Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

(Joyce) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Finanzen MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252·SEITE 25


maf.FRANKFURT, 29. Oktober. Es
gibt Finanzplätze, die sich dem Wettbe-
werb um Brexit-Verlagerungen zu entzie-
hen versucht haben. Das trifft im Gegen-
satz zu Frankfurt oder Paris auf Luxem-
burg zu, wo der EU-Austritt Großbritan-
niens stets als Verlust und nie als Chance
für eine größere Rolle des eigenen Fi-
nanzplatzes wahrgenommen worden ist.
In Frankfurt wurde der Brexit auch als
Chance wahrgenommen, als Finanzplatz
an Bedeutung zu gewinnen. Doch das Fi-
nanzzentrum der größten europäischen
Volkswirtschaft mit dem Sitz der Euro-
päischen Zentralbank (EZB) ist nicht die
bevorzugte Wahl, wenn es um Verlage-
rungen von Geschäften geht: Nach den
jüngsten Zahlen der kapitalmarktnahen
Denkfabrik New Financial führt Dublin
mit 116 Finanzdienstleistern, die Ge-
schäfte in die irische Hauptstadt verla-
gert haben. Dahinter kommt Luxemburg
mit 71 Zuzügen. Mit 69 Gesellschaften
nimmt Paris den dritten Platz ein vor
Frankfurt (45) und Amsterdam (40). Die
Zahl der Verlagerungen muss nicht be-


deuten, dass gleichzeitig viele neue Ar-
beitsplätze entstehen. Oftmals werden
die schon bestehenden Niederlassungen
vor Ort genutzt.
Jedoch weisen nach einer Studie der
Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsge-
sellschaft PWC die Verlagerungen im
Zuge des Brexits auch auf eine Neuvertei-
lung der Geschäftsaktivitäten hin. Diese
würden tendenziell dorthin verlagert,
wo das lokale Wirtschaftssystem am bes-
ten darauf ausgerichtet sei. So würden
der Derivatehandel und das Investment-
banking bevorzugt nach Frankfurt oder
Paris verlegt, während Vermögensver-
walter sich meistens für Dublin oder Lu-
xemburg entschieden.
Ganz genau weiß es Nicholas Mackel,
Chef der Finanzplatzinitiative Luxem-
bourg for Finance: Wegen des Brexits
hätten insgesamt 57 Gesellschaften öf-
fentlich bekanntgegeben, dass sie Aktivi-
täten nach Luxemburg verlagert hätten.
Hinzu kämen noch verschiedene Unter-
nehmen, die diesen Schritt nicht öffent-
lich gemacht hätten, so dass sich die Ge-


