Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

(Joyce) #1

SEITE 6·MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252 Politische Bücher FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Florian Schubert:
Antisemitismusim Fußball.
Tradition und Tabubruch.

Wallstein Verlag, Göttingen



  1. 488 S., 39,90 €.


Itamar Rabinovich:
Jitzchak Rabin. Als Frieden
noch möglich schien.

Wallstein Verlag, Göttingen



  1. 307 S., 24,90 €.


Die Ermordung Jitzhak Rabins jährt sich
mittlerweile zum fünfundzwanzigsten
Mal. Mit der Zeit wird der damalige Mi-
nisterpräsident zunehmend verklärt,
während er unter manchen Israelis im-
mer noch verhasst ist. Ein nüchterner
Blick auf Rabins Wirken und seine Zeit
tut auch heute not. Es war die Epoche
nach dem Zusammenbruch der Sowjet-
union, was auch für Israel wirkmächtige
Folgen hatte: Das syrische Regime er-
hielt keine Rüstungshilfen mehr aus Mos-
kau, der Einfluss sowjetischer Militärbe-
rater in Saddam Husseins Irak nahm ab,
während Amerika den Golfkrieg gewann
und Bagdad erheblich schwächte. Aus
dem postsowjetischen Raum wanderten
Hunderttausende oft gut ausgebildete Ju-
den nach Israel ein. Rabin erkannte die
strategische Chance: Anstatt wie bisher
massive Staatsmittel für die Siedlungen
und ihren Schutz in den besetzten palästi-
nensischen Gebieten aufzuwenden, woll-
te er mit dem Geld lieber mit der Einwan-
derungswelle fertig werden. Und er woll-
te es lieber in den Aufbau eines High-
tech-Sektors in Israel stecken, dem die
russischen Ingenieure gelegen kamen,
als in die militärische Herrschaft über
eine andere Nation.
Es waren also nicht nur die Erfahrun-
gen aus der von ihm als Verteidigungsmi-
nister brutal niedergeschlagenen ersten
Intifada, sondern auch diese strategi-
schen Erwägungen, die Rabin dazu
brachten, Frieden mit den Palästinen-
sern zu suchen. Dass der dafür von ei-
nem jüdischen Extremisten ermordete is-
raelische Ministerpräsident heute manch-
mal als menschliche Friedenstaube ver-
klärt wird, brachte einst sogar Henry Kis-
singer in Wallung: „Jitzhak war doch
kein Blumenkind.“ Das war Rabin nicht,
aber als historische Figur prägt er Israels
Geschichte, weil er zeigte, was möglich
war und wäre.
Mit Itamar Rabinovich hat ein an den
Verhandlungen beteiligter Weggefährte
eine lesenswerte und präzise Biographie
vorgelegt, die Rabins Leben in einen rea-
listischen Kontext bettet und einen nüch-
ternen Mann beschreibt. Jetzt liegt sie
auch auf Deutsch vor. Rabinovich diente
Rabin als Botschafter in Washington und
verhandelte mit Syrien über einen Frie-
den – eine Stoßrichtung, der Rabin zu-
nächst größere Chancen beimaß als ei-
ner Übereinkunft mit der Palästinensi-
schen Befreiungsorganisation.
Rabinovich, später Professor für Nah-
ostgeschichte in Tel Aviv, beschreibt Ra-
bin als einen Politiker der Mitte, dem es
zuallererst um Israels Sicherheit ging,
die für ihn „untrennbar verknüpft mit
dem Streben nach Frieden“ gewesen sei.
Rabin war zu schmerzhaften Zugeständ-
nissen an die Araber bereit, auch um die
Staatswerdung Israels zu vollenden, inter-
nationale Legitimität zu erlangen und
Grenzen abzustecken, was bis heute
nicht endgültig passiert ist. All dies sei
aus den Augen eines Militärs geschehen,
der Rabin lange war, der sich bis zum
Schluss im Tel Aviver Militärhauptquar-
tier lieber aufhielt als im Ministerpräsi-
dentenbüro in Jerusalem. Im Umgang
mit Zivilisten sei Rabin unbeholfen gewe-
sen, unter Soldaten habe er sich wohler
gefühlt.
Rabin war ein herausragender Vertre-
ter der alten Elite Israels, deren Einfluss
heute langsam schwindet. Rabinovich
zeichnet das Bild des im Lande gebore-
nen Israelis, der in einfachen Verhältnis-


