Süddeutsche Zeitung - 30.10.2019

(C. Jardin) #1
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von catrin lorch

D


er Radiergummi ist an den Ecken
schon etwas abgerubbelt. Mitten-
drin steckt jetzt eine kleine Stange,
sie hält zwei dreieckige, gefaltete Schnip-
sel fest. Das reicht. Und alles ist da: Wind,
Wellen, das Schaukeln eines kleinen Boo-
tes und die Erinnerung daran, dass man
den Elementen nicht trotzen muss, weil
man sich von ihnen auch mitnehmen las-
sen kann. Die „Paarig gefalteten Dreiecke
an einem Mast“ sind nur ein paar Zentime-
ter hoch, der Bildhauer Hermann Glöckner
hat die Skulptur Ende der Sechzigerjahre
zusammen gesteckt – aus dem, was im Ate-
lier rumlag – das Muster, das die Segel
überzieht, sind ein paar Buchstaben in ver-
blichener Tinte.
Dieses „Modelli“ wie der im Jahr 1889 in
Dresden geborene Künstler solche Erfin-
dungen nannte, blieb klein. Wie die meis-
ten Skulpturen dieser Reihe bestehen sie
einfach aus etwas Papier, Büroklammern,
Klebstoff, Karton. Die Fotografien aus
dem Atelier des Künstlers atmen die glei-
che konzentrierte Gelassenheit, zeigen sau-
ber aufgereiht Scheren, Lupe, Messer und
handelsübliche Zollstöcke. Hermann
Glöckner war es gewohnt im kleinen Maß-
stab zu arbeiten, galt er doch zu Zeiten des
Nationalsozialismus als Moderner und in
der DDR als Nonkonformist. Da denkt man
nicht in Gusseisen oder Stahl, sondern
bleibt bei dem, was im Atelier zu haben ist.

Eine Ausstellung in der Staatlichen Gra-
phischen Sammlung in München feiert
Hermann Glöckner jetzt als „Meister der
Moderne“. Und in dem Saal, in dem ein gu-
tes Dutzend der Modelli unter Glasvitrinen
aufgesockelt sind, erkennt man sofort die
Verwandtschaft dieser Skulpturen mit den
großen Setzungen der Nachkriegskunst,
mit den Eisenskulpturen eines Richard Ser-
ra oder den bunt lackierten, frei schwingen-
den Plastiken eines Frank Stella. Während
diese um Generationen jüngeren Bildhau-
er weltweit gefeiert wurden, haftet den
leicht vergilbten Modelli die Aura des Unbe-
kannten an, bis heute. Denn obwohl sie
klein sind, zart und provisorisch, belegen
sie, dass sich Hermann Glöckner auf
Augenhöhe mit den Zeitgenossen beweg-
te, dass er – der in der unmittelbaren Nach-
kriegszeit noch reisen und beispielsweise
die ersten Ausgaben der Documenta
besuchen konnte – nicht wirklich abge-
schnitten war von der zeitgenössischen
Kunst.
Und auch wenn der Einzelgänger im
Westen nicht eben bekannt war, so konnte
die DDR-Kulturpolitik, die ihm erst im ho-
hen Alter eine erste Museumsschau ermög-
lichte, doch nicht verhindern, dass sich

