Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

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SEITE 4·MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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MÜNCHEN, 29. Oktober


B


undesinnenminister Horst Seehofer
lobte am Dienstag in München die
„gute Diskussion“, die er im
G-6-Format mit seinen Kollegen aus Frank-
reich, Spanien, Großbritannien, Italien
und Polen gehabt hatte. In der Pressekonfe-
renz, die sich im Wesentlichen um das The-
ma Migration drehte, laut Seehofer „die
wichtigste innenpolitische Frage in Euro-
pa“, wurde aber vor allem deutlich, wie
dick die Bretter sind, die es dort nach wie
vor zu bohren gilt. Seehofer formulierte
das Offensichtliche: Das Dublin-System,
nach dem Asylbewerber in demjenigen
EU-Staat ihr Verfahren bekommen, in
dem sie zuerst europäischen Boden betre-
ten haben, sei „gescheitert“ und könne „kei-
ne Grundlage für die künftige Asylpolitik
in der EU“ sein. Seehofer sagte, die meis-
ten Staaten in Europa beantworteten nicht
einmal mehr die Schreiben, die Deutsch-
land ihnen als Erstaufnahmestaaten zu-
kommen lassen müsse.
An die Stelle der „Kontinuität im Irr-
tum“ müsse eine „neue Philosophie“ tre-
ten. Der Migrationsdruck „aus allen Him-
melsrichtungen“ sei „nach wie vor erheb-
lich“, sagte der Minister in der Münchner
Residenz. Allein wegen der Lage in Syrien
gebe es „potentiell acht Millionen“ Flücht-
linge. Darüber hinaus befänden sich in der
Türkei eine Million Flüchtlinge aus Afgha-
nistan und Afrika. Auch auf den grie-
chischen Inseln sei die Situation prekär,
und auf dem Westbalkan hielten sich der-
zeit nach Einschätzung der Bundespolizei
30 000 bis 40 000 Flüchtlinge auf.
Es brauche „dringender denn je ein euro-
päisches Regelwerk“. Das deutsche Kon-
zept setzt zunächst die wirksame Kontrolle
der EU-Außengrenzen voraus. Nach den
Vorstellungen des Innenministers soll dies
durch die europäische Grenzschutzagentur
Frontex geschehen–die müsse „in wesent-
lich kürzerer Zeit“ als zum geplanten Ter-

min 2027 auf 10 000 Kräfte ausgebaut wer-
den. Das habe er schon der designierten
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen gesagt, und das sei auch „die Vor-
aussetzung, dass wir die Binnengrenzkon-
trollen fallen lassen können“.
Einigkeit unter den Innenministern
herrschte offenbar darüber, dass eine erste
Prüfung auf Asylanspruch an den EU-Au-
ßengrenzen stattfinden soll. Nur Asylbe-
werber mit Aussicht auf Schutz in Europa
sollen dann auf eine Gruppe von EU-Län-
dern verteilt werden, die sich dazu bereit er-
klären. Dort seien die Asylfragen dann end-
gültig zu klären. Wenn schon die Erstprü-
fung negativ ausfalle, solle Frontex die
Rückführungen übernehmen. Die Koope-
ration mit den Herkunftsländern solle ver-
stärkt werden – als positives Beispiel nann-
te Seehofer die Zusammenarbeit zwischen
Spanien und Marokko. Er verhehle nicht,
sagte der Minister, dass sich an Grenzsiche-
rung und Prüfung von Asylansprüchen
„eine Serie von Fragen“ knüpfe, nicht zu-

letzt die der Verteilung.Sein Ziel sei es, bis
zur deutschen Ratspräsidentschaft in der
zweiten Jahreshälfte 2020 so weit zu sein,
„dass man möglicherweise über Rechtsak-
te auch Entscheidungen treffen“ könne.
„Alles, was wir auf europäischer Ebene er-
reichen, ist besser als der Status quo“, sag-
te der Innenminister.
In der Frage der Seenotrettung blieb
Seehofer bei seiner Haltung, 25 Prozent
der im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge
in Deutschland aufzunehmen. Er wollte
die Prozentzahl mit Blick auf Kritik aus
seiner eigenen Partei, der CSU, nicht wie-
derholen, hob aber hervor, dass die abso-
luten Zahlen, um die es da gehe, 229 in
den vergangenen 15 Monaten, gering sei-
en im Vergleich zu den Flüchtlingen, die
auf dem Landweg nach Deutschland ge-
langten. Daher könne keine Rede davon
sein, dass er mit seiner Aufnahmezusage
seine Migrationspolitik geändert habe.
Seehofer sicherte zu, sehr genau darauf
zu achten, dass es sich tatsächlich um aku-