sen aufwuchs, in der zionistischen Arbei-
terbewegung sozialisiert wurde und zeit
seines Lebens ausgewiesen säkular blieb.
Den Kampf um die Unabhängigkeit
1948, die Rabin als Anführer der parami-
litärischen Palmach erlebte, nennt er
„das prägendste Erlebnis in Rabins Le-
ben“. Am Aufbau der Streitkräfte hatte
Rabin entscheidenden Anteil und setzte
sich für Israels Nuklearprogramm ein,
1964 wurde er Generalstabschef. Rabins
Verständnis von nationaler Sicherheit sei
im Kern defensiv gewesen. Er glaubte an
Abschreckung, nicht an präventive Mili-
täreinsätze. Im Kriegsfall jedoch gelte es,
die Gefechte rasch auf das Gebiet des
Gegners zu tragen.
Als Ägypten 1967 jedoch seine Trup-
pen auf dem Sinai konzentrierte, die Stra-
ße von Tiran im Roten Meer für israeli-
sche Schiffe schloss und Israel diploma-
tisch weitgehend allein dastand, warb Ra-
bin für einen präventiven Krieg, im Ge-
gensatz zum zögerlicheren damaligen Mi-
nisterpräsidenten Levi Eschkol. Und so
spielte ausgerechnet Rabin eine bedeu-
tende Rolle bei der Eroberung des paläs-
tinensischen Westjordanlandes. Im Streit
über dieses Thema sollte er Jahrzehnte
später ermordet werden.
„Aus dem Rückblick erscheint der Tri-
umph als sehr zweifelhafter Segen“,
schreibt Rabinovich. Für Rabin galten
die im Krieg eroberten Gebiete als
Faustpfand für einen späteren Friedens-
vertrag. Doch der blieb aus, die Arabi-
sche Liga verweigerte sich damals allen
Verhandlungen. Und die eroberten Ge-
biete erwiesen sich zunehmend als Last.
Die folgende „messianische Welle“ der
Siedlerbewegung in den besetzten Gebie-
ten führte Rabin schon in den Siebzigern
zum Ausspruch, „die Bibel ist nicht das
Grundbuchamt des Nahen Ostens“.
Gleichwohl warnt Rabinovich davor, dar-
in schon einen Vorboten von Oslo sehen
zu wollen, selbst wenn Rabins Überzeu-
gungen früh klar waren. Die Diplomatie

