Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.10.2019

(Joyce) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019·NR. 252·SEITE 9


W


as ist anders an einem
Film, den eine Frau ge-
dreht hat? Nicht bei jedem
Film einer Regisseurin
stellt sich diese Frage,
aber im Fall von „Porträt einer jungen
Frau in Flammen“ von Céline Sciamma
ist sie unausweichlich. Weil in jedem
Bild, in jedem Augenblick der Stille, je-
dem gesprochenen Satz, jedem Blick eine
Aufmerksamkeit liegt, die weiblich ist in-
sofern, als sie in Filmen von Männern
nicht zu finden ist. Ein Abtasten von Kör-
pern mit der Kamera, das keine Spur von
Voyeurismus zeigt. Eine Hingabe von Lie-
benden jenseits von Macht. Eine Erzähl-
haltung, die auf den Pfeilern der genauen
Wahrnehmung davon steht, in welcher na-
türlichen Position Frauen sich zur Welt be-
finden – in der Position der Kämpfenden
nämlich, notgedrungen und täglich. Sie
kämpfen darum, trotz schwerer Kleider
über unförmigen Unterröcken loszuren-
nen. Darum, zu entscheiden, wie die eige-
ne Zukunft aussieht. Um Anerkennung in
ihrem Handwerk, ihrer Kunst. Ums Sub-
jektsein also. Möglicherweise gewinnen
sie den Kampf, auch wenn es nicht so aus-
sieht, weil sie sich den Konventionen ih-
rer Zeit am Ende beugen müssen.
Céline Sciamma, die auch das (in
Cannes mit einer Palme ausgezeichnete)
Drehbuch zu ihrem Film geschrieben hat,
erzählt von der Liebe zweier Frauen im
vorrevolutionären Frankreich. Es geht
um Begehren, Zögern, Verlocken, Erken-
nen, um Lust. Da die eine Frau, Mari-
anne, gespielt von Noémie Merlant, eine
Malerin, die andere, Héloise, gespielt von
Adèle Haenel, ihr Modell, obwohl sie das
lange nicht weiß, geht es ebenso um Fra-
gen der Kunst, der Repräsentation, der
Poesie. Vor allem aber, da es sich um
Kino handelt, geht es darum, wie eine Ge-
schichte aus jener Zeit in einem Film von
heute aussehen kann – einem Kostüm-
film, als sei es der erste überhaupt. Einem
Liebesfilm, als hätte es kaum einen zuvor
gegeben. Einem Künstlerinnenporträt
jenseits akademischer Grabenkämpfe
und jenseits der Vorstellung vom einsam
Genialischen.
Und weil eine Liebe zwischen zwei
Frauen im achtzehnten Jahrhundert kei-
ne lebenspraktische Perspektive ist, hat
Céline Sciamma ihre Geschichte aus der
Erinnerung heraus gebaut. Ihr Film ist
über alles hinaus also auch ein Film über
die Zeit und darüber, was die Kunst, das
Kino, mit ihr macht. Dazu braucht sie ih-
rerseits Zeit. Nicht im Sinn einer beson-
ders ausgedehnten Filmlänge, das nicht,
nach zwei Stunden ist „Porträt einer jun-
gen Frau in Flammen“ vorbei. Aber
Sciamma erzählt in vollständigen szeni-
schen Einheiten, macht kein Schnittfutter
aus ihren Einstellungen, blendet nicht
weg, sondern erzeugt ihren Rhythmus,
der dramatisch sein kann oder jauchzend
oder auch schläfrig, allein in den Szenen
selbst, durch Spiel und Bewegungen ihrer
Schauspielerinnen und deren Kostüme
(von Dorothée Guiraud), und mit der Ka-
mera, geführt von Claire Mathon.
Der Film beginnt im nachrevolutionä-
ren Frankreich in einer Malerinnenklas-
se, die Marianne unterrichtet und in der
sie für ihre Schülerinnen Modell sitzt. Es
herrscht Stille, die leisen Anweisungen
Mariannes, der leise Atem der Frauen
und das Geräusch kratzenden Graphits
sind das Einzige, was wir hören. Eine der
Schülerinnen hat im Depot der Akademie
ein Bild entdeckt, das sie fasziniert, und
es hinten im Saal auf einen Stuhl gestellt.
Ob sie es gemalt habe und wie es heiße,
fragt die Schülerin. Und Marianne sagt:
„Porträt einer jungen Frau in Flammen“.