te Seenotrettung handele. Wenn sie sich
hingegen zum „Taxidienst“ entwickle,
dann werde „ein Punkt gemacht. Aber der
ist im Moment nicht erreicht.“ Deutsch-
land habe sich wie Frankreich verpflichtet,
von zwei Rettungsschiffen insgesamt 65
Personen aufzunehmen–eine positiv aus-
gefallene Sicherheitsüberprüfung vorausge-
setzt. Ziel sei es auch, „erbärmliche Bilder“
zu vermeiden. Er strebe mit den Nichtregie-
rungsorganisationen, die mit Rettungsschif-
fen im Mittelmeer unterwegs sind, einen
Verhaltenskodex an nach italienischem
Vorbild. Die Nichtregierungsorganisatio-
nen, so Seehofer, erfüllten eine wichtige
Funktion, „wenn es um die akute Seenot-
rettung geht“. Es gelte aber auch zu verhin-
dern, dass sie „indirekt das Geschäft der
Schleuser besorgen“.
Seehofer hob darüber hinaus die Einig-
keit unter den G-6-Kollegen hervor, dass
es in der Sicherheitszusammenarbeit mit
dem Vereinigten Königreich auch nach
dem Brexit keine Abstriche geben solle.

bub.BERLIN, 29. Oktober.In der Debat-
te über den Umgang mit dem chinesi-
schen Telekommunikationsunternehmen
Huawei beim Aufbau des deutschen
5G-Netzes hat der Bundesnachrichten-
dienst (BND) davor gewarnt, Konzerne,
denen man nicht voll vertrauen könne,
mit dieser Aufgabe zu betrauen. Das
5G-Netz sei die „entscheidende kritische
Infrastruktur der Zukunft“, sagte der
BND-Präsident Bruno Kahl am Dienstag
in einer Anhörung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums des Bundestages. In
China sind Unternehmen gezwungen, eng
mit der Regierung zusammenzuarbeiten.
Das nötige Vertrauen könne man ihnen an-
gesichts dieser Abhängigkeit nicht entge-
genbringen, so Kahl. Jedenfalls in den Be-
reichen, in denen „Kernsicherheitsinteres-
sen“ betroffen seien, solle eine Beteili-
gung von Huawei am Netzaufbau nicht
möglich sein. Da ausgeschlossen sei, alle
Einzelteile auf Hintertüren zu kontrollie-
ren, müssten Kriterien rechtlicher oder
technischer Art aufgestellt werden, um die
nötige Sicherheit zu gewährleisten, sagte
der BND-Präsident bei der Sitzung des
Kontrollgremiums, das einmal im Jahr öf-
fentlich tagt.
Anders als die Vereinigten Staaten hat
sich die Bundesregierung dagegen ent-
schieden, Huawei beim Aufbau der 5G-In-
frastruktur explizit auszuschließen. Berlin
setzt darauf, die Gefahren durch Siche-
rungsmechanismen zu bannen. Kürzlich
haben die Bundesnetzagentur und das
Bundesamt für Sicherheit in der Informati-
onstechnik (BSI) einen neuen Katalog mit
Sicherheitsanforderungen für Betreiber
von Telekommunikationsnetzen und
Diensteanbieter vorgelegt. Zentral sind da-
bei Zertifizierungen, die das BSI künftig
für alle kritischen Komponenten der Net-
ze vornehmen muss.
Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbe-
hörden nehmen Spionageangriffe des chi-