heute sein Einfluss auf so bedeutende Zeit-
genossen wie den Maler und Bildhauer
Thomas Scheibitz leicht erkennen lässt.
„Artist’s artist“ nennt man solche Außen-
seiter, Künstler-Künstler.
Die jetzt eröffnete Ausstellung ist aber
mehr als der Versuch der Rehabilitation,
sie wirkt unerwartet aktuell: Die Gegen-
wart schätzt das Ephemere, das Unerfüllte,
das Projekt. Gerade im Verhältnis zu ei-
nem Kunstverständnis, das Material und
Aufwand verschlingt wie die meterhohen
Skulpturen der Amerikaner. Vor der nicht
einmal 20 Zentimeter hohen „Mehrfachen
Verschlingung eines Passepartoutde-
ckels“, die nach 1977 entstand, stellt man
schnell fest, dass man nicht unbedingt in-
mitten einer Skulptur stehen muss, oder
vor aufwendig lackiertem Metall um die
Kreuzung aus zwei und drei Dimensionen
zu bestaunen, die sich bei Glöckner in schö-
nen Ringeln entfaltet. Dass der Künstler
das Knäuel aus einem Passepartout zusam-
men steckte, einem Karton, der sonst dazu
dient, ein Bild im Rahmen zu halten, macht
die kleine Skulptur noch klüger, an deren
Kanten der Blick des Betrachters wieder
und wieder entlang gleiten möchte. Materi-
al und freie Form verbinden sich schluss-
endlich doch. Wie auch die Erkenntnis,
dass die zur Doppelwelle aufgebogenen
Kartons, die gegeneinander anbranden,
aus der Einladungskarte zur Eröffnung
der VII Kunstausstellung der DDR im Jahr
1977 zusammengeleimt wurden.
Man wünschte, dass der erst im Jahr
1987 verstorbene Künstler bekannter wä-
re, dass sein Name gerade in Deutschland
geläufig wäre. Doch es ist zu befürchten,
dass der aufwendig gestaltete Katalog, der
immerhin 240 Euro kostet, nicht eben für
Verbreitung sorgen wird. Der knappe
Rundgang dagegen enthält viel von dem,
was diesen Künstler ausmacht. Schon weil
auch das in den frühen Dreißigerjahren
entstandene Tafelwerk einbezogen wurde,
eine Serie von mehr als 100 Kartons, zu de-
nen Collagen aus Zeitungsausschnitten ge-
nauso gehören, wie aus farbigem Papier zu-
sammen gestellte Abstraktionen.
Die Vitrinen, an denen vorbei man in die
Ausstellungssäle gelangt, schlagen eine
Schneise durch ein sieben Jahre umspan-
nendes Lebenswerk, das mit klassischer
Malerei einsetzt und am Ende mit Farbfeld-
malereien und Tapetenmustern ausläuft,
die man umstandslos einem Sigmar Polke
zuschlagen will. Nicht wenige entdecken
übrigens erst nach Verlassen der Schau die
bunt bemalten Kartons im Eingang. Man
ist dann schon so auf den Glöckner’schen
Maßstab kalibriert, dass einem die Kekspa-
ckungen und Kistchen im Verhältnis zu
den Modelli schon fast wie eine modernis-
tisch aufgebrochene Stadt erscheinen.

Hermann Glöckner. Ein Meister der Moderne. Bis
zum 19. Januar 2019 in der Staatlichen Graphischen
Sammlung München. Der Katalog kostet 240 Euro.

Kunst mit


kurzem Zollstock


Die Graphische Sammlung in München zeigt


Hermann Glöckner als „Meister der Moderne“


Wenn alte Männer Theaterstücke inszenie-
ren, in denen junge Frauen die Hauptrolle
spielen, geht das häufig schief. Dann legt
sich oft ein klebriger Lolitafilm über den
Abend, der die eigentliche Botschaft sabo-
tiert. Dies ist nun auch Jürgen Kruse mit
„Glaube Liebe Hoffnung“ an den Kammer-
spielen des Deutschen Theaters Berlin
passiert. Seine fast zweieinhalbstündige
Version: so vorgestrig und unlustig wie ein
Altherrenwitz.
Natürlich kann Kruse nichts dafür, dass
Ödön von Horváth das Sozialdrama von
1932 mit einer mittellosen Dessousverkäu-
ferin bestückt hat, die es sogar wirklich ge-
geben haben soll. Das alles Entscheidende
aber ist, was man aus einer solchen
Geschichte macht, die unmissverständlich
von Misogynie, Ausbeutung und Exklusi-
on handelt. Und ob einem wirklich etwas
Neues und Kluges dazu einfällt, zumal die
Diskussion zu sexistischen Stereotypen im
Theater ja gerade in vollem Gange ist.
Leider ist Kruse aber nichts Neues und
Kluges dazu eingefallen, im Gegenteil. Sei-
ne Elisabeth, die Linda Pöppel so meister-
haft spielt, wie der Meister es eben will, ist
nicht mehr als ein sexy Opfer, das sich mit
rotem Schmollmund, rotem BH und roten
Strapsen an inhumanen Paragrafenreitern
abarbeitet, bis sie einsieht, dass Selbst-
mord die bessere Lösung ist. Wie sie da so
liegt, ist man selbst fast froh, dass sie end-
lich gestorben ist, so nervig, wie Kruse sie
mit ihrer stockenden Sprache und ihrem
Marilyn-Monroe-Geklimper angelegt hat.
Zu allem Überfluss sieht sie aber selbst als
Leiche noch perfide verführerisch aus, fast
wie eine ermordete Sexarbeiterin auf ei-
nem ARD-„Tatort“-Bett.
Weniger Abgedroschenheit ist sicher
nicht zu viel verlangt von einem 60-Jähri-
gen, den man eigentlich genauso cool
finden möchte wie den Anarcho-Papa, den
man selbst nie hatte, und von dem man
sich ein bisschen durch sein popkulturel-
les Universum schleudern lassen will, das
so übervoll mit Verweisen ist wie ein Pick-
and-Weight-Vintage-Store.
Zumindest geht es vielversprechend
los: mit hawaiianischer Mucke und aller-
hand herumstreunenden, von Sophie Ley-
pold abgerockt und glamourös eingeklei-