samtzahl der Finanzunternehmen mit
Brexit-bedingten Verlagerungen nach
Luxemburg auf etwa 70 belaufen dürfte.
In den vergangenen sechs Monaten sei-
en nur einige kleinere Gesellschaften
hinzugekommen. Die großen Finanz-
dienstleister hatten sich Mackel zufolge
auf den 29. März als EU-Austrittsdatum
Großbritanniens vorbereitet. Unter den
57 Gesellschaften, die ihren Umzug
nach Luxemburg bekanntgegeben ha-
ben, befinden sich 30 Vermögensverwal-
ter, neun Banken, 13 Versicherer und
fünf Zahlungsdienstleister.
Neben Dublin und Amsterdam ent-
wickle sich Luxemburg zu einem Zen-
trum im EU-Zahlungsverkehr, schreiben
die PWC-Berater. Nach Angaben von Ma-
ckel hat Paypal seinen Europa-Sitz im
Großherzogtum, ebenso wie Amazon
Pay oder Rakuten. Nun ziehe auch der
Zahlungsdienst von AirBnB nach Luxem-
burg. „Unser Finanzplatz hat im Bereich
moderner Zahlungsdienste inzwischen
die nötige kritische Masse erreicht“, ist
Mackel überzeugt. Dort fänden die Un-
ternehmen qualifiziertes Personal und
eine Finanzaufsicht, die sich auf dem Ge-
biet des grenzüberschreitenden Zah-
lungsverkehrs auskenne. „Das macht Lu-
xemburg auch für junge Fintechs aus die-
sem Bereich interessant“, fügt er hinzu.
Als moderner Finanzplatz will Luxem-
burg auch bei nachhaltigen Finanzen mit
gutem Beispiel vorangehen. Die Luxem-
burger Börse nimmt mit grünen, ökologi-
schen Projekten dienenden Anleihen
eine führende Rolle ein. Fast die Hälfte al-
ler grünen Anleihen in der Welt sind dort
gelistet. Das entspricht einem Volumen
von 200 Milliarden Dollar. Allerdings ver-
steht sich die Luxemburger Börse als No-
tierungsbörse. Gehandelt wird in Lon-
don, Paris oder Frankfurt. Aber nachhalti-
ge Finanzen werden auch in der Vermö-
gensverwaltung wichtiger. Luxemburg ist
für nachhaltig anlegende Fonds, soge-
nannte Responsible Investing Funds, der
wichtigste Standort. Jeweils ein Drittel
dieser Fonds, insgesamt 2816, und des
von ihnen verwaltenden Vermögens, ins-
gesamt 496 Milliarden Euro, sind dort an-
gesiedelt. Luxemburg hat sich für den Kli-
maschutz ehrgeizige Ziele gesetzt: Bis
2050 will das Land CO 2 -neutral sein.
Vom 1. März 2020 gilt im Großherzog-
tum der „Freifahrtschein“ für den öffentli-
chen Nahverkehr. Bus, Tram und Bahn
können dann kostenlos genutzt werden.

Schon jetzt ist Luxemburg mit 14 900
Fonds und einem verwalteten Vermögen
von 4,4 Billionen Euro in Europa der
wichtigste Fondsstandort und in der
Welt die Nummer zwei hinter den Verei-
nigten Staaten. Der Anteil britischer
Fondsgesellschaften in Luxemburg ist
auf Basis des verwalteten Vermögens
seit Ende 2016 kontinuierlich gestiegen
und liegt nun bei 18,4 Prozent, wie
Marc-André Bechet, Director Legal &
Tax beim Luxemburger Fondsverband
Alfi berichtet. Er führt dies teilweise auf
den Brexit zurück. Luxemburg sei auch
schon vor dem Brexit eine wichtige Platt-
form für britische Vermögensverwalter
gewesen, die den europäischen Markt be-
dienen wollten. Insofern seien die direk-
ten Brexit-Effekte zum Beispiel für neue
Arbeitsplätze überschaubar, so Bechet.
Ein Problem, das der Brexit nach sich
ziehen kann, ist seinen Worten zufolge
die sogenannte „Delegation“. Typischer-
weise ist die Administration, also die Ver-
waltung der Fonds, in Luxemburg ange-
siedelt, während das Portfolio-Manage-
ment, also die Anlageentscheidungen,
die in London sitzenden Fondsmanager
vornehmen. Nach den EU-Richtlinien ist
dies möglich, wenn bestimmte Vorgaben
eingehalten werden. „Für die Zukunft
nach einem Brexit kommt es darauf an,
dass diese Möglichkeit erhalten bleibt
und eine mögliche neue Regulierung in
Großbritannien von der EU als gleichwer-
tig zum EU-Standard eingestuft wird“,
sagt Bechet. Andernfalls würde die Dele-
gation unmöglich. „Das würde zu einer
stärken Fragmentierung der Investment-
branche in Europa führen und nicht zu-
letzt deren Position im globalen Wettbe-
werb – etwa mit Anbietern aus den Verei-
nigten Staaten oder auch China – schwä-
chen“, befürchtet der Alfi-Fachmann.
Waren es früher Steuervorteile, die Lu-
xemburg als Fondsstandort geholfen ha-
ben, sind nun kurze Wege und gute Kon-
takte zur Finanzaufsicht entscheidend.
Mehr als jeder zweite in Deutschland ver-
triebene Publikumsfonds sitzt in Luxem-
burg. Dass Luxemburg noch immer mit
aggressiver Steuergestaltung in Verbin-
dung gebracht wird, kann Mackel von der
Finanzplatzinitiative nicht verstehen. Er
verweist auf die stets guten Zeugnisse der
OECD für die Steuerpolitik Luxemburgs.
„Mit einer Unternehmensbesteuerung
von 25 Prozent liegt Luxemburg nicht all-
zu weit entfernt von Deutschland mit 28
Prozent“, sagt Mackel.