bot Rabin den Einstieg in die Politik, als
Botschafter in Washington hatte er das
damals noch oft komplizierte Verhältnis
mit Amerika zu bewältigen. Gegen sei-
nen Rivalen Schimon Peres setzte er sich
als Vorsitzender der Arbeitspartei durch
und begann 1974 seine erste kurze, nicht
eben von Erfolg gekrönte Amtszeit als
Ministerpräsident. Die öffentliche Rede
war nicht seine Sache. Was sich erst in
den neunziger Jahren änderte, als Rabin
für seine Vision kämpfte.
Über diesen zeitlichen Abschnitt zu le-
sen ist nicht zuletzt durch die Nähe des
Autors zum Forschungsgegenstand ein
Gewinn, da er viele persönliche Einbli-
cke in die damalige Diplomatie gewährt.
Eine Beschreibung der intellektuellen
Prägung und Persönlichkeit des zurück-
haltenden, doch dann und wann zu Wut-
ausbrüchen neigenden Rabins kommt in-
des zuweilen etwas kurz. Und doch ge-
lingt es Rabinovich, hagiographische
Fallstricke zu vermeiden, trotzdem der
höchste Respekt des Autors vor Rabin
und dessen Politik stets spürbar bleibt.
Rabin sei kein charismatischer Anfüh-
rer gewesen, doch ein Staatsmann durch
seine Fähigkeit, eine Vision zu entwi-
ckeln und zu verfolgen. Sein militäri-
scher Hintergrund verschaffte Rabin im
eigenen Land Glaubwürdigkeit und Auto-
rität. Der Friedensvertrag mit Jordanien
traf auf Begeisterung in Israel und weck-
te Hoffnung auf mehr. Rabin war dabei
nicht bereit, auf alles zu verzichten,
sprach nie von einem Staat Palästina: Is-
rael sollte in den meisten Teilen Jerusa-
lems bleiben, außerdem im Jordantal,
nicht jedoch im nördlichen Westjordan-
land.
Dass der palästinensisch-islamistische
Terror großen Anteil am Scheitern der
Friedensbemühungen hatte, lässt Rabino-
vich nicht aus. Und doch verwendet er
viele Zeilen auch auf die Hetze und den
Hass, der Rabin von Seiten der jüdischen
Siedlerbewegung und nicht zuletzt auch

des Likud entgegengebracht worden war.
Dessen junger Parteivorsitzender damals
hieß Benjamin Netanjahu, der sich zu
der Zeit von Mordaufrufen und Hetze
nicht offen distanzierte und diese laut Ra-
binovich salonfähig machte. Er verschlei-
ert seine große persönliche Enttäu-
schung darüber nicht.
Rabin habe eine Politik gemacht, da-
mit Israel nicht für immer mit dem
Schwert leben müsse, schreibt Rabino-
vich. Netanjahu dagegen erklärt: „Wir
werden für immer mit dem Schwert le-
ben.“ Das, was Rabin stets befürchtete,
trat nach seiner Ermordung ein. Der Li-
kud gewann die Wahl, verband sich spä-
ter mit der Ultraorthodoxie, der radika-
len Rechten und der Siedlerbewegung.
Dass dies so kommen konnte, sei nicht
zwangsläufig gewesen. Es lag auch am
Versäumnis der gemäßigten und linken
politischen Eliten, schreibt Rabinovich,
die Israel nach dem Mord an Rabin we-
der einer echten Gewissensprüfung noch
einer gesellschaftlichen Diskussion un-
terzogen und eine umfassende gerichtli-
che Aufarbeitung versäumten. Auch die-
ses Versäumnis der alten Elite, in deren
Mitte Rabin einst geboren wurde, „er-
laubte es den radikalen Rechten und den
Siedlern und ihren Verbündeten, immer
festere Wurzeln zu schlagen, sich dabei
neu zu formieren und schließlich die
kurz- und langfristige Politik des Landes
in den Würgegriff zu nehmen“. Auch
ohne politischen Kommentar hat Rabino-
vich ein wertvolles Buch vorgelegt.
JOCHEN STAHNKE