deten Gestalten, die das Publikum schon
vollquasseln, als es noch nicht mal sitzt.
Auch Bernd Damovskys Bühne ist großes
Kino: schwarze Wände, Sensenmänner,
Vogelkäfige mit dicken Kerzen, eine versil-
berte Marienfigur, die wie eine lebendige
Statue aussieht, Werbung zu Gunther von
Hagens’ „Körperwelten“, Bücher, Tape Art,
jede Menge Spitzenunterwäsche. Als dann
noch die treibenden Bässe aus dem Off da-
zu kommen, live gesungene Arme-Leute-
Chansons und ein Mann mit mondänem
Federhut bunt schillernde Seifenblasen
hereinpustet, hat man kurz das Gefühl, in
einer gelungenen Berlin-Parodie zu sein.
Endlich kritisiert mal einer die Romantisie-
rung des Künstlerprekariats, denkt man
noch, und so üble Event-Clubs wie den
Zirkusschuppen „Kater Blau“.
Doch dann kommt der Moment, in dem
die Parodie aus ihrem selbst abgesteckten
Rahmen kippt: Sollen diese vor sich hin
orakelnden Umweltaktivisten etwa ein Ver-
weis auf Greta Thunbergs Kampf gegen
den Klimawandel sein? Und will das lustig
sein? Eher nicht, so feierlich und ernst wie
das Ganze gewirkt hat. Ein plötzlicher Stim-

mungswechsel, der in diesem Kontext selt-
sam deplatziert erscheint. Ebenso wie die
Liebesszene zwischen Elisabeth und ihrem
Retter in der Not: Das kleine Tänzchen, das
Linda Pöppel und Manuel Harder, der den
Schutzpolizisten als adonishaften Singer-
Songwriter-Verschnitt spielt, da auffüh-
ren, mutet höchstens an der Oberfläche
ironisch an, darunter wie eine in die Jahre
gekommene Teenagerfantasie. Überhaupt
bekommt man im Lauf des Abends immer
stärker das Gefühl, hier einem etwas pathe-
tisch veranlagten Musiknerd beim Fach-
simpeln beizuwohnen. Jedenfalls nervt die
Referenzballerei irgendwann gehörig.
Keine Frage, die Schauspieler sind alle
großartig. Sie bewegen sich seltsam ge-
spreizt, sprechen wie ausgeleierte Schall-
platten und fügen sich selbst dann noch
perfekt in Kruses Welt ein, wenn sie sich
wie Alexandra Finder ständig selbst befum-
meln müssen. Dabei hätte man ihre Figur,
eine windige Geschäftsfrau, auf etliche Ar-
ten spielen können, ebenso wie die der Des-
sousverkäuferin Elisabeth. Doch Kruse
hat beide zu eindimensionalen Sexpuppen
gemacht, die mit seinen schillernden Män-
nerkarikaturen nicht mithalten können.
Bei ihm dürfen Frauen nur dann ihre Beine
zeigen, wenn sie schlank und makellos
sind, und männliche Charaktere nur dann
verkörpern, wenn sie sich einen Schnurr-
bart aufkleben. Und was, bitteschön, hat
der vormalige Volksbühnenschauspieler
Frank Büttner verbrochen, dass er wie ein
ungelernter Statist als Todesengel über die
Bühne schlurfen muss? Wobei: Mit ihm
haben die weiblichen Engel, die an Hos-
tessen eines Weihnachtsgewinnspiels im
Shoppingcenter erinnern, immerhin ein
männliches Pendant.
Das Schlimmste an diesem Abend aber
ist seine nervtötende Langsamkeit. Wenn
Kruse damit die großartige Marthaler-In-
szenierung des Stücks parodieren wollte,
ist es ihm nicht gelungen. Einmal wackelt
sogar die ganze Sitzreihe, weil ein Mann
vor lauter Ungeduld nicht mehr still sitzen
kann. Als es endlich vorbei ist, bekommt
der Zuschauer, der am meisten gekichert
hat – und gekichert haben viele –, eine
Blume zugeworfen. Man selbst würde jetzt
gerne duschen. anna fastabend