FRANKFURT,29. Oktober. Eine große
Anzahl von Ehen wird heutzutage nicht
mehr durch Tod, sondern vor dem Richter
geschieden. Sowohl im Scheidungsverfah-
ren als auch nach der Scheidung haben
die getrennten oder geschiedenen Eheleu-
te erbrechtlichen Handlungsbedarf. Hat
man entschieden, sich zu trennen, sollte
man sofort sowohl die vorhandenen Testa-
mente als auch die Bezugsberechtigungen
in privaten Lebens- und Rentenversiche-
rungen prüfen. Denn mit Trennung er-
lischt nicht sofort das gesetzliche Erb-
recht oder das Pflichtteilsrecht des Ehe-
partners. Das Gesetz ordnet an, dass das
gesetzliche Erbrecht und damit auch das
Pflichtteilsrecht des überlebenden Ehe-
gattens erst erlischt, wenn zur Zeit des To-
des des Erblassers die Voraussetzungen
für die Scheidung gegeben waren und der
Verstorbene die Scheidung beantragt
oder ihr zugestimmt hatte. Verstirbt ein
Ehepartner im ersten Trennungsjahr und
hat nicht gehandelt, ist der andere weiter-
hin gesetzlicher Erbe, was aber sicherlich
nicht mehr gewollt war. Mit der Trennung
sollte man deswegen seine testamentari-
schen Regelungen überprüfen und sich
auch fragen, ob der andere noch weiter-
hin Begünstigter der privaten Kapital-
lebensversicherung sein soll.
Aber spätestens mit der Scheidung
wird ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Auch da ist man aber noch nicht endgül-
tig auseinander. Der oder die Ex ist zwar
nicht mehr gesetzlicher Erbe, er kann es
aber indirekt werden. Verstirbt der ehema-
lige Ehepartner und hat er die eigenen
Kinder als Erben eingesetzt, so erben die-
se sein Vermögen. Sind diese minderjäh-
rig, so hat ungeregelt der andere Erzie-
hungsberechtigte die Vermögensverwal-
tung über das ererbte Vermögen inne. Ver-
sterben dann noch die Kinder, so erbt die-
ser das Vermögen der Kinder. Wüsste der
zuerst verstorbene Ehepartner darum, er
würde im Grabe rotieren.
Das Geschiedenen-Testament ver-
sucht, diese unglückliche Situation zu ver-
meiden, indem angeordnet wird, dass die
Kinder – jedenfalls für die Dauer der Le-
benszeit des geschiedenen Ehepartners –
nur Vorerben sind und Nacherben das an-
dere Kind oder andere Personen als gera-
de der ehemalige Ehepartner. Die Vor-
und Nacherbschaft stellt sicher, dass das
von einem Ehepartner stammende Ver-
mögen auch bei Nachversterben der Kin-
der nicht an den geschiedenen Ehepart-