nesischen Geheimdienstes in Deutsch-
land zu. Während sich die Angriffe Chinas
früher vor allem auf deutsche Unterneh-
men und Technologie konzentriert hät-
ten, interessiere sich China auch für deut-
sche Außen- und Wirtschaftspolitik, so
der Präsident des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz, Thomas Haldenwang.
Die Präsidenten der drei deutschen
Nachrichtendienste antworteten auch auf
Fragen der Parlamentarier zum sogenann-
ten Hackback, also zur aktiven Cyberab-
wehr. Derzeit liegt die Zuständigkeit für
die Abwehr von Gefahren, auch solchen
im Cyberraum, bei den Ländern. Um sie
dem Bund zu übertragen, wäre eine Ände-
rung des Grundgesetzes nötig. Noch aus ei-
nem anderen Grund darf der BND keine
Server, von denen ein Angriff ausgeführt
wird, zerstören: „Unser Auftrag ist die Auf-
klärung, nicht das Abwehren von Angrif-
fen“, so Kahl. Seine Behörde sei technisch
dazu in der Lage, es fehle aber an einer
rechtlichen Grundlage.
BND-Präsident Kahl berichtete zudem
über die Situation der deutschen Kämpfer
des „Islamischen Staats“ (IS) in Nordsy-
rien. Nach den Erkenntnissen des Diens-
tes sind deutsche IS-Kämpfer in Nordsy-
rien immer noch in Gefangenschaft. Aus
amerikanischen Quellen war vergangene
Woche zu vernehmen, dass mehr als hun-
dert Kämpfer bereits entkommen seien.
„Noch sind die uns bekannten Kämpfer
nach unserem Wissen nicht entkommen“,
sagte Kahl. Allerdings würden die Lager
in Nordsyrien seit dem Beginn der türki-
schen Militärintervention „nicht mehr mit
der gleichen Intensität“ bewacht und beob-
achtet. Man müsse mit Befreiungsaktio-
nen rechnen. Damit wachse die Gefahr,
dass es dem IS gelingen könne, seine Struk-
turen wieder zu „verfestigen“. Auch eine
unkontrollierte Rückkehr von IS-Kämp-
fern nach Deutschland sei nicht auszu-
schließen.

Die lieben Kollegen: Seehofer mit den Innenministern der G 6 sowie Vertretern Amerikas und der EU-Kommission Foto EPA


SIMMERN, 29. Oktober. In der rhein-
land-pfälzischen CDU ist ein Rennen um
die Spitzenkandidatur bei der Landtags-
wahl eröffnet, das sich als Kampf zwi-
schen Peripherie und Zentrum beschrei-
ben ließe – bestünde das Bundesland
nicht ohnehin fast nur aus Peripherie. Im
Rhein-Hunsrück-Kreis ist es besonders
dünn besiedelt: Zwischen all den Windrä-
dern leben nur etwas mehr als 100 000
Personen. In der Kreisstadt Simmern, mit
knapp 8000 Einwohnern eine der größten
Städte, gab der örtliche Landrat Marlon
Bröhr am Dienstag bekannt, auf dem
CDU-Landesparteitag Mitte November
als Spitzenkandidat anzutreten.
Damit fordert er Christian Baldauf her-
aus, der bereits im Juni von der CDU-Lan-
desvorsitzenden und Bundeslandwirt-
schaftsministerin Julia Klöckner vorge-
schlagen wurde und hinter dem der Lan-
desvorstand geschlossen steht. Baldauf ist
im Unterschied zu Bröhr ein um Aus-
gleich bemühter Politiker. Seit 2001 sitzt
er im Landtag, seit 2018 führt er wieder
die Fraktion. Das hatte er bereits ab 2006
getan, dann aber Klöckner den Vortritt ge-
lassen, die zweimal erfolglos gegen Minis-
terpräsidentin Malu Dreyer (SPD) antrat.
2021 wollte Klöckner ihr Glück nicht
noch einmal versuchen.
Dabei steht die SPD derzeit in den Um-
fragen trotz hoher Beliebtheitswerte der
Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz
nur bei rund 22 Prozent. Selten hatte die
CDU so gute Chancen, die Oppositions-
rolle abzulegen. Von einer „Generation
Opposition“ ist in Mainz die Rede, der
auch Baldauf angehört. Darauf zielte am
Dienstag Bröhr, der dafür warb, das Kon-
zept, dass „vier bis fünf Personen“ ent-
schieden, wer Spitzenkandidat werde, zu
überdenken. Das sei schließlich viele Jah-
re erfolglos gewesen. Er selbst als einer
„aus der wirklichen Welt“, der „nicht Teil