Film, und dafür gibt es kein besseres Bei-
spiel als Robert Evans, Film verdirbt den
Charakter. Norma Shearer soll den strah-
lenden Jüngling, damals noch Vertreter für
Damenunterwäsche, 1956 nach Hollywood
geholt haben, damit er ihren verstorbenen
Mann spiele, den legendären Produzenten
Irving Thalberg. Spielen konnte er nicht,
aber sein Aussehen war das stärkere Argu-
ment. „The kid stays in the picture“, soll
Darryl Zanuck Zweiflern entgegenge-
knurrt haben, der muss im Film bleiben.
Evans blieb, gab jedoch die Karriere als
Schauspieler bald selber auf und wurde
nicht bloß der Hollywood-Produzent mit
dem besten Aussehen, sondern ein ganzes
Jahrzehnt lang auch der einträglichste.
„Rosemaries Baby“, „Harold und Mau-
de“, „Der große Gatsby“ und vor allem „Chi-
natown“ gehörten zu seinen Erfolgen, weil
er im richtigen Moment das Filmgeschäft
modernisierte. Ende der Sechziger war das
alte Hollywood mit seinen epischen Wes-
tern und bibelformatigen Monumentalfil-
men erledigt. Es brauchte einen Außensei-
ter wie Evans, der nicht schon zum Fernse-
hen schielte und das Geld der Investoren
großzügig an jüngere Leute verteilte. Er
engagierte Roman Polanski, er förderte
William Friedkin, Peter Bogdanovich und
Francis Coppola, er machte Jack Nicholson
zum Star. Er verantwortete den unsägli-
chen und unsäglich einträglichen Kitsch-
film „Love Story“, der Hollywood 1970 das
Überleben sicherte, aber auch den wenig
gesehenen „Dialog“, Coppolas besten Film.
Mit Coppola stritt er sich Jahrzehnte lang
darum, wer den ersten „Paten“ so bearbei-
tet habe, dass er oscarreif und zum Klassi-
ker wurde.
In der Branche gilt das als „Morbus Selz-
nick“, benannt nach dem Produzenten, der
für „Vom Winde verweht“ fünf Regisseure
und noch mehr Autoren verbrauchte, weil
er es grundsätzlich besser wusste. Polan-
ski und Coppola wurden Stars, den Produ-
zenten ihrer Filme kannte keiner. Durch
„Chinatown“ sollte sich das ändern, Evans’
Name erschien im Vorspann, er hatte es ge-
schafft und drehte durch. Produzenten gel-
ten ja ohnehin als größenwahnsinnige An-
geber, maßlose Frauenvertilger und im
Schneideraum als Grobiane, blind für die

künstlerische Vision. Evans aber exzellier-
te in allen drei Disziplinen: Mit seinen Gold-
kettchen, der angewachsenen Sonnenbräu-
ne und den ewigen Starlets gab er den Kli-
schee-Mogul, der sich die Zigarre nie mit
weniger als einem Hundert-Dollar-Schein
anzündete. Zwischendurch war er sieben
Mal verheiratet, darunter mit der Liebe-
heißt-niemals-um-Verzeihung-bitten-zu-
müssen-Darbieterin Ali McGraw.