ner fallen kann. Darüber hinaus sollte
man die Vermögenssorge bis zur Volljäh-
rigkeit dieses Kindes dem oder der Ex ent-
ziehen und gleichzeitig eine Testaments-
vollstreckung bis zum 28. Lebensjahr des
Kindes vorsehen, damit auch nicht indi-
rekt das noch lebende Elternteil zum Bei-
spiel in die ererbten Unternehmensbeteili-
gungen hineinregieren kann. Die Möglich-
keit einer Scheidung sollte man auch bei
Schenkungen an die noch minderjähri-
gen Kinder berücksichtigen. Regelt man
nichts, so wird das geschenkte Haus oder
die geschenkte Unternehmensbeteiligung
von beiden Eltern auch nach der Schei-
dung gemeinsam verwaltet. Vorsehen
kann man aber, dass der jeweilige Schen-
ker die Vermögenssorge des anderen Ehe-
partners ausschließt und er allein bis zur
Volljährigkeit dieses Kindes dieses Ver-
mögen verwalten kann. Ähnliche Überle-
gungen sollten auch Großeltern anstel-
len, die zum Beispiel aus erbschaftsteuer-
lichen Gründen eine Generation über-
springen wollen. Sie können in ihrem
Schenkungsvertrag anordnen, dass die
Vermögenssorge des von ihnen geschenk-
ten Vermögens bei dem Kind liegt, das
die Verwandtschaft zwischen den Großel-
tern und den Enkeln herstellt.
Oftmals bleiben Geschiedene nicht al-
lein, sondern heiraten wieder. Diesmal
wollen sie es besser machen: Sie verheira-
ten sich mit einem Ehevertrag. Verstirbt
dann der Geschiedene, kann es sehr streit-
anfällig werden. Die Kinder erster Ehe
fühlen sich zurückgesetzt und versuchen,
den verlassenen Ehepartner zu rächen,
und der neue Ehepartner kämpft für die
eigenen gemeinsamen Nachkömmlinge
aus der zweiten Ehe. Im Ehevertrag für
die zweite Ehe müssen deswegen schon
leitende Überlegungen angestellt werden.
Das beginnt schon bei der Wahl des Ehe-
güterstands. Der Geschiedene wird oft-
mals instinktiv zur Gütertrennung nei-
gen, weil er aus den Erfahrungen des Ro-
senkriegs der ersten Ehe nicht nochmals
mehrere Jahre die Wertermittlung seines
Anfangs- und Endvermögens durchstrei-
ten möchte mit Gutachtern, Gegengutach-
tern und Obergutachtern. Macht er dies,
muss er sich natürlich bewusst sein, dass
dies die Erbquoten und damit auch die
Pflichtteilsquoten der Kinder erster Ehe
erhöht. Gleichzeitig vergibt er sich die
Möglichkeit, eine besondere Erbschaft-
steuerbefreiung für die Versorgung des
neuen Ehepartners zu nutzen. Im Ehegü-