des Personalkarussells“ der Vergangen-
heit sei, stehe für einen „glaubwürdigen
Neuanfang“. Es ist Bröhrs zweiter großer
innerparteilicher Auftritt.
Im Jahr 2016 war der Landrat auf ei-
nem Parteitag aufgefallen, als er überra-
schend als Beisitzer für den Landesvor-
stand kandidierte. Er verlor, errang aber
einen Achtungserfolg. Der Zahnarzt war
Bürgermeister, bevor er in das Landrats-
amt einzog. Bröhr dazu: Bei drei Wahlen
sei er angetreten, alle habe er gewonnen,
sein schlechtestes Ergebnis seien rund 65
Prozent gewesen. Hinter sich ein riesiges
Plakat, darauf Bröhr in Nahaufnahme.
Der Landrat bezeichnete sich als „kom-
plett unabhängigen“ Kandidaten „mit
Ecken und Kanten“. Warum er antrete?
„Ich brenne.“ Auch über sein „sehr, sehr
konkretes Programm“ sprach Bröhr. Sein
Hauptziel ist demnach, Gelder „zu Lasten
des Landeshaushaltes und zugunsten der
Kommunen“ zu verschieben. Dabei zeich-
nete er das nicht ganz falsche Bild eines

überschuldeten, wirtschaftsschwachen
Landes, um dann anzumerken: „Rhein-
land-Pfalz kann mehr.“ Politisch ist Bröhr
nicht leicht einzuordnen, einerseits pflegt
er ein konservatives Profil, verklagte etwa
im Streit über das Kirchenasyl mehrere
Pfarrer im Kreis, deren Räume in der Fol-
ge von der Staatsanwaltschaft durchsucht
wurden. Andererseits ist sein Landkreis
Vorzeigebeispiel beim Thema Energie-
wende; am Dienstag bezeichnete er die
Grünen als seine „favorisierten Koaliti-
onspartner“.
Die Landes-CDU reagierte am Diens-
tag demonstrativ zurückhaltend: Es gebe
„Stand heute“ mit Bröhr einen weiteren
Kandidaten. Nun werde ein geordnetes
Verfahren sichergestellt und „am Ende
entscheidet das Votum der Delegierten“,
schrieb der CDU-Generalsekretär Gerd
Schreiner. Zuvor hatte der Landtagsabge-
ordnete Michael Billen, selbst einst CDU-
Rebell, deutlichere Worte gefunden:
Wenn Bröhr auch nur 15 Prozent der Intel-
ligenz habe, die ein Politiker brauche, wer-
de er nicht kandidieren.
Chancen, auf dem Parteitag gegen Bal-
dauf zu gewinnen, dürfte sich selbst
Bröhr kaum ausrechnen. Daher wird im
Hunsrück der Plan verfolgt, einen Mitglie-
derentscheid und Foren anzustrengen,
bei denen sich die Kandidaten vorstellen.
Darüber müssten die Delegierten auf
dem Parteitag entscheiden. Bröhr, der ein
guter Redner ist, hätte bei einem Mitglie-
derentscheid wohl deutlich bessere Chan-
cen. Die örtliche CDU aus Kirchberg hat
den dafür erforderlichen Antrag schon
eingereicht – und daran erinnert, dass die
Landes-CDU einst die Regionalforen zur
Kür der Bundesvorsitzenden gutgeheißen
habe. Klöckner hatte in dem Zusammen-
hang im März mit Blick auf die Landtags-
wahl gesagt: „Sollten wir mehrere Kandi-
daten haben, werde ich dieses Verfahren
vorschlagen.“