Bei der Fortsetzung von „Chinatown“
wollte er unbedingt auch noch als Schau-
spieler auftreten und ließ sich dafür sogar
das Gesicht nacharbeiten. Er war so
schlecht, dass ihn sein Regisseur feuerte.
Das Projekt wurde ebenso zum Fiasko wie
Coppolas „Cotton Club“, der im Kokain-
rausch gedreht wurde, dem sich Holly-
wood Ende der Siebziger hingab.
Eben noch war er der König von Beverly
Hills gewesen, dem alles, was er anfasste,
zum Erfolg geriet, jetzt brachte er die gan-
ze Branche in Verruf – die ihn ausstieß, als
einer seiner prospektiven Geldgeber Opfer
eines Auftragsmords wurde. Verurteilt
wurde eine Frau, die Evans regelmäßig
Drogen beschafft hatte. Der Produzent ver-
schwand, bis er 1994 seine Memoiren „The
Kid Stays In The Picture“ veröffentlichte.
Warum sollte er auch aus dem Bild ver-
schwinden, wo er doch alles mitgemacht
und alles über alle wusste?
In seinem lang andauernden Sonnenun-
tergang leistet sich Hollywood längst keine
Verrückten mehr, die so größenwahnsin-
nig und so gut sind, aber deshalb sind die
Filme auch nur noch groß und nicht mehr
gut. Am Samstag ist Robert Evans, ein ech-
ter Filmstar, im Alter von 89 Jahren – und
selbstverständlich in Hollywood – gestor-
ben. willi winkler

Robert Evans, gebo-
ren 1930, war Chef
von Paramount Pic-
tures in einer sehr
großen Zeit, mit „Ro-
semaries Baby“, den
„Paten“-Filmen,
„Harold und Maude“
und dem „Großen
Gatsby“.FOTO: REUTERS

Den zarten, provisorischen
Modelli haftet die Aura des
Unbekannten bis heute an

Musiknerd meets Sexbombe


Jürgen Kruse macht in Berlin aus Horváth Altherrenwitztheater


Stephen Morris , ein britischer Geiger,
der schon David Bowie und Stevie Won-
der bei Konzerten begleitete, hat seine
Violine im Zug vergessen. Das Instru-
ment soll 310 Jahre alt und 290000
Euro wert sein. Womöglich ist es aber
auch bloß von einem dieser jüngeren
Popmenschen mit Starambitionen ge-
klaut worden. Von Angel Olsen etwa
oder von Lana Del Rey – ohne Geige
läuft schließlich nichts mehr, das hat
sich rumgesprochen.

Auch Sudan Archives ist da ganz vorne
mit dabei, die amerikanische Geigerin
heißt bürgerlich Brittney Denise Parks.
Auf ihrem neuen Album „Athena“ ver-
bindet sie Streicher und blaskapellen-
hafte Retortentöne zu einem fiedelnden
Algorithmus. Das klingt eigen, aber
auch sehr eingängig. Ihr Song „Black
Vivaldi Sonata“ hat auf jeden Fall Chan-
cen auf den Songtitel des Jahres. Durch
den Computerreißwolf gejagte Geräu-
sche mit Geige. Überall Geigen! Ein
einziges Gegeige allerorten! In „Did you
know“ ist sie eifersüchtig, dass sie ihren
Lover mit einer anderen gesehen hat.
Die Arme! Dazu hüpft ihre gesampelte
Violine. Die Synthies werden immer
dramatischer. Dieser supersmarte R’n’B
trägt zwar nicht
über 14 Songs,
„Honey“ oder „Peli-
cans In The Sum-
mer“ können aber
nicht schaden, so
kurz vor dem No-
vember.