terstand der Zugewinngemeinschaft wird
so viel von der Erbschaft des überleben-
den Ehegatten in der Erbschaftsteuer frei-
gestellt, wie er im Scheidungsfall als Zuge-
winn von dem anderen Ehepartner verlan-
gen könnte. Dies bedeutet: Lebte er im
Güterstand der modifizierten Zugewinn-
gemeinschaft statt der Gütertrennung,
könnte er einerseits das Scheidungsrisiko
für die zweite Ehe ausschließen, weil mo-
difizierte Zugewinngemeinschaft heißt,
dass bei Scheidung Gütertrennung gilt,
gleichzeitig aber die Pflichtteilsansprü-
che der Kinder erster Ehe beschränkt
sind und er sich gleichzeitig die Möglich-
keit einer Erbschaftsteuerbegünstigung
des Erwerbes des überlebenden Ehepart-
ners bewahrt hat. Um die unglücklichen
Konkurrenzsituationen zwischen den Be-
teiligten verschiedener Beziehungen zu
vermeiden, sollte man insbesondere im
Unternehmer- oder Immobilieneigen-
tümerhaushalt anlässlich der ersten Schei-
dung eine erbrechtliche Mindestversor-
gung der Kinder erster Ehe gleich mitre-
geln und auch bei Wiederverheiratung im
höheren Alter, wenn keine gemeinsamen
Kinder mehr zu erwarten sind, im Ehever-
trag mit dem neuen Ehepartner dessen
erbrechtliche Versorgung ebenfalls re-
geln. Dies kann zum Beispiel eine Ver-
mächtnisrente für diesen Ehepartner
sein, ein Wohnrecht oder ein Zinshaus.
Denkt man über Rentenansprüche nach,
sollte man darüber nachdenken, diese
Rentenverpflichtung nicht den Erben –
meistens den Kindern erster Ehe – aufzu-
erlegen, weil sie dann wenig charmant
manchmal dann lebenslänglich einer Per-
son eine Rente zahlen müssen, die Schei-
dungsgrund für die erste Ehe war. Statt-
dessen sollte diese Rentenverpflichtung
über Rentenversicherungen bei Versiche-
rungsgesellschaften außerhalb des Nach-
lasses ausfinanziert werden. Dies wird
auch der neue Ehepartner als sehr ange-
nehm empfinden, weil er sich nicht wirt-
schaftlich abhängig von den Kindern ers-
ter Ehe machen möchte. Derartige Verein-
barungen führen dazu, dass die verschiede-
nen Familienzweige deutlich unbefange-
ner miteinander umgehen können, da sie
wissen, dass ihre verschiedenen familien-
und erbrechtlichen Rechtspositionen gere-
gelt sind. Die Sorge, zu kurz zu kommen
und am Ende ineinander verkeilt Partei ei-
nes hässlichen kosten-, nervenzehrenden
und Lebensqualität raubenden Erbstreits
zu sein, wird dadurch vermieden.

A


lle Jahre wieder rufen Sparkassen
und Banken Ende Oktober zum
Weltspartag auf. Ein lustiger Tag,
an dem die Kinder mit leuchtenden Au-
gen ihre Sparschweinchen und Spardosen
zum Ausleeren am Bankschalter vorbei-
bringen und im Gegenzug bunte Luftbal-
lons, Stifte und Comichefte erhalten. Und
auch die Erwachsenen erinnern sich an
diesem Tag gern mal ganz nostalgisch dar-
an, wie wichtig das Sparen für eine vor-
bildliche Lebensweise doch eigentlich ist,
getreu dem alten Motto „Spare in der
Zeit, dann hast du in der Not“.
In diesem Jahr aber dürfte es nicht
ganz so idyllisch zugehen: Zumindest war
in den vergangenen Tagen schon ziemlich
viel von Protest die Rede. Zwar war es
vollkommen unterschiedlich, gegen wen,
für was und weshalb eigentlich protestiert
werden soll. Aber es scheint doch tatsäch-
lich, als könne der Sparerwelt diesmal ein
Weltspartag der Proteste bevorstehen.
Am bemerkenswertesten war zweifel-
los der Aufruf der höchst seriösen Finanz-
aufsichtsbehörde Bafin zum Protest ge-
gen niedrige Zinsen. Er richtete sich kei-
neswegs an unzufriedene Kleinsparer aus
Deutschland, die sich insgeheim schon
lange gedacht haben, gegen den eklatan-
ten Mangel an Verzinsung der Guthaben
auf dem Sparbuch müsste man eigentlich
mal mit Transparenten und Sprechchören
auf die Straße gehen.
Nein, ein Bafin-Exekutivdirektor wur-
de am Dienstag von einer Tagung der Be-
hörde in Bonn zitiert, die deutschen Versi-
cherer sollten sich das mit den niedrigen
Zinsen nicht länger gefallen lassen. Da
würde sich manch ein Sparer vermutlich
gern anschließen. Nur: Wenn es stimmt,
was Ökonomen nicht müde werden zu
wiederholen, nämlich dass die niedrigen
Zinsen gar nicht von der Europäischen
Zentralbank erfunden wurden, sondern
mit einem Überhang der Ersparnisse am
Kapitalmarkt zusammenhängen, was un-
ter anderem eine Folge des Sparens fürs
Alter in alternden Gesellschaften sei –
dann fragt man sich natürlich, gegen wen
man denn überhaupt sinnvollerweise de-
monstrieren könnte, wenn man seinem
Protest gegen niedrige Zinsen Ausdruck
verleihen will. Das ist ja nicht trivial. Wo-
möglich müssten Sparer, wenn sie sich
das ganz genau und bis zum Ende überle-
gen, dafür demonstrieren, dass nicht
mehr so viel gespart wird – damit das An-
gebot an Ersparnissen schrumpft und der
Zins wieder höher ausfällt.
Ganz andere Vorstellungen von Protest
zum Weltspartag haben dagegen der
Dachverband der kritischen Aktionäre
und eine Organisation namens „Urge-
walt“. Diese rufen dazu auf, am Weltspar-
tag gegen das Engagement von Sparkas-
sen bei Kohle- und Rüstungsunterneh-
men zu protestieren. Dafür empfehlen sie
so unterschiedliche Schritte wie das pro-
testierende Geldabheben bei Sparkassen,
das protestierende Trinken sogenannter