Für Seenotrettung, gegen Taxidienst


ahan. FRANKFURT, 29. Oktober.
Zwei mutmaßliche frühere Mitarbeiter
des syrischen Geheimdienstes müssen
sich wohl demnächst in Deutschland
vor Gericht verantworten. Die Bundes-
anwaltschaft teilte am Dienstag mit,
dass sie Anklage gegen die beiden Män-
ner vor dem Oberlandesgericht Ko-
blenz erhoben habe. Anwar R. werden
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
vorgeworfen, im Zusammenhang damit
Mord in 58 Fällen und eine Vergewalti-
gung. Der zweite Mann, Eyad A., soll
Beihilfe zu einem Verbrechen gegen
die Menschlichkeit geleistet haben.
Hintergrund sind die Aktivitäten des
syrischen Geheimdienstes zu Beginn
der Protestbewegung gegen Machtha-
ber Baschar al Assad. Die beiden Män-
ner gehörten den Ermittlungen zufolge
der Abteilung 251 des Geheimdienstes
an, die für die Sicherheit im Raum Da-
maskus zuständig war. R. leitete eine
Einheit und führte ein angeschlossenes
Gefängnis. Zwischen April 2011 und
September 2012 sollen dort mindes-
tens 4000 Gefangene unter brutaler Fol-
ter durch die Geheimdienstmitarbeiter
vernommen worden sein; mindestens
58 Menschen starben demnach an den
Folgen der Misshandlungen. Der zwei-
te Mann, Eyad A., soll in einer Unterab-
teilung beschäftigt gewesen sein.
Die Männer waren schon im Febru-
ar in Deutschland festgenommen wor-
den. Sie hatten Syrien nach Beginn des
Bürgerkriegs im Jahr 2012 verlassen.
Anwar R. hatte die Ermittler nach In-
formationen dieser Zeitung selbst auf
seine Spur gebracht – nach seiner
Flucht fühlte er sich offenbar vom lan-
gen Arm Assads bedroht und wandte
sich an die deutsche Polizei. In ihrer
Anklage gibt die Bundesanwaltschaft
tiefe Einblicke in die sadistischen Fol-
termethoden des Assad-Regimes.
Durch die systematischen physischen
und psychischen Misshandlungen sol-
len Geständnisse erzwungen und Infor-
mationen über die Opposition abge-
presst worden sein. Mittel waren Schlä-
ge mit Fäusten, Rohren, Kabeln oder
Peitschen, dazu Elektroschocks. Gefan-
gene wurden an ihren Handgelenken
an der Decke aufgehängt, so dass ihre
Zehenspitzen gerade noch den Boden
berührten. Nun muss das Gericht ent-
scheiden, ob es die Anklage zulässt. Es
wäre der weltweit erste Strafprozess
wegen Staatsfolter in Syrien.


Der Neue aus dem Hunsrück


Kampf um Spitzenkandidatur in CDU Rheinland-Pfalz / Von Julian Staib


pca.BERLIN, 29. Oktober. Die Luft-
waffe entsendet sechs Eurofighter des
Geschwaders „Richthofen“ zu einer
Übung nach Israel. Die Kampfflugzeu-
ge werden auf Einladung der israeli-
schen Streitkräfte vom 3. bis zum 14.
November an der Übung „Blue Flag“
über der Negev-Wüste teilnehmen. Es
ist das zweite Mal, dass Kampfflugzeu-
ge der Bundeswehr daran beteiligt
sind. Laut der Luftwaffe werden die Eu-
rofighter und etwa 140 Soldatinnen
und Soldaten auf die israelische Basis
Owda verlegt. Sie liegt rund 40 Kilome-
ter von Eilat an der Südspitze Israels
entfernt. Israel hat auf dem Flieger-
horst eine sogenannte Aggressor-Trai-
ningsstaffel stationiert, die gegneri-
sche Angriffe realitätsnah simuliert.
Neben deutschen nehmen auch ameri-
kanische, griechische und italienische
Einheiten teil. Der deutsche Kontin-
gentführer, Oberstleutnant Manuel
Last, sagte nach Angaben der Luftwaf-
fe: „Es ist mir eine Ehre, das Komman-
do in Israel anführen zu dürfen.“ Seine
Piloten erwarte keine klassische Nato-
Übung. Aus Sicht der Luftwaffe ist die
abermalige Teilnahme an der Übung
„Blue Flag“ ein „Ausdruck der äußerst
konstruktiven, vertrauensvollen und
partnerschaftlichen Zusammenarbeit“
mit den Israelis. Das spiegele sich auch
in der Ausbildung der deutschen
Crews für die israelische „Heron“-
Drohne wider.

Truppenabzug in Ostukraine
In der Ostukraine haben die Konflikt-
parteien in der Region Luhansk mit ei-
nem Truppenabzug begonnen. Sowohl
die Armee als auch die prorussischen
Separatisten schossen am Dienstag
nahe dem Ort Solote an der Frontlinie
weiße und grüne Signalraketen als
Startschuss des Rückzuges ab, wie die
ukrainische Armee und die Separatis-
ten bestätigten. Sie erklärten sich be-
reit, ihre Truppen mit Gerät etwa einen
Kilometer von der Frontlinie zurückzu-
ziehen. Den Abzug überwachen Beob-
achter der OSZE. Bereits im Juni zogen
die Truppen beider Seiten im Ort Sta-
nyzja Luhanska ab. Zuvor war der ukrai-
nische Präsident Wolodymyr Selenskyj
nach Solote gefahren. (dpa/AFP)

Maas mahnt Ägypten
Außenminister Heiko Maas (SPD) hat
in Kairo die ägyptische Führung aufge-
fordert, die Menschenrechte stärker zu
achten und dafür zu sorgen, dass die
Ägypter „die Luft der Freiheit atmen“
könnten. Maas sagte im Blick auf die
jüngsten Proteste in Kairo, alles andere
fördere Unzufriedenheit, „wie wir sie
auch vor kurzem in Ägypten erlebt ha-
ben“. Der deutsche Außenminister traf
in Kairo unter anderem Staatspräsi-
dent Abd al Fattah al Sisi. Sie erörter-
ten die Lage im benachbarten Libyen,
wo sich Deutschland um die Verabre-
dung und Durchsetzung eines Waffen-
stillstands bemüht. Auch Rüstungsex-
porte nach Ägypten seien Gegenstand
des Gesprächs gewesen. Maas beteuer-
te, die Bundesregierung handhabe die
Exportpolitik gegenüber Ägypten au-
ßerordentlich restriktiv; dennoch er-
hielt das Land im laufenden Jahr Liefe-
rungen von Militärtechnik im Wert von
rund 800 Millionen Euro. (Lt.)

Demonstranten im Irak getötet
Im Irak sind wieder friedliche Demons-
tranten erschossen worden. Augenzeu-
gen berichteten, in Kerbela sei aus ei-
nem vorbeifahrenden Auto auf die De-
monstranten geschossen worden, spä-
ter hätten maskierte Männer in Zivil
das Feuer eröffnet. Nach Angaben von
Rettungskräften wurden gut ein Dut-
zend Personen getötet. Der Polizeichef
der Stadt bestritt die Berichte; bei Auf-
nahmen von der Gewalttat handle es
sich um eine Fälschung. In der Haupt-
stadt Bagdad hat die Regierung eine
nächtliche Ausgangssperre verhängt.
Es ist die zweite Protestwelle, die den
Irak in diesem Monat erschüttert. An-
fang Oktober waren Proteste gegen die
grassierende Korruption, den dysfunk-
tionalen Staat und die hohe Arbeitslo-
sigkeit entflammt, die in einem Blut-
bad endeten. Laut Regierungsangaben
kamen mindestens 149 Demonstran-
ten um, ein großer Teil wurde durch ge-
zielte Schüsse in den Kopf oder die
Brust niedergestreckt. (cheh.)

Syrer wegen


Foltervorwürfen


angeklagt


BND warnt vor Huawei


Anhörung der Nachrichtendienste im Bundestag


Luftwaffe schickt


wiederEurofighter


nach Israel


Wichtiges in Kürze


Für die Herstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet.


Will nach Mainz: Marlon Bröhr Foto dpa


Bundesinnenminister


Horst Seehofer erklärt


das Dublin-System für


gescheitert. Er will aber


weiter Flüchtlinge in


Seenot retten.


Von Timo Frasch

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