Die Erzählung, die folgt, setzt mit die-
sem Bild ein und ist in ihm gleichzeitig be-
reits enthalten. Eine junge Frau steht im
Dunkeln am Waldrand. Ihr Kleid hat Feu-
er gefangen. Ihr Gesicht leuchtet, ihr
Blick ist ein Versprechen, dahinter ein Ge-
heimnis. Ein Frauenblick hin zu einer an-
deren Frau, der Malerin. Wie die Sache
ausging, ist am Anfang klar. Das ist in ge-
wisser Weise ihr Punkt. Dieser Film ist
das Echo einer Liebe in der Erinnerung.
Die Geschichte dieser Liebe beginnt
auf dem Meer, dem wilden Meer zwi-
schen der Küste der Bretagne und einer
vorgelagerten Insel. In dem kleinen
Boot, das von einigen Männern an den
Rudern und am Steuer gelenkt wird, sitzt
Marianne, ihren Arm locker auf eine Kis-
te gelegt, dann, als der Seegang heftiger
wird, sie fest umklammernd. Aber sie
kann sie nicht halten, die Kiste rutscht
über Bord. Die Männer bleiben desinter-
essiert. Aber Marianne springt in die Wel-
len und zieht die Kiste, die ihre Leinwän-
de enthält, zurück aufs Boot. Platschnass
setzen die Männer sie am Strand der In-
sel ab und verschwinden aus dem Film.
Bis zum Schluss tauchen keine Männer
mehr leibhaftig auf, und auch auf Film-
musik verzichtet Céline Sciamma weiter-
hin konsequent.

Marianne stapft in ihren durchnässten
Kleidern über bewaldete Hügel, bis sie
schließlich an einem verfallenden Schloss
ankommt, klopft und von einer Magd her-
eingelassen wird. Außer ihr ist in den rie-
sigen Hallen niemand zu sehen, Kerzen-
licht ist die einzige Lichtquelle, eine
schauerromantische Stimmung liegt über
den Ganzen, und niemand würde sich
über einen unheimlichen Grafen wun-
dern, der die Treppe herunterkommt.

T


atsächlich hat die Drohung,
die über allem liegt, mit einem
Grafen zu tun, doch der ist
weit weg in Mailand. Ein Bräu-
tigam. Deshalb ist Marianne
gekommen. Um die Tochter des Hauses,
Héloise, die kürzlich erst aus dem Klos-
ter zurückkam, im Auftrag der Herzogin
(Valeria Golino), ihrer Mutter, zu porträ-
tieren, und zwar für jenen Grafen in Mai-
land, der eigentlich die Schwester heira-
ten wollte. Doch die hat sich dem Arran-
gement durch Selbstmord entzogen. Hé-
loise wehrt sich dagegen, mit einem Bild
angepriesen zu werden, deshalb soll Ma-
rianne sich als Gesellschafterin ausge-
ben und Héloise beobachten und sie
dann aus der Erinnerung malen, ohne
dass diese davon erfährt.

Héloise ist misstrauisch und belauert
Marianne. Marianne beobachtet sie ihrer-
seits, um Material zu sammeln. Beiden ge-
fällt, was sie entdecken. Aber als Mari-
anne schließlich mit ihrem Gemälde fer-
tig ist und Héloise ihre Hinterlist gesteht,
inspiziert diese das Bild und sagt: „Weder
Sie noch ich sind auf dem Bild.“ Ihre Ent-
täuschung gilt nicht nur dem Verrat Mari-
annes. Es ist eine ästhetische Enttäu-
schung. Darüber, wie konventionsverbun-
den Marianne in ihrer Kunst ist. Wie we-
nig Risiko sie eingeht. Wie wenig Leben
sie in ihrem Bild einfangen, wie wenig Le-
bendigkeit sie erzeugen konnte.
Von nun an werden sie zusammenarbei-
ten, die Malerin und ihr Modell. Und sie be-
ginnen, über Kunst zu sprechen, darüber,
warum Frauen immer so kleine Bilder ma-
len und keine Schlachtendarstellungen,
dass sie keine Männerakte üben dürfen
und ihnen deshalb die großen Themen ver-
schlossen bleiben, die allerdings vielleicht,
so lässt sich ahnen und später auch beob-
achten, nicht die einzigen sind, die der Auf-
merksamkeit einer Künstlerin wert sind.
Seit die Herzogin für ein paar Tage aufs
Festland gefahren ist, ist die Magd Sophie,
gespielt von Luàna Bajrami, als Dritte im
Bund zu dieser kurzen feministischen Uto-
pie hinzugestoßen. Eines Abends lesen