Blut-Cocktails (das ist hoffentlich nicht
wörtlich gemeint) und das protestierende
Verteilen von Flugblättern.
Auch aus der Fintech-Szene gibt es ei-
nen Aufruf zu Protesten am Weltspartag,
gleichsam gegen die konventionelle Ban-
kenwelt und ihre Methoden. Das Finanz-
Start-up Tomorrow aus Berlin, ein Anbie-
ter eines digitalen Girokontos, ruft dazu
auf. Es schlägt vor, den Weltspartag ein-
fach umzukehren. Die Methode klingt auf
Anhieb etwas radikaler als Blut-Cocktails
oder Protestnoten an die Europäische
Zentralbank: Das Fintech ruft nämlich
zum Bankraub auf – und verbreitet dazu
im Internet Fotos von Menschen mit re-
genbogenfarbenen Sturmhauben über
dem Gesicht, begleitet von dem Motto:
„Raub Dein Geld und veränder die Welt“.
So wild das klingt, will das Unternehmen
aber wohl nicht dazu aufrufen, für seinen
Idealismus gegebenenfalls eine Haftstrafe
billigend in Kauf zu nehmen, sondern
nennt den vorgeschlagenen Weg „Bank-
raub for good“: Die Leute sollten einfach
am Weltspartag ihr Geld am Automaten
einer konventionellen Bank abheben und
dann zu ihnen bringen – ein Vorschlag,
den man dann wiederum marketingtech-
nisch aus Sicht des Fintechs sicherlich ver-
stehen kann. Begründet wird der Aufruf
unter anderem mit den hohen Gehältern
in Banken, ihrer Lobbyarbeit – und dem
unschönen Handel mit heiklen Finanzpro-
dukten. CHRISTIAN SIEDENBIEDEL

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Geschiedene haben Beratungsbedarf