Politische Bücher


DerDeutsche Fußball-Bund hat wäh-
rend der Weltmeisterschaft des Jahres
1978 in Argentinien mehrfach unter Be-
weis gestellt, dass er kein Gespür für Poli-
tik und Geschichte besitzt. Hermann
Neuberger, der damalige Präsident des
Verbands, vertrat die Ansicht, die Militär-
junta habe in dem Gastgeberland eine
„Wende zum Besseren“ angestoßen. Au-
ßerdem lud er den ehemaligen Schlacht-
flieger und Wehrmachtsoffizier Hans-Ul-
rich Rudel in die Ehrenloge des DFB und
ins Mannschaftsquartier ein. Dass der
Träger des Ritterkreuzes auch nach 1945
bekennender Nazi geblieben war und mit
dem „Kameradenwerk“ eine Hilfseinrich-
tung für nationalsozialistische Kriegsver-
brecher gegründet hatte, fand Neuberger
nicht weiter problematisch. Stattdessen
sorgte er sich um den Ruf seines Gasts:
„Ich hoffe doch nicht, dass man ihm sei-
ne Kampffliegertätigkeit während des
Zweiten Weltkriegs vorwerfen will.“
Eine Kritik an Rudels Besuch sei eine
„Beleidigung aller deutschen Soldaten“.
Auch rund 20 Jahre später hatte sich
nicht viel geändert. Fans der deutschen
Nationalmannschaft stellten 1996 bei ei-
nem Spiel in Polen ein Banner zur
Schau, auf dem zu lesen war: „Schindler
Juden wir grüßen Euch“. Der DFB tat
daraufhin das, was er jahrelang trainiert
hatte – nichts. Wieso ist die Sportarena
ein Ort, an dem solche Sätze folgenlos ge-
äußert werden können? War das schon
immer so? Ist eine Veränderung zu er-
warten? In der Abhandlung „Antisemitis-
mus im Fußball“ beschäftigt sich der Poli-
tikwissenschaftler Florian Schubert mit
den Bedingungen, Ausprägungen und


Funktionen judenfeindlicher Hetze im
Stadion. Damit leistet er Pionierarbeit,
denn wissenschaftliche Analysen fragen
in diesem Zusammenhang bislang vor al-
lem nach der Rolle von Gewalt und be-
handeln Antisemitismus als Form von
Rassismus oder Rechtsextremismus. Tat-
sächlich liegt der Fall komplizierter:
„Die Zunahme von Konflikten innerhalb
der Fanszene, in der Gewalt von rechts-
offenen und neonazistischen Fangrup-
pen gegenüber antirassistischen Fang-
ruppen ausgeübt wird, geht immer ein-
her mit antisemitischen Diffamierungen
der Betroffenen.“
Solche Thesen klopft der Autor mit
den Instrumenten der qualitativen Sozi-
alforschung ab. Will sagen: Er wertet Me-
dienberichte aus, prüft Dokumente und
stützt sich auf Gespräche mit Fans und
Spezialisten. Gerade die nicht geglätte-
ten Zitate illustrieren, dass das Lexem
„Jude“ als Allzweckschimpfwort Karrie-
re gemacht hat. Ein Interviewpartner be-
richtet über ein Fußballspiel in Amster-
dam: „Für die war jeder Dunkelhäutige
’n Jude. Also Jude zum Beispiel bei
Ajax, wir waren ja in Amsterdam. Des-
wegen war sogar quasi jeder, der Atta-
cken fuhr gegen Deutsche, ein Jude.
Weil es wird immer nach einem Stigma
gesucht, nach einer Kategorie, nach ei-
ner Schublade.“
Dieser unbestimmten Begriffsverwen-
dung begegnet Schubert, indem er klein-
teilig und konkret argumentiert. So
grenzt er beispielsweise verbal artiku-
lierten gegen visuell vermittelten Antise-
mitismus ab, um davon ausgehend weite-
re Unterscheidungen vorzunehmen,
etwa diejenige zwischen der Strategie