sie gemeinsam die Legende von Orpheus
und Eurydike. Dass Orpheus die Geliebte
der Unterwelt zurückgibt, indem er sich
umdreht, das sei kein Unglück, sondern
die Haltung des Poeten, sagt Marianne.
Man könnte auch sagen: Sein Blick, in
dem die Geliebte ihm bleibt, was sie in die-
sem Augenblick für ihn war, das ist es,
worum es im Kino geht. Eine Erfahrung
bleibt, was sie war. Sie altert nicht, so we-
nig wie die Liebenden. Orpheus’ Blick,
das ist in diesem Film das Porträt der jun-
gen Frau in Flammen.
Wenn Frauen Filme machen, ist die
Wahrscheinlichkeit groß, dass wir etwas
zu sehen bekommen, was wir noch nicht
gesehen haben. Zum Beispiel Bilder, die
Frauen im achtzehnten Jahrhundert ge-
malt haben zu einer Zeit, als ihre Kleider
noch Taschen hatten, in die sie alles Mög-
liche stecken konnten. Mit der Französi-
schen Revolution war das dann vorbei.
Auch das zeigt dieser Film. Um am Ende
bei Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ noch ein-
mal alles an Gefühl, Verstehen, Lust, Lie-
be und Verlust aufzuwühlen, das zwi-
schen Marianne und Héloise trotz allem
möglich war und aufgehoben blieb in ei-
nem Bild von einer Frau in Flammen und
einem Akt, versteckt in einem Buch auf
Seite 28. VERENA LUEKEN

Sie haben am Beispiel ostdeutscher
Randregionen über Kulturen des Un-
muts geforscht. Warum?
Im Unmut ist eine Erwartung an die
Welt erhalten. Über den Unmut erhalten
wir Einblicke in die Vorstellungen der
schimpfenden Menschen von einem gu-
ten Leben. Daher muss der Unmut sehr
ernst genommen werden.

Bei der vergangenen Landtagswahl ha-
ben rund eine Viertelmillion Thüringer
die AfD gewählt. Was sind das für Men-
schen?
Das ist eine sehr heterogene Gruppe.
Die wenigsten Wähler der AfD bekennen
sich öffentlich zu ihrem Wahlverhalten,
weil sie wissen, dass ihre Wahl nach wie
vor eine Art Tabubruch in der Gesell-
schaft darstellt. Bei meinen Feldforschun-
gen, die ich im letzten Jahr in Ostthürin-
gen und Sachsen durchführte, habe ich
aber Menschen getroffen, die mir indirekt
Hinweise auf ihr Wahlverhalten gaben.
Das reichte von der Rentnerin mit Ar-
beitslosenbiographie und sehr niedriger
Rente, die darunter leidet, ihre Enkel
nicht unterstützen zu können, über den
Gedemütigten, der einst zur DDR-Elite
gehörte und dann seinen sozialen Status
einbüßte. Oder einen ehemaligen DDR-
Oppositionellen, der früher sein Selbstbe-
wusstsein aus einer Gegnerschaft zum
Staat bezog, in der Bundesrepublik nie
richtig Fuß fasste und deshalb dem gegen-
wärtigen System wiederum feindlich ge-
genübersteht. Bis hin zum Selbständigen,
der viel arbeitet und trotzdem auf keinen
grünen Zweig kommt, sozial kaum abgesi-

chert ist und darüber hinaus keine Lobby
für seine Anliegen findet. Zudem noch
der schlecht bezahlte Arbeiter, dem die
Wertschätzung fehlt, und der Einfältige,
dem die ganze Welt zu unübersichtlich ist
und der nach einfachen Modellen sucht.
In Teilen Ostthüringens und vor allem im
sächsischen Erzgebirge und dem Vogt-
land darf man außerdem den starken Ein-
fluss evangelikaler und charismatischer
Strömungen auf das Wahlverhalten nicht
unterschätzen.