Testamente und ihre Folgen (Teil 3) / Von Christian von Oertzen und Frank Hannes


nks. NEW YORK, 29. Oktober. An der
Wall Street hellt sich die Stimmung merk-
lich auf. Nach einer monatelangen, von
teilweise starken Schwankungen begleite-
ten Seitwärtsbewegung der Aktienkurse
hat der breitgefasste Aktienindex S&P
500 zum Wochenauftakt ein neues Re-
kordhoch erzielt. Am Dienstag notierten
die Kurse gut behauptet, obwohl der Inter-
netkonzernAlphabet(Google) die Erwar-
tungen der Analysten für das vergangene
Quartal enttäuscht hatte – einer der weni-
gen Fehltritte in einer trotz düsterer Pro-
gnosen bisher überraschend gut laufen-
den Bilanzsaison.
Mehrere Aktienstrategen an der Wall
Street halten das Rekordhoch vom Mon-
tag für einen Vorboten weiter steigender
Kurse. „Angesichts der Fortschritte bei
den Handelsgesprächen, könnte der
Markt unser Kursziel für Mitte 2020 frü-
her als erwartet erreichen“, sagte Dubrav-
ko Lakos-Bujas, der bei der Bank JP Mor-
gan Chase die Anlagestrategie für ameri-
kanische Aktien verantwortet. JP Morgan
prognostizierte für Mitte des kommenden
Jahres zuletzt einen Indexstand von 3200
Punkten. Auf Basis des aktuellen Niveaus
würde das weiteren Kursgewinnen von
rund 5 Prozent entsprechen. Lakos-Bujas
glaubt allerdings, dass der S&P 500 mögli-
cherweise jetzt schon Ende 2019 diese
Marke erreicht.
Der neuerliche Optimismus resultiert
neben der – bisher allerdings wiederholt
enttäuschten – Hoffnung auf eine Lösung
im Handelskonflikt zwischen den Verei-
nigten Staaten und China aus der besser
als erwartet laufenden Bilanzsaison für
das dritte Quartal. Zwar kalkulieren Ana-
lysten für die im S&P 500 abgebildeten
Unternehmen im Vergleich zum Vorjahr
immer noch mit einem Rückgang der Ge-
winne um 3,7 Prozent. Nachdem zwei
Fünftel der Konzerne ihre Zahlen veröf-
fentlicht haben, liegen die Ergebnisse al-
lerdings um knapp 4 Prozent über den
Prognosen. Unternehmen und Analysten
hatten ihre Prognosen im Vorfeld der Bi-
lanzsaison allerdings deutlich reduziert.
Die größten positiven Überraschungen
innerhalb einzelner Branchen gab es bei
den Technologiewerten, welche die Er-
wartungen um fast 8 Prozent übertrafen.
Für den gesamten Aktienmarkt hat das
eine große Bedeutung, weil auf Technolo-
gieaktien mehr als ein Fünftel des gesam-
ten Börsenwertes im S&P 500 entfällt.
Technologiewerte, die sensibel auf kon-
junkturelle Trends reagieren, waren in
den vergangenen Jahren der wichtigste
Motor der Hausse an der Wall Street.
Die Aktien des SoftwareherstellersMi-
crosoftstiegen am Montag auf ein Re-


kordhoch, nachdem der Konzern einen
10-Milliarden-Dollar-Auftrag des ameri-
kanischen Verteidigungsministeriums er-
halten hatte. Microsoft hatte in der ver-
gangenen Woche bessere Zahlen als er-
wartet sowohl für Umsatz als auch Ge-
winn des vergangenen Quartals gemel-
det. Der Aktienkurs des Elektronikkon-
zernsApple, der am Mittwoch nach Bör-
senschluss seine Ergebnisse vorlegen
wird, war am Montag ebenfalls auf ein Re-
kordhoch gestiegen. Apple und Microsoft
sind mit einer Marktkapitalisierung von
jeweils mehr als 1,1 Billion Dollar die
wertvollsten amerikanischen Unterneh-
men. Beide Titel gaben am Dienstag im
frühen Handel etwas nach.
Neben dem Tauwetter bei den Handels-
gesprächen wird der Aktienmarkt auch
von der Hoffnung auf weitere Leitzinssen-
kungen der amerikanischen Notenbank
gestützt. Die Mehrheit der Ökonomen an
der Wall Street rechnet bei der Sitzung
der Federal Reserve in dieser Woche mit
einer anhaltenden Lockerung der Geldpo-
litik. Die Fed hat die Leitzinsen in diesem