des Sprechers und der Wirkung des Ge-
sagten. Die theoretisch ambitionierten
Passagenflankiert er mit akademischer
Fleißarbeit zur Forschungslage und Me-
thode – das Literatur- und Quellenver-
zeichnis umfasst knapp 50 Seiten. An-
schaulicher sind jene Kapitel, in denen
Schubert historische Entwicklungen und
aktuelle Probleme skizziert. So vermit-
teln die Ausführungen über den Antise-
mitismus im Fußball zwischen den achtzi-
ger Jahren und heute ein verheerendes
Bild. Zwar hätten die erstarkenden Ultra-
strukturen am Ende der Neunziger zu ei-
nem Rückgang antisemitischer Vorfälle
in der Bundesliga geführt. Dafür spielten
sich die hässlichen Szenen nun vor allem
in den unteren Ligen ab. Das Stadion
bleibe ein Raum, in dem Männlichkeits-
bilder geformt und Frust sowie Hass ritu-
ell herausgelassen würden.
Außerhalb des Stadions haben sich
Fußballanhänger bis Mitte der neunziger
Jahre in Fanzines informiert und ausge-
tauscht. Mit einer Auflage von 7000
Exemplaren war der „Fantreff“ beson-
ders populär. Das Heft lag in Bahnhofs-
buchhandlungen aus und erschien zwi-
schen Januar 1986 und Mai 1995 insge-
samt 92 Mal. In der zweiten Ausgabe
wünscht Franz Beckenbauer dem Jour-
nal alles Gute für die Zukunft, was nicht
viel geholfen hat, denn der „Fantreff“ ist
nach und nach zu einem Organ für rechts-
radikale und antisemitische Umtriebe
verkommen. Zum einen waren auf den
ausgewählten Bildern immer häufiger
die Reichskriegsflagge und der Hitler-
gruß zu sehen. Zum anderen druckte die
Redaktion ausländerfeindliche Leserbrie-
fe und Beiträge aus der rechtsextremen

„Deutschen Wochen-Zeitung“. Heute
kommunizieren Fußballfans vor allem
im Internet. Auf Youtube klingt das mit-
unter so: „lieber nazi und stolz auf
deutschland als ein drecks kanacke, ein
jude oder ein hruensohn ... lutscher sge..
nachm spiel wohl keine eier gehabt, hä?“
Ein beliebtes Ziel von Anfeindungen
waren immer schon die jüdischen Makka-
bi-Vereine. Allerdings zeichnet sich hier
eine Veränderung ab: Während die Ag-
gressionen früher meistens von Deut-
schen ausgingen, „kommt es heute haupt-
sächlich zu antisemitischen Übergriffen
durch Spieler und Fans, die ihren musli-
mischen Glauben mit einer antijüdi-
schen Einstellung verbinden“. Spätes-
tens an diesem Punkt wundert sich der
Leser, dass Schubert die Definition von
„Antisemitismus“ zu Beginn der Untersu-
chung auf gerade einmal zwei Seiten ab-
handelt. Eine tiefgehendere Auseinan-
dersetzung, welche sich an religiösen,
rassistischen, sozialen, historischen und
ideologischen Gründen judenfeindlicher
Denkformen abarbeitet, wäre nicht nur
sinnvoll, sondern nötig gewesen. Denn
dass Antisemitismus nicht gleich Antise-
mitismus ist, daran wird nach der Lektü-
re dieses instruktiven Buchs niemand
mehr zweifeln. KAI SPANKE

Moment vergeblicher Hoffnung: Rabin und Palästinenserführer Arafat reichen sich 1993 die Hände. Foto Imago


Das Schimpfwort für alle Gelegenheiten


Eineinstruktive Untersuchung des Antisemitismus innerhalb und außerhalb der Fußballstadien


Der Friedenssucher


Ein Vierteljahrhundert nach seiner Ermordung erscheint eine neue Biographie Jitzhak Rabins