Nina Kraviz schlägt sich unterdessen
mit Twitter herum. Indem sie ein Foto
von sich mit Cornrows postete, löste sie
einen Shitstorm aus. Wieder geht es um
den Vorwurf der kulturellen Aneig-
nung: Weiße schlügen Profit aus der
Kultur diskriminierter Schwarzer. An-
statt sich postwendend für unabsicht-
lich verletzte Gefühle zu entschuldigen,
wie in solchen Fällen inzwischen üblich,
wies sie darauf hin, dass die am Kopf
anliegenden Zöpfe nicht nur in afrikani-
schen Kulturen geflochten werden und
sie als aus Sibirien stammende Russin
eigentlich auch keine weiße Europäerin
sei. Es half nicht. Unterdessen haben
700 Musiker einen offenen Brief unter-
zeichnet, der zum Boykott Amazons
aufruft und das Unternehmen auffor-
dert, alle Geschäftsverbindung zur
amerikanischen Einwanderungsbehör-
de und dem Militär
zu kappen. Ganz
großen Namen sind
bisher nicht dabei.
Aber mitThe Black
Madonnaimmer-
hin eine internatio-
nal erfolgreiche DJ.

Wenn schon Fiedeln, dann auch Chöre:
Der Opener von Michael Kiwanukas
drittem Album „Kiwanuka“ beginnt mit
schönen Ennio-Morricone-Westernmu-
sik-Gedächtnis-Chören. Über einem
stoisch schmutzigen Bass scheppert das
Schlagzeug an den richtigen Stellen.
Seine Stimme hat eine jugendliche Glät-
te und leichte Froschigkeit, mit einer
Minimaldosis Rauheit irgendwo im
Hintergrund. Er braucht keinen Firle-
fanz, sondern nimmt sich eine simple
Popkadenz wie in „I’ve Been Dazed“
und baut den Song nach allen Regeln
der Kunst zur Pop-Oper aus, die er in
erhabenen Soundflächen aus Hall und
Tremoloflimmern zum Himmel fahren
lässt. Manches rauscht ein wenig zu
leicht durchs Ohr, „Piano Joint“ etwa,
dessen Intro-Part aber mit satten Retro-
Chören sehr stimmungsvoll ist. Trotz-
dem schön, wie lang das Klavier am
Anfang innehält. „Hero“ klingt wie von
einem beschädigten Band gezogen und
mausert sich dann zum funkigen Drei-
Akkord-Rockhit. Immer wieder baut
Kiwanuka in seine Tracks Ambient-In-
seln ein oder Passagen, die wie archäolo-
gische Fundstücke aus der Geschichte
der Schwarzen Musik wirken. Die Platte
hat einen an rauen Herbstabenden wär-
menden Sound, der bis in die einzelnen
Effekte hinein mit
Tradition spielt,
aber ganz und gar
heutig-hochauflö-
send ist. Bloß zum
Ende hin wird’s arg
gefühlig. Aber ist ja
auch Soul.

Yeah Is What We Have machen auf
ihrem Debüt „What We Have“ launigen,
melodiösen Indie-Pop-Rock mit leich-
tem Retrofaktor. Sie klingen angenehm
merkwürdig. Etwas übersteuert rap-
pelndes Kunstschlagzeug und kaum
akustischer Raum. Wie in einer zu vol-
len Garage, wo der Krempel jedes Ge-
räusch schluckt. Andererseits scheint
die Musik eigentlich eher auf Popglanz
bedacht. Man ist nicht ganz sicher, ob
dieser Widerspruch gewollt ist oder nur
das Geld fehlte. Manchmal singen sie
wie dieBeatlesaus der Konservendose.
In anderen Momen-
ten glaubt man
Brian Wilson zu
hören, der zwi-
schen elektrischen
Instrumenten zu
ertrinken droht
und um Hilfe ruft.

Zuletzt darf an dieser Stelle natürlich
nur eins nicht fehlen: Grüße und Lob an
die schwedischen Techno-Tüftler
SHXCXCHCXSH , die sich für ihr neues
Album in HSXCHCXCXHS umbenannt
haben.
juliane liebert

Dutzende Handys waren auf sie gerichtet,
als Pichi und Avo aus Valencia mit ihren
Spraydosen ans Werk gingen. In stunden-
langer Arbeit entstand in gleißender Son-
ne auf der schmutzig-weißen Wand des al-
ten Hafengebäudes von Jaffa ein Porträt
von Anakreon, dem griechischen Lyriker
aus der Antike. Er hält einen Vogel in seiner
Hand, der Richtung Meer zu entschweben
scheint. Wer sich dem Strand entlang Jaffa
von Tel Aviv her näher, dem fällt das in Vio-
lett und Pink gehaltene Konterfei schon
von weitem auf, denn die beiden Streetart-
Künstler hatten eine ganze Wand zur Verfü-
gung. Es schmückt nun auch das Vista-
Café direkt am Hafeneingang.
In ganz Jaffa sind neue Kunstwerke an
Wänden der oft heruntergekommenen Ha-
fengebäude zu entdecken. In der vergange-
nen Woche waren Streetart-Künstler aus
Spanien, Brasilien, Griechenland und Por-
tugal eingeladen, Farbe in das Viertel zu
bringen. Die Idee dazu hatten die Tel Avi-
ver Galeristin Rachel Meijler und der Fran-
zose Olivier Paytel. Zwei Jahre hat es von
der Idee bis zur Realisierung gedauert. Ei-
ne Woche brauchten die Künstler, um sich
in der Umgebung umzusehen und dann ihr
Werk umzusetzen. In Jaffa wurden ihnen
neben den Farben auch Baugerüste und so-
gar Kräne zur Verfügung gestellt, damit sie
auf den Hauswänden arbeiten konnten.
Großer Andrang herrschte beim südafri-
kanischen Künstler Sonny Sundaner, der
einen grauen Tiger mit hypnotischen blau-
en Augen an die Wand eines Wohnhauses
neben dem Hafengelände sprayte. Er war
regelrecht umlagert von Menschen, die Vi-
deos seiner Arbeit ins Netz stellten und das
fertige Werk auf Instagram posteten.
Der brasilianische Künstler Cranio hat-
te das Erdgeschoß einer baufälligen Lager-
halle zur Verfügung und bezog auch die Kli-
maanlage in sein Werk ein: Surrealistisch
anmutende blaue Seeleute tummeln sich
auf einem Schiff. Es soll blaue Indianer dar-
stellen, die in ein violettes Meer segeln, er-
läuterte der Künstler bei der Präsentation.
Einen Vogel und ein Flugzeug wählten Insa-
ne51 aus Griechenland und Nuno Viegas
aus Portugal als ihre Motive.
Die Initiatoren hoffen, dass sie nach die-
ser Aktion noch mehr professionelle Street-
art-Künstler nach Jaffa locken können. In
den vergangenen Jahren hatte sich das Ha-
fenviertel bereits zum Anziehungspunkt
für Sprayer entwickelt. Die Chance, zumin-
dest temporär große und attraktive Flä-
chen zur Verfügung gestellt zu bekommen,
ist groß, der Zeitpunkt günstig. Denn der
Hafen wird renoviert. Ein Teil der Gebäude
musste bereits frei gemacht werden. So
sperrte schon vor dem Sommer der „Con-
tainer“ zu, ein Lokal, in dem abends Bands
auftraten und das sich zu einem Treff-
punkt der Musikszene entwickelt hat.
Jaffa, hebräisch Yafo, die schon seit der
Antike bestehende Hafenstadt, ist einmal
mehr Schauplatz einer Transformation.
Nach 1948 mussten viele Araber ihre Häu-
ser verlassen, 1950 erfolgte der Zusammen-
schluss mit Tel Aviv. Viele fürchten, dass
den nun mit Street-Art verschönerten Ge-
bäuden der Abriss droht und die Gentrifi-
zierung noch weiter fortschreitet.
alexandra föderl-schmid

Der letzte Mogul


Hollywood-Filmproduzent Robert Evans ist gestorben


(^10) FEUILLETON Mittwoch, 30. Oktober 2019, Nr. 251 DEFGH
Sexy Opfer mit rotem Schmollmund: Lin-
da Pöppel als Elisabeth. FOTO: ARNO DECLAIR
Sähe auch auf einer
Höhe von vier Me-
tern gut aus: Her-
mann Glöckners
„Turmartiger Auf-
bau, in sieben gleich
hohe Segmente ge-
teilt“ (1973) besteht
aus Karton und
misst nicht mehr
als 43 Zentimeter.
FOTO: ALISTAIR OVERBRUCK ©
VG BILD-KUNST, BONN 2019
POPKOLUMNE SCHAUPLATZ JAFFA
Sprayerkunst
am Hafen
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