Jahr bereits zweimal zurückgenommen,
um potentiell negativen Auswirkungen ei-
ner Konjunkturabkühlung entgegenzu-
steuern.
Die Hoffnung auf anhaltendes Wirt-
schaftswachstum beflügelte daher vor al-
lem konjunktursensible Titel, zu denen
neben Tech-Werten auch Grundstoffher-
steller, Industrieaktien und zyklische Kon-
sumtitel zählen. „Der Markt sendet eine
sehr deutliche Botschaft: Die zyklischen
Aktien erholen sich und entwickeln sich
überdurchschnittlich gut“, sagte Andrew
Slimmon, Aktienfondsmanager beim Ver-
mögensverwalter Morgan Stanley Invest-
ment Management. „Wenn die Konjunk-
tur wirklich vor schweren Zeiten stünde,
würden sich diese Aktien nicht erholen.“
Slimmon interpretiert das Rekordhoch
ebenfalls als Signal für weiter steigende
Kurse. Anleger, die mit nachlassendem
Wirtschaftswachstum rechnen, sichern
sich häufig mit weniger konjunktursensi-
blen Papieren ab, darunter Versorgungs-
werte, Immobilienaktien oder nichtzykli-
sche Konsumwerte wie Hersteller von Ba-

bywindeln oder Zahnpasta. JP-Morgan-
Stratege Lakos-Bujas geht davon aus,
dass die besser werdende Stimmung für
zunehmendes Kaufinteresse von Profi-
anlegern wie Hedgefonds führen wird,
die bisher Zurückhaltung geübt hatten.
„Das dürfte den Kursanstieg stützen“,
meint Lakos-Bujas.
Vertreter der Vereinigten Staaten und
Chinas hatten von „kurz vor dem Ab-
schluss stehenden“ Teilen eines Handels-
abkommens gesprochen, was die Hoff-
nung auf eine umfassendere Einigung be-
stärkte. Sollten die Vereinigten Staaten
und China ihre bereits gegenseitig ver-
hängten Strafzölle aufheben, könnten die
Unternehmen im S&P 500 ihren Gewinn
je Aktie um mehr als 25 Prozent steigern,
meint JP-Morgan-Stratege Lakos-Bujas.
Und selbst wenn die bestehenden Zölle in
Kraft blieben, aber keine neuen Zölle ver-
hängt würden, dürfte der Nachholbedarf
bei der Nachfrage von Verbrauchern und
Unternehmen für steigende Unterneh-
mensgewinne sorgen – schon im laufen-
den vierten Quartal.

Kühn
Ein Weinkeller im Indischen Ozean:
Nichts ist unmöglich auf den Malediven

BREXIT
Was bisher geschah – und was
noch auf uns zukommt.

Kahl
Kann ich mal Ihre Wohnung sehen?
Naomi Schenck sucht in New York

Luxemburg verliert London als Partner


Fintechs und nachhaltige Finanzen stehen für einen modernen Finanzplatz


Amerikanische Aktienkurse auf Rekordniveau


Weltspartag der Proteste


Nur das Schweinchen zur Sparkasse bringen – das war früher
Die Entspannung im


Handelskonflikt und bessere


Unternehmensbilanzen als


erwartet beflügeln


amerikanische Aktien.


Abstand zwischen tatsächlichen und prognostizierten Gewinnen im dritten Quartal 2019, nach Branchen in Prozent

Gewinne im S & P 500 besser als erwartet


Durchschnitt
S & P 500
3,8%

Grundstoffe
Versorger

Informationstechnologie

Industrie

Gesundheit

Energie

Nicht-zyklische Konsumgüter

Zyklische Konsumgüter

Finanzen

Immobilien

Telekommunikation

7,3
5,2

7,9

2,1

4,4

3,8

4,9

3,9

1,3

2,2

4,6

Quelle: Factset, Earnings Insight / Foto Reuters / F.A.Z.-GraOk Brocker

Der Kurs der
Microsoft-Aktie
erreicht Rekordniveau.

Krass
Drei Tage, zwei Nächte:
Lauter Kontraste in Braunschweig
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