Zu „Kampf für Flüchtlinge“ (F.A.Z. vom
24.Oktober): Diesem Kommentar von
Reinhard Müller kann man nur vorbehalt-
los zustimmen. Endlich hat sich mal ein
Regierungsmitglied, die Verteidigungsmi-
nisterin, aus der sonst üblichen Deckung
gewagt und den Vorschlag gemacht, im
nördlichen Syrien eine Schutzzone mit Be-
teiligung deutscher Soldaten zu errichten.
Nachdem aus dem Außenministerium bis-
her keinerlei Pläne zur Befriedung der Si-
tuation in Syrien bekanntwurden, ist der
Verteidigungsministerin nur zu wün-
schen, dass sie nicht in einer für Europa
und Deutschland existentiellen Frage ein-
knickt. Die Vorhaltungen der SPD, sie sei
nicht rechtzeitig informiert worden,
spricht insoweit für die Verteidigungsmi-
nisterin, weil sie bei einer Erläuterung ih-
rer Pläne im Kabinett deren Zerpflückung
vorausgesehen hat. Vermutlich wäre nur
eine dünne Verlautbarung des Außenmi-
nisters das Ergebnis gewesen. Endlich
wird nicht nur geredet, sondern es werden
konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Der

Vorwurf der SPD, die Pläne seien nicht
konkret genug, ist absurd und ein sehr
schwaches Argument gegen den vorgestell-
ten Plan der Verteidigungsministerin, ins-
besondere dann, wenn die SPD nichts Bes-
seres vorzuweisen hat. Zudem übersieht
sie, dass Planungen im Detail viel Zeit be-
nötigen. Es musste aber mal ein Anfang ge-
macht werden.
Der Vorwurf der Grünen, „die CDU hat
nur Angst vor neuen Flüchtlingen“, ist an
Verantwortungslosigkeit und Dummheit
nicht zu übertreffen. Europa steht nach
wie vor vor dem Problem, dass es Ziel Tau-
sender Kriegsflüchtlinge aus Syrien ist, de-
nen nur geholfen werden kann, wenn Sy-
rien befriedet wird. An dieser großen hu-
manitären Aufgabe, von größter Bedeu-
tung für den Frieden in Europa, muss sich
nach Wegfall der Vereinigten Staaten
auch Deutschland beteiligen und sich
nicht wegducken, wie es von den Grünen
und Teilen der SPD offensichtlich erwar-
tet wird.
MICHAEL VON WELCK, STEINHORST

Briefe an die Herausgeber


In ihrem Leserbrief „Was China von
Deutschland erwartet“ verweist die Spre-
cherin der Chinesischen Botschaft, Tao
Lili, (F.A.Z. vom 21. Oktober) mit dem
Wunsch nach einer friedlichen Wieder-
vereinigung von Festlandchina mit Tai-
wan auf die Formel „Ein Land, zwei Sys-
teme“, wie sie schon für die ehemalige
britische Kronkolonie Hongkong 1997
festgeschrieben ist. China hält Taiwan
für eine abtrünnige Provinz mit 23 Millio-
nen Einwohnern, während Taiwan das
1992 zwischen der Insel im Pazifik und
dem Festland vereinbarte Ein-China-
Prinzip in Frage stellt. Immerhin hat die-
ser Vertrag den Frieden an der Taiwan-
Straße bewahrt und florierende Wirt-
schaftsbeziehungen zugelassen, die es un-
ter anderem ermöglicht haben, dass etwa
eine Million Taiwan-Chinesen in Fest-
landchina arbeiten. Dennoch dürfte der
Verweis der Botschaftssprecherin auf die
Formel „Ein Land, zwei Systeme“ ange-
sichts der Auseinandersetzungen in der
Sonderwirtschaftszone Hongkong das
Misstrauen der Taiwan-Chinesen noch
verstärkt haben.
Die seit langem andauernden Massen-
proteste der Bevölkerung in Hongkong
haben den Abschluss eines Auslieferungs-
abkommens mit China verhindert.
„Hongkong ist nicht China“, skandieren

die Demonstranten und haben mit dieser
Eskalation den Kern der inneren Wider-
sprüchlichkeit der Formel „Ein Land,
zwei Systeme“ deutlich gemacht, die von
der chinesischen Zentralregierung im-
mer enger ausgelegt wird und zur anhal-
tenden Konfrontation geführt hat. Die
Volksrepublik hatte sich 1997 verpflich-
tet, für fünfzig Jahre von der Übergabe
1997 an sollten „die gegenwärtigen gesell-
schaftlichen und ökonomischen Systeme
sowie der Lifestyle in Hongkong unverän-
dert bleiben“.
Mit ihrem Widerstand gegen das Aus-
lieferungsgesetz und der Forderung nach
einer unabhängigen Untersuchung der
Polizeigewalt haben die Demonstranten
nur die politischen Rechte eingefordert,
wie sie in Rechtsstaaten selbstverständ-
lich sind. Am Negativbeispiel Hongkong
wurde der Welt und insbesondere auch
den Taiwanern deutlich vor Augen ge-
führt, dass eine friedliche Wiedervereini-
gung mit Verweis auf diese Formel für
Taiwan nichts Gutes erwarten lässt und
Misstrauen angebracht ist. Deshalb kön-
nen die Welt und auch Deutschland von
China erwarten, dass es seine vertragli-
chen Verpflichtungen in Hongkong ein-
hält, um seine verlorene Glaubwürdig-
keit wiederherzustellen.
HANS-HENNING KOCH, BERLIN

Zu „Wenn ein Gefühl dafür fehlt, was
fehlt: Die psychischen Wirkungen des digi-
talen Messens, Zählens und Vergleichens“
(F.A.Z. vom 19. Oktober): Ein großer
Glücksfall, dass und wie Christian Geyer
die Fragestellungen des aktuellen Sonder-
heftes der Zeitschrift „Psyche“ auch für
Laien als interdisziplinär und gesell-
schaftsrelevant plausibel macht. Doch so-
sehr ich es auch wünsche: Chancen auf ein
„Großthema für ein ganzes Buchgenre“
sehe ich nicht. Ich forsche seit fünfund-
zwanzig Jahren zu diesem Thema, habe in

Print, Funk und Fernsehen dazu publiziert
und immer damit zu kämpfen gehabt, dass
Journalisten und Lektoren nur einen Sinn
fürs Alarmistische und Moralistische ha-
ben. Derweil schlumpft sich in Digitalien
alles, wie Eugen Rosenstock-Huessy pro-
phezeite: „Lebendige Zerbrechlichkeit“
wird ersetzt durch „Konservenbüchsen-
glück“ (made in China). Crispr wird prakti-
ziert. Alles funktioniert. Und niemandem
fehlt etwas.
PROFESSOR DR. BERND BEUSCHER,
DUISBURG

Zu dem Kommentar „Linienstraße“ von
Hannes Hintermeier (F.A.Z. vom 19. Ok-
tober): Als Berliner, der sich durch die
verbesserungsfähige Berliner Verwal-
tung genervt fühlt, hat mich Ihre Feuille-
ton-Glosse veranlasst, den für das neue
Quartier des Suhrkamp Verlages zustän-
digen Bezirksbürgermeister zu kontaktie-
ren.
Die Antwort seiner Behörde zeigt,
dass der von Ihnen veröffentlichte Arti-
kel nicht die wirklichen Gegebenheiten

wiedergibt. Ganz offensichtlich wurde
die zukünftige Adresse aufgrund der Bau-
pläne in der Torstraße vergeben; aus Ih-
rem Artikel ist folgerichtig zu schließen,
dass der Suhrkamp Verlag eine spätere
Planänderung für den Gebäudeeingang
vorgenommen hat.
Ich bin grundsätzlich ein begeisterter
F.A.Z.-Leser, aber hier bleibt der fade
Beigeschmack einer verdrehten Bericht-
erstattung.
ERICH HAGEL, BERLIN

Zum Leserbrief von Adelheid Haas „Im-
mer auf der richtigen Seite“ (F.A.Z. vom


  1. Oktober): Jede Relativierung der na-
    tionalsozialistischen und antisemitischen
    Gesinnung von Emil Nolde und der Vertu-
    schungs- und Verklärungshilfen des lini-
    entreuen Nationalsozialisten und SA-
    Manns Werner Haftmann zugunsten Nol-
    des wirkt befremdlich. Nolde und Haft-
    mann sind im Dritten Reich nicht „fal-
    schen politischen Hoffnungen erlegen“.
    Sie waren mehr als nur gewöhnliche poli-
    tische Mitläufer. Nolde warb aufdringlich
    bei den NS-Kulturpolitikern um die Positi-
    on eines offiziell anerkannten Staats-
    künstlers. Seine Kunst – von ihm selbst
    zur nationalsozialistischen Gesinnungs-
    kunst umdefiniert – hätte er nur zu gerne
    in den Dienst der NS-Ideologie gestellt.
    Seinen Antisemitismus inszenierte Nol-
    de zum abgrenzenden Alleinstellungs-
    merkmal gegenüber anderen bildenden
    Künstlern seiner Zeit. Er pries immer wie-
    der seinen andauernden Kampf gegen die
    „übergroße jüdische Vorherrschaft in al-
    lem Künstlerischen“. Der Demokratiever-
    ächter Nolde biederte sich sogar bei Hit-
    ler mit einem eigenen „Entjudungsplan“
    an. Pech für ihn, dass Hitler den Expres-
    sionismus und Noldes Bilder als un-
    deutsch und entartet ablehnte.
    Nach dem Krieg hatte sich Nolde statt
    erklärender Einblicke in seine damalige
    Gedankenwelt ein lügnerisches Zerrbild
    vom unschuldigen Opfer des Nazi-Terrors
    geschaffen, das nach seinem Tod unter an-
    deren vom prominenten Kunsthistoriker
    Haftmann wider besseres Wissen öffent-
    lich gepflegt wurde. Nolde ließ wissen, er


habe als „Nazi-Gegner“ und „Träger des
Widerstands“ schon früh darauf hingewie-
sen, dass nach 1933 Anständigkeit und
Moral in Deutschland gesunken seien.
Durch sein Narrativ ermutigt, hatte Nol-
de „als wegen seiner Weltanschauung Ver-
folgter“ vom deutschen Staat sogar Ent-
schädigungsansprüche für „Schäden am
Vermögen“ und für „sonstige schwere
Schäden“ gefordert.
Die Veröffentlichung unerfreulicher
Fakten zu Nolde und Haftmann gebietet
schon allein die Fairness gegenüber den
damals tatsächlich verfolgten Künstlern.
Außerdem warnt sie eine erneut zu
Rechtslastigkeit und Antisemitismus nei-
gende Gesellschaft vor gefälschten Legen-
den falscher Vorbilder. Solche „Abrech-
nungen“ entspringen gewiss nicht der Ar-
roganz Spätgeborener, sondern eher ei-
ner Verantwortung, sich nicht mitschul-
dig zu machen. Sie beschreiben im Übri-
gen lediglich die zwiespältigen Personen
Nolde und Haftmann und belasten nicht
Noldes Kunst oder Haftmanns lebenslan-
gen Einsatz für den Expressionismus. Die
„Tugendhaftigkeit“ Noldes war nie Maß-
stab seiner Kunst – denn dann wären Nol-
des Bilder entzaubert und schlechte Bil-
der. Sie sind aber wahrhaft große Kunst,
hatten Deutschland gleich nach dem
Krieg ein wenig hoffnungsfroher ge-
macht. Glücklicherweise werfen die politi-
schen Gesinnungen Noldes und Haft-
manns keine Schatten auf Noldes Kunst
und Haftmanns Verdienste um die moder-
ne Kunst, die allerdings – weil nicht mit-
einander aufrechenbar – auch keine per-
sönliche Absolution beider begründen.
DR. ULRICH BENDER, DETMOLD

Misstrauen ist angebracht


Aus der Deckung gewagt


Konservenbüchsenglück


Fader Beigeschmack


Mehr als nur gewöhnliche politische Mitläufer

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