gedrängt hätte. Gelänge es,
eine Entscheidung zur Kanzlerkandida-
tur auf die Tagesordnung zu setzen, wäre
die Frage nach dem Verbleib der jetzigen
Vorsitzenden im Amt gleich mit gestellt.
Nichts spricht derzeit dafür, dass Merz
das vorhat. Armin Laschet, nordrhein-
westfälischer Ministerpräsident und Par-
teivize im Bund, der offenkundig den Ge-
danken an eine Kanzlerkandidatur für
sich nicht aufgegeben hat, dürfte das
wohl auch unterlassen aus Angst vor ei-
ner Niederlage. Nämliches gilt für Spahn.
Doch es gibt noch ein viel stärkeres Ar-
gument dafür, dass die CDU in Sachen
Kanzlerkandidatur in vier Wochen in
Leipzig noch keine Entscheidung treffen
wird. Einer der prominenten Gäste des
Treffens ist der neue starke Mann aus
München. Markus Söder, CSU-Vorsitzen-
der und bayerischer Ministerpräsident,
dürfte die Rolle seiner Partei bei der Fest-
legung des Unionskandidaten kaum auf

den Beobachterstatus begrenzt sehen wol-
len. Die CSU trägt zu den Bundestags-
wahlergebnissen der Union durchschnitt-
lich etwa zwanzig Prozent der Stimmen
bei. Mehr als genug, um ein Wort mitzure-
den. Das gilt unabhängig davon, dass Sö-
der derzeit keine erkennbaren Ambitio-
nen hat, selbst zu kandidieren.
Wie also könnte es weitergehen mit der
CDU, die sich im Abwärtsstrudel der
Wahlergebnisse gerade im Häuserkampf
ergeht? Der Parteitag dürfte für Kramp-
Karrenbauer wie für Merkel nicht ver-
gnüglich werden. Vermutlich wird einige
Kritik geäußert, vielleicht gibt es auch in-
haltliche Festlegungen, die die Regierung
zu einer stärkeren Berücksichtigung der
christdemokratischen Ziele zwingen soll.
Immer öfter wird in letzter Zeit ein harter
Kurs im Streit mit der SPD über die
Grundrente gefordert. Letztlich sitzt da
aber die Bundestagsfraktion am viel län-
geren Hebel als die Partei.
Kramp-Karrenbauer rechnet in diesen
Tagen sicherheitshalber mit vielen Ent-
wicklungen. Die Dynamik ist schwer vor-
herzusehen. Sie hat allerdings gute Chan-
cen, den Parteitag als Vorsitzende zu ver-
lassen. Sie wird im Moment nicht viel
Zeit haben, im Archiv zu stöbern. Aber
stattdessen kann Merkel ihr ja erzählen,
wie es ihr im ersten Jahr des Parteivorsit-
zes erging. Die Diskussionen von damals
und von heute, die Sticheleien und Schüs-
se aus der Deckung, die Zweifel an der
Vorsitzenden gleichen sich. Doch der da-
malige CSU-Vorsitzende drängte zur
Kanzlerkandidatur, anders als der heuti-
ge. Und Edmund Stoiber lag in den Umfra-
gen etwa bei vierzig Prozent, Merkel
mehr als zehn Punkte dahinter. Sie über-
ließ ihm die Kandidatur, er scheiterte
knapp. Drei Jahre später war sie Kanzle-
rin. Aber Geschichte wiederholt sich ja
angeblich nicht.

Angesteckt vom Virus der Erosion


LONDON, 29. Oktober. Das Ende die-
ses Parlaments wurde mit einer ironi-
schen Volte besiegelt: Drei Mal hatte
der Premierminister die Zweidrittel-
mehrheit für Neuwahlen verfehlt, zu-
letzt am Montag. Als er am Dienstag
nur noch eine einfache Mehrheit
brauchte, erhielt er – eine Zweidrittel-
mehrheit. Die Briten werden nun ein
neues Unterhaus wählen, und zwar an
jenem Tag, den sich der Premierminis-
ter gewünscht hatte: am 12. Dezember.
Möglich gemacht hatte es – ausge-
rechnet – die Labour Party. Nachdem
sie den Neuwahlantrag der Regierung
noch am Vortag hatte scheitern lassen,
konnte sich deren Vorsitzender Jeremy
Corbyn am Dienstag vor Begeisterung
über eine Neuwahl kaum noch halten.
Seine Partei werde dafür stimmen, kün-
digte er nach einer Gremiensitzung an.
Hinter ihm hatte sein „wunderbares“
Schattenkabinett Aufstellung genom-
men und applaudierte heftig, als er sag-
te: „Wir werden die größte Kampagne
entfachen, die diese Partei jemals hat-
te.“ Man werde „total geeint“ eine Bot-
schaft der „echten Hoffnung“ an die
Türschwellen tragen.
Es war eine erstaunliche Kehrtwen-
de, deren offizielle Begründung nicht
alle überzeugte. Man habe nunmehr
die Zusicherung der EU, dass der Aus-
trittstermin bis zum 31. Januar verlän-
gert werde, erklärte Corbyn. Die hatte
es allerdings schon am Tag zuvor gege-
ben. Aber da hatten sich noch jene in
der Partei durchgesetzt, die eine Wahl
verhindern wollten. In weiten Teilen
der Fraktion geht die Angst um, dass
die Labour Party als Verliererin aus frü-
hen Wahlen hervorgehen könnte. In
den Umfragen liegt sie mehr als zehn
Prozentpunkte hinter den Konservati-
ven. Viele Kritiker sehen mit der Wahl
zwei weitere Hoffnungen begraben: ih-
ren Vorsitzenden noch rechtzeitig los-
zuwerden und ein zweites Referen-
dum. Jetzt, wo das Parlament Mitte
kommender Woche aufgelöst wird,
kann ein neues Plebiszit über die EU-
Mitgliedschaft nur noch beschlossen
werden, wenn die Labour Party die
nächste Regierung bildet.
Trotz Corbyns Wende war bis zu-
letzt unsicher gewesen, ob der Tag
überhaupt in einer Neuwahl münden
würde. Der trickreiche Wahlgesetzge-
bungsprozess hielt Überraschungen be-
reit. Aufmerksamkeit kam einem Er-
gänzungsantrag mit dem Ziel zu, das
Wahlmindestalter von 18 auf 16 Jahre
abzusenken und den EU-Bürgern, die
schon länger im Königreich leben, das
Wahlrecht einzuräumen. Die Regie-
rung drohte, ihren Wahlantrag zurück-
zuziehen, würden diese Bedingungen
eine Mehrheit erhalten. Aber der Parla-
mentspräsident ließ das „amendment“
am Ende nicht zur Abstimmung zu.
Bis zuletzt hatten die Fraktionen tak-
tiert. Die Regierung hatte den Wahlan-
trag in Form eines Gesetzes einge-
bracht und so die Zustimmungsschwel-
le auf eine einfache Mehrheit herabge-
setzt. Dass sie diesen Weg nicht schon
vorher beschritten hatte, lag an den
Sorgen über Ergänzungsanträge der
Opposition, die über die Mehrheit im
Unterhaus verfügt. Die drei vorange-
gangen Anträge Johnsons waren nach
dem sogenannten Fixed-term Parlia-
ments Act eingebracht worden, der
eine Zweidrittelmehrheit verlangt, da-
für aber Ergänzungsanträge aus-
schließt. Erst die dritte Niederlage ver-
anlasste die Regierung, den anderen
Pfad einzuschlagen.
Zuvor waren ihr die Liberaldemokra-
ten und die Schottischen Nationalisten
entgegengekommen. Sie hatten am
Montag überraschend die Oppositions-
solidarität mit der Labour Party aufge-
kündigt und eine Neuwahl am 9. De-
zember vorgeschlagen. Mit diesem Ter-
min wollten sie sicherstellen, dass die
Regierung das Brexit-Gesetz nicht
noch im letzten Augenblick durchs Par-
lament peitscht. Aber die Regierung
nahm ihnen den Wind aus den Segeln
und versicherte, dass sie das Gesetz bis
zur Auflösung des Parlaments würde ru-
hen lassen. An Ende setzte die Regie-
rung ihren Termin mit 438 zu 20 Stim-
men durch.
Ein vollzogener Brexit vor dem
Wahltag hätte vor allem den Liberalde-
mokraten die Kampagne zerschlagen.
Sie wollen im Wahlkampf dafür wer-
ben, den Austrittsantrag zurückzuzie-
hen, was nur vor Vollzug des Brexits
möglich ist. Unter ihrer neuen Vorsit-
zenden Jo Swinson finden die Liberal-
demokraten viel Anklang unter Re-
main-Wählern – sehr zum Kummer
der Labour Party. Auch die Schotti-
schen Nationalisten stehen in den Um-
fragen gut da. Als Favorit starten nun
aber die Konservativen in den Wahl-
kampf. Skeptiker erinnern zwar an die
Wahl von 2017, als Theresa May auf
dem Höhepunkt der Umfrageerfolge
eine Neuwahl durchsetzte, um am
Ende die absolute Mehrheit zu verlie-
ren. Aber im Lager des Premierminis-
ters ist man zuversichtlich, dass John-
son seine erprobten Stärken als Wahl-
kämpfer ausspielen wird. Auch nach in-
nen setzte er am Dienstag ein Zeichen.
Am Abend nahm er die Hälfte der 21
Abgeordneten wieder auf, die er im
September wegen Missverhaltens aus
der Partei geworfen hatte.

cheh./frs.BEIRUT/MOSKAU, 29. Okto-
ber. Neue Gefechte und türkische Drohun-
gen haben am Dienstag die Hoffnung auf
einen dauerhaften Stopp der Gewalt im
Norden Syriens geschmälert. Laut einer
russisch-türkischen Übereinkunft endete
dort am frühen Dienstagabend eine 150
Stunden dauernde Waffenruhe. Die Füh-
rung in Ankara hatte ein dauerndes
Schweigen der Waffen in Aussicht ge-
stellt, es aber an die Bedingung geknüpft,
dass kurdische Milizionäre der „Volksver-
teidigungskräfte“ YPG aus einem dreißig
Kilometer breiten Streifen entlang der
Grenze abziehen.
Der türkische Verteidigungsminister
Hulusi Akar wurde am Dienstag wenige

Stunden vor dem Ende der 150-Stunden-
Frist von der Zeitung „Sabah“ mit den
Worten zitiert: „Der Kampf ist nicht vor-
bei. Uns ist klar, dass er nicht enden
wird.“ Es würden sich noch YPG-Milizio-
näre in der Grenzstadt Manbidsch und in
Tel Rifaat aufhalten. Beide Orte sollten
gemäß russisch-türkischer Übereinkunft
geräumt werden.
Allerdings gab es am Dienstag schon
vor dem Ende der Waffenruhe Kämpfe
zwischen arabischen Milizen unter türki-
schem Kommando und Kräften des As-
sad-Regimes, die von der kurdischen Au-
tonomieverwaltung zu Hilfe gerufen wor-
den waren. Die Nachrichtenagentur AFP
meldete am Nachmittag, sechs syrische

Soldaten seien in der Nähe des Grenzor-
tes Ras al Ain getötet worden. Es seien
die ersten Gefechte zwischen syrischen
Soldaten und türkischen Kräften gewe-
sen. Kämpfe gab es auch in der Nähe des
Ortes Tel Tamr. Arabische Milizionäre un-
ter türkischer Führung verbreiteten am
Dienstagnachmittag Videos, wie sie in
Stützpunkten des syrischen Regimes ein-
rückten und syrische Flaggen niederris-
sen. Sie posierten außerdem mit gefange-
nen und getöteten Soldaten des Regimes.
Das russische Verteidigungsministerium
wies kurdische Berichte zurück, laut de-
nen russische Militärpolizei, welche ge-
mäß der Übereinkunft im Grenzgebiet pa-
trouillieren soll, unter Beschuss geriet.

Vielmehr sei vor einem Treffen russischer
Militärpolizei mit türkischen Kräften an
der syrisch-türkischen Grenze ein Spreng-
satz detoniert. Es handele sich um eine
„erfolglose Provokation“, es habe keine
russischen Verletzten gegeben, behaupte-
te das Ministerium.
In Kairo sagte Bundesaußenminister
Heiko Maas, es gebe Anzeichen dafür,
dass die 150 Stunden Waffenruhe genutzt
worden seien, um gegenseitige Zusagen in
die Tat umzusetzen. „Jetzt kommt es dar-
auf an, dass die Waffen dauerhaft schwei-
gen.“ Nach Angaben des UN-Flüchtlings-
hilfswerks flohen in den vergangenen
zwei Wochen mehr als 12 000 Menschen
aus dem Nordosten Syriens.

Da hatte sie noch Oberwasser: Kramp-Karrenbauer mit Merz, Spahn und Merkel auf dem CDU-Parteitag 2018 Fotos Daniel Pilar


Rabiate


Kehrtwende


Warum Corbyn nun doch


für Neuwahlen stimmte


Von Jochen Buchsteiner


ERFURT, 29. Oktober. Die Mittei-
lung kam dann doch ungewöhnlich
schnell, und sie war ungewöhnlich
deutlich. „Für die CDU Thüringen gilt
nach der Wahl das Gleiche wie vor der
Wahl: Keine Koalition mit Linke oder
AfD, entsprechend der geltenden Be-
schlusslage der CDU Deutschlands
und Thüringens“, teilte die Partei am
späten Montagabend mit. „Ich kann
mir keine Situation vorstellen, dass
die abgewählte rot-rot-grüne Landes-
regierung durch die Unterstützung der
CDU in eine neue Regierungsverant-
wortung gehoben wird. Das schließt
sich aus“, erklärte der Landesvorsit-
zende Mike Mohring. Noch am Mor-
gen nach der Wahl hatte das ganz an-
ders geklungen. Da hatte sich Thürin-
gens CDU-Chef in Berlin offen gezeigt
für Gespräche mit Ministerpräsident
Bodo Ramelow (Linke) und eine wie
auch immer geartete Zusammenarbeit;
Ratschläge aus Berlin und der Bundes-
politik hatte er sich verbeten. Er wolle
Stabilität für Thüringen und keine Hän-
gepartie, hatte Mohring auch im Wahl-
kampf stets betont, damals freilich in
der Absicht, den Regierungsauftrag in
den eigenen Händen zu haben. Doch
das kam am Wahltag anders.
Mohrings Zugehen auf die Linke
hatte sowohl in der CDU Thüringens
als auch deutschlandweit sofort hefti-
gen Widerstand ausgelöst. An der Be-
schlusslage seiner Partei, die eine Zu-
sammenarbeit neben der AfD auch
mit der Linken ausschließt, kam er am
Ende nicht vorbei. Zu einem Ge-
spräch, zu dem ihn Ramelow wie die
Vertreter aller anderen im Landtag
vertretenen Parteien außer der AfD
eingeladen hat und das voraussicht-
lich in der kommenden Woche stattfin-
det, wird Mohring dennoch gehen. Da-
für gab ihm der Parteivorstand am
Abend einhellig grünes Licht. Thürin-
gens Alt-Ministerpräsident Bernhard
Vogel, der an der Vorstandssitzung
teilnahm, hatte bereits zuvor erklärt,
dass demokratische Parteien immer
miteinander sprechen können müss-
ten und die CDU sich deshalb auch Ge-
sprächen mit der Linken nicht versa-
gen dürfe. Zugleich machte er aber
auch klar, dass eine Koalition mit der
Linken für die Union weiterhin nicht
in Frage komme. Mohring erklärte,
der Einladung Ramelows „aus staats-
politischer Verantwortung nachkom-
men“ zu wollen. „Nicht mehr und
nicht weniger.“ Zugleich legte er Wert
darauf, ausschließlich mit Ramelow,
nicht aber mit der Linken oder deren
Vorsitzender, Susanne Hennig-Well-
sow, zu sprechen.
Unterdessen treffen die bisherigen
Koalitionspartner Linke, SPD und Grü-
ne an diesem Mittwoch zu einem ers-
ten Gespräch nach der Wahl zusam-
men. Bei SPD und Grünen, die am
Sonntag ebenfalls schwere – und im
Fall der Grünen unerwartete – Verlus-
te hinnehmen mussten, rumort es an
der Basis. Während einige Sozialdemo-
kraten den Gang in die Opposition be-
fürworteten, plädierte SPD-Chef und
Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefen-
see für die von den Linken angestrebte
Minderheitsregierung. Die Grünen er-
klärten, dass „Stabilität für Thüringen“
Vorrang habe. „Ob eine Minderheitsre-
gierung das Richtige ist, werden wir be-
sprechen müssen“, sagte Fraktionschef
Dirk Adams. Rot-Rot-Grün fehlen im
Landtag vier Stimmen für eine eigene
Mehrheit. Die FDP, die knapp den
Sprung über die Fünfprozenthürde
schaffte, erklärte, weder für eine Koali-
tion noch für eine Tolerierung bereit
zu sein, sich aber einer „sachbezoge-
nen Zusammenarbeit“, etwa bei der Be-
seitigung des Unterrichtsausfalls,
nicht verschließen zu wollen. „Wir ste-
hen für Vernunft, und dazu zählen
auch neue und andere Formen des Mit-
einanders im Parlament“, sagte FDP-
Vorsitzender Thomas Kemmerich die-
ser Zeitung. Vernünftige Vorschläge ei-
ner Minderheits-Koalition werde seine
Partei nicht ablehnen, wenn die Koali-
tion im Gegenzug auch Vorschläge der
Opposition aufgreife.


Hoffnungen auf dauerhafte Waffenruhe gedämpft


In Nordsyrien erstmals Kämpfe zwischen arabischen Milizen und Regimekräften / Mehr als 12 000 neue Flüchtlinge


Mohring


rudert zurück


Streit nach Zugehen der


CDU auf Linkspartei


Von Stefan Locke


Die CDU tut, wovor


stets gewarnt wird: Sie


steckt im Sumpf und


strampelt wie verrückt.


Dabei reicht doch der


Blick auf die SPD, um


zu sehen, wie das


enden kann.


Von Eckart Lohse

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