Erstaunlich ist, dass die AfD gerade bei
jungen Wählern sehr erfolgreich abge-
schnitten hat. Wie kommt das?
Das Umfeld spielt eine wichtige Rolle.
Ein junger Mann erzählte mir unlängst,
dass er früher Hakenkreuze an die Wand
sprühte und nun die SPD wählen würde,
weil sein Lehrmeister das auch tue. Bei
jungen Menschen sind die politischen
Meinungen noch sehr formbar, da spielen
Vorbilder eine große Rolle. Darum küm-
mern sich die etablierten Parteien zu we-
nig. Beispielsweise gab es vor einiger Zeit
einen Sportler-Ball in der ostthüringi-
schen Provinz, zu dem auch die lokale Po-
litprominenz geladen war. Von den eta-
blierten Parteien kam niemand, nur zwei
Vertreter der AfD waren da. So etwas
wird von den Leuten sehr aufmerksam re-
gistriert. Es stellt sich auch die Frage: Wie
ernst wird die Jugend in einem alternden
Land genommen? „Hier werden keine
Fachkräfte, sondern nur billige Fachidio-
ten gesucht“, erklärte mir neulich ein jun-
ger Mann mit gutem Studienabschluss,
der gerne in Thüringen arbeiten würde,

aber dort keine anständig bezahlte Be-
schäftigung findet.

Im Wahlkampf wurde der Spitzenkandi-
dat der AfD als „Rassist“, „Faschist“
und „Nazi“ bezeichnet. Wenn man sei-
nen Wahlerfolg jetzt betrachtet, scheint
es, als habe ihn das nur stärker ge-
macht.
Ich glaube, viele, die jetzt AfD gewählt
haben, interessieren sich gar nicht so be-
sonders für den Spitzenkandidaten an
und für sich. Sie wollen einfach ihren Pro-
test ausdrücken. Die etablierten Parteien

nehmen die reale Angst der Bürgerinnen
und Bürger nicht ernst. In dem von ihnen
oft beschworenen „Dialog“ geht es meist
nur darum, die Angst der Bürger zu relati-
vieren, nicht, sie zu verstehen. Vielen
AfD-Wählern geht es materiell gut, aber
hinter der ökonomischen Fassade fühlen
sie eben eine große Leere. Sie werden ge-
trieben von Abstiegsangst und Sehnsucht
nach Überschaubarkeit, Sicherheit und
Kontinuitäten. Bei den etablierten Partei-
en ist der Begriff „Reform“ zum Beispiel
durchweg positiv besetzt, aber viele Leu-
te in Ostdeutschland haben in den letz-
ten dreißig Jahren schon so viele Re-
formen erlebt und wollen einfach nicht
noch mehr Veränderung. Da kann dann
zum Beispiel die Diskussion um eine
Gemeindegebietsreform schnell Reflexe
wecken, die nicht mehr einzufangen
sind.

Die Grünen haben in Thüringen ein un-
terirdisches Ergebnis erzielt. Treibt der
Klimawandel die Menschen in Thürin-
gen nicht um?
In der Tat ist das kaum ein Thema im
Rahmen meiner Feldforschung gewesen.
Die Leute sprechen wenig darüber. Was
ich im Zuge meiner Untersuchungen statt-
dessen eindrücklich erlebe, ist eine Krise
des Lokalen. Wir müssen uns viel stärker
klarmachen, dass nur dort, wo Leute le-
ben, wirklich entschieden wird, wie sie
das Land als Ganzes finden. Deshalb
muss das Lokale um jeden Preis gestärkt
werden. Darauf aufbauend kann man
dann erst über globale Fragen reden.

Was müssen die Parteien aus der Sicht
der Ethnologin anders machen?

Die meisten Parteien denken viel über
ihr Image bei den Wählern nach. Sie in-
vestieren viel Geld in teure Werbespots
und schalten Anzeigen in den sozialen
Netzwerken. Aber vielleicht wäre es ja
viel lohnender, wenn sie ihr eigenes Bild
vom Wähler, von der Wählerin unter-
suchen würden. Und sich fragten, ob sie
bei ihrer Bewertung der Personen nicht
zu stark vereinfachen, ob sie die Komple-
xität der Biographien wirklich anerken-
nen. Es müsste viel stärker darum gehen,
die Wähler als mündige Mitakteure im
politischen Feld anzuerkennen. Dazu ge-
hört, sie nicht nur im Wahlkampf in ih-
ren Dörfern und Vereinen zu besuchen
und sich den Rest der Zeit in eine eigene
Welt aus Gremien und Dienstwagen zu-
rückzuziehen. Man muss sich den Leuten
zeigen und ihnen damit Wertschätzung
entgegenbringen. Auch und gerade auf ei-
nem Sportler-Ball in der Provinz.

Wagen Sie eine persönliche Koalitions-
prognose?
Es erscheint eher unwahrscheinlich,
aber warum sollte die Linke nicht mit der
CDU koalieren? Denn so unglaublich es
für viele westsozialisierte Beobachter
klingen mag, aber die Linke als Nachfolge-
partei der SED und die CDU als einstige
Blockpartei haben eine gemeinsame Poli-
tikerfahrung. In der DDR haben sie schon
einmal zusammengearbeitet. Und nach
der Wende sind nicht wenige ehemalige
SED-Mitglieder in die CDU eingetreten.
Allein von den Persönlichkeitsstrukturen
her könnte so eine Koalition durchaus
funktionieren.
Das Gespräch führte Simon Strauß.

Immer mehr entwickelt sich die Gras-
si-Messe im Leipziger Museum für An-
gewandte Kunst zu einer wichtigen
Leistungsschau für Kunsthandwerk.
Dazu tragen auch die fünf Preise bei,
die unter den Ausstellern vergeben
werden. In diesem Jahr nahmen insge-
samt 120 Kunsthandwerker teil, und
die Hauptauszeichnung, der Grassi-
Preis der Carl und Anneliese Goerde-
ler-Stiftung, ging an den Pforzheimer
Schmuckgestalter Rainer Milewski für
Bronze- und Edelstahlringe mit zähne-
fletschenden Tiergesichtern. Die weite-
ren Grassi-Preise erhielten Christoph
Leuner für seine Holzgefäße, das Berli-
ner Büro famos für experimentelle
Glasarbeiten, die Schmuckdesignerin
Kirsten Jäschke aus Dresden und die
Hamburger Keramikerin Chanyeon
Cho. Mit dem Grassi-Nachwuchspreis
wurde die Modegestalterin Lea
Schweinfurth von der Kunsthochschu-
le Burg Giebichenstein ausgezeichnet.
Die Preise sind mit insgesamt achttau-
send Euro dotiert. F.A.Z.

Ein Gespräch mit der Ethnologin Juliane Stückrad


Das Lokale muss um jeden Preis gestärkt werden


Wie weiter in Thüringen? Die Volkskundlerin aus Eisenach über den Unmut der Wähler, Politiker als Vorbild und die Sehnsucht nach Kontinuitäten


Gezähnter Schmuck
Preise der Grassi-Messe Leipzig

D


er Fußball wird von Lyrikern ge-
liebt, wie diverse Beispiele von
Robert Gernhardt bis zu Silke Scheuer-
mann zeigen, aber die Lyrik wird von
Fußballfans nicht unbedingt zurückge-
liebt. „Handke – Du weißt ja nicht mal
die Aufstellung vom 27.01.1968!“, war
am vergangenen Wochenende auf ei-
nem Spruchband zu lesen, das Fans im
Nürnberger Stadion beim Heimspiel
gegen Regensburg hochhielten. Es
spielt auf Peter Handkes Gedicht „Die
Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom




    1. 1968“ an, das, wie schon lange
      bekannt ist, einen Fehler aufweist:
      Hinten links spielte an jenem Tag
      nicht Horst Leupold, sondern Helmut
      Hilpert. Diesen Fehler als poetische
      Lizenz zu betrachten scheint in der No-
      belpreis-Debatte um Handke, auf die
      die Nürnberger Spruchband-Designer
      mit ihrem provozierenden „Du weißt
      ja nicht mal“ wohl anspielen, man-
      chen nicht mehr möglich. Das aber
      zeugt von Opportunismus, galt doch
      zuvor Handkes Gedicht einigen als
      Huldigung. Ein größeres Problem die-
      ses Readymade-Poems aus aufgezähl-
      ten Spielernamen indes: Man kann es
      schlecht singen. „Wabra, Leupold,
      Popp“ und so weiter – es ist doch ein
      Kreuz mit der modernen Lyrik! Wobei
      die tatsächliche Hymne der Nürnber-
      ger, „Iiech bin a Glubberer“, auch
      nicht arg melodisch wirkt, aber das
      mag sich dem Franken anders darstel-
      len. Wohlklingender scheint da schon
      das „Steigerlied“ („Und da drunten im
      tiefen, finstern Schacht bei der
      Nacht“), bekannt aus der Schalke-Are-
      na mit Grubenlampenromantik und
      zuletzt beinahe zum Absteigerlied mu-
      tiert. Dabei hat „Glückauf, Glückauf!
      Der Steiger kommt“ gar nicht exklusiv
      etwas mit Schalke 04 zu tun, sondern
      ist ein altes Bergmannslied, dessen
      Wurzeln laut Musikforschern bis ins



  1. Jahrhundert zurückreichen. Auf
    Antrag des Vereins Ruhrkohle-Musik
    soll es nun ins bundesweite Verzeich-
    nis des immateriellen Kulturerbes auf-
    genommen werden. Was dazu Schal-
    kes Rivalen und deren Anhänger sa-
    gen, ist die Frage. Wird man dem-
    nächst in Dortmund, Oberhausen
    oder Duisburg Spruchbänder sehen,
    die fordern: „Das Steigerlied gehört
    uns allen“? Oder werden die dortigen
    Vereine ihre eigenen Hymnen zum
    Kulturerbe erklären? Duisburg etwa
    hätte mit dem sogenannten „Zebra-
    Twist“ die angeblich älteste deutsche
    Stadionhymne im Angebot, und was
    erst los ist, wenn der Trend das ganze
    Fußball-Land erfasst, mag man sich
    gar nicht ausmalen. In Bremen singen
    sie bekanntlich „Ihr seid cool und wir
    sind heiß“, in Frankfurt „Schwarz-
    weiß wie Schnee“, in Berlin „Am
    Abend dann am Tresen werden wir
    zum Libero“ – Texte, zu denen Robert
    Gernhardt vielleicht gesagt hätte, da
    war einer „mental nicht auf dem
    Papier“. Und in Paderborn sangen die
    Fans am vergangenen Wochenende
    nach dem ersten Saisonsieg „Her-
    mann Löns, die Heide brennt“. Dann
    vielleicht doch lieber versuchen, Hand-
    ke zu vertonen. wiel


Der von der Christlichen Medieninitia-
tive pro e.V. verliehene „Goldene
Kompass“ geht in diesem Jahr an Me-
lanie Mühl, Redakteurin im Feuilleton
dieser Zeitung. Ausgezeichnet wird
ihr am 23. Februar 2018 erschienener
Beitrag „Wem geht es schlechter,
wenn er Flüchtlingen hilft?“. Der in
mehreren Kategorien verliehene „Gol-
dene Kompass“ zeichnet Medienschaf-
fende aus, die Beispiele glaubhaft ge-
lebten Christseins darstellen und dazu
beitragen, dass christlicher Glaube
und Kirche im öffentlichen Gespräch
bleiben. Der Preis ist mit 2500 Euro
dotiert und wird am 14. November in
Berlin verliehen. F.A.Z.

Céline Sciamma hat mit „Porträt einer jungen


Frau in Flammen“ einen Kostümfilm gedreht, der


aussieht wie kein anderer, einen Liebesfilm, als sei


es der erste, einen Film über die Kunst, wie es


noch keinen gab: Eine Malerin und ihr Modell im


Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts.


Die Stunde vor einer Liebesnacht, eine Erinnerung, ein Bild: Adèle Haenel auf dem Porträt einer jungen Frau in Flammen in dem Film von Céline Sciamma Foto Alamode Film


Glubberei


Melanie Mühl
Erhält den „Goldenen Kompass“

Spiel der Blicke,


die nicht töten


Juliane Stückrad Foto